DIE FURCHE · 11 4 Das Thema der Woche Was uns beim Essen blüht 14. März 2024 Das Gespräch führte Martin Tauss Die Lebensmittelindustrie ist erfinderisch, wenn es darum geht, ihre Produkte gut dastehen zu lassen. Oft wecken Hersteller mit ihren Werbeversprechen Erwartungen, die so nicht erfüllt werden. Das will Foodwatch, ein gemeinnütziger Verein mit Hauptsitz in Deutschland, so nicht hinnehmen. Seit 20 Jahren engagiert sich die Organisation für die klare Kennzeichnung von Lebensmitteln. Nationale Büros gibt es auch in Österreich, Frankreich und den Niederlanden. Anlässlich des Symposion Dürnstein bat DIE FUR- CHE die beiden Leiterinnen von Foodwatch Österreich zum Interview. DIE FURCHE: Sie orten „dreiste Täuschungen“, denen wir im Supermarkt ausgesetzt sind. Haben Sie Beispiele dafür? Lisa Kernegger: Regelmäßig kürt Foodwatch den „Werbeschmäh des Monats“; im Dezember rufen wir Konsumenten auf, für den „Werbeschmäh des Jahres“ abzustimmen. Dem Hersteller des Gewinner-Produkts überreichen wir dann eine Urkunde. 2022 hat den Titel „Dreh und Trink“ geholt. Die haben wegen der Vermarktung ihrer stark gesüßten Getränke an Kinder verärgert. Außerdem haben sie groß mit Früchten geworben, wo kaum welche drin sind. 2023 ist der Titel an das Bad Ischler Nudelsalz gegangen. Die haben einfaches Kochsalz in kleine Portionen gepresst und diese dann um den zwölffachen Preis verkauft. Die Übergabe war immer spannend, da wir die Hersteller der Produkte direkt mit der Kritik konfrontieren konnten. DIE FURCHE: Und wie war die Reaktion? Kernegger: Bisher hat sich jeder Hersteller einem Gespräch gestellt. Dabei gab es die eine oder andere Einsicht. Doch selbst wenn einzelne Hersteller ihre Werbemaschen ändern, so müssen doch die Gesetze verbessert werden, damit „Werbeschmähs“ im Supermarkt nicht mehr möglich sind. DIE FURCHE: Stichwort Bio-Produkte: Wie können sich Konsumenten angesichts der riesigen Auswahl da orientieren? Kernegger: Wo „Bio“ drauf steht, ist auch „Bio“ drin: Das ist in der EU-Bioverordnung geregelt. Sollte das einmal nicht der Fall sein, handelt es sich um Betrug – und das wird strafrechtlich geahndet. Foto: iStock/TommL Foodwatch Täuschung, Kindermarketing und unzureichende Herkunftsangaben sind die Problemfelder, die im Fokus der aufklärerischen Arbeit von Foodwatch stehen (Bild unten: Lisa Kernegger links, Heidi Porstner rechts). Mit falschen Versprechen können Lebensmittelhersteller ihre Kunden allzu leicht in die Irre führen: Heidi Porstner und Lisa Kernegger von Foodwatch im Gespräch. „Immer diese Schlupflöcher“ DIE FURCHE: Lebensmittel werden heute auch hinsichtlich ihrer Klimabilanz bewertet. Gibt es da auch „Werbeschmähs“? Kernegger: Da hat sich im Jänner Erfreuliches getan: Das EU-Parlament hat mit 94 Prozent Zustimmung für ein Verbot von umweltbezogenen Werbeversprechen wie „klimaneutral“ gestimmt. Hinter den weit verbreiteten Klimaneutral-Labels steckt ein Riesenbusiness: Unternehmen können durch günstige Zertifikate von fragwürdigen Klimaschutzprojekten ihre CO₂-Bilanz schönrechnen. Durch diesen modernen „Ablasshandel“ können Konzerne bei der Produktion weiter nach Belieben CO₂ ausstoßen. Aus dem Wunsch der Menschen nach mehr Klimaschutz wird Profit geschlagen. Selbst klimaschädliche Produkte wie Fleisch oder Mineralwasser in Plastikflaschen werden als „klimaneutral“ beworben. Die EU-Richtlinie „Empowering Consumers for the Green Transition“ ist daher ein wichtiger Schritt: Sie verbietet solche Werbung, wenn sie auf Kompensation beruht. Zuletzt einigten sich Vertreter des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Ministerrats auf einen Kompromiss im Trilog. Nach der Zustimmung des Parlaments muss das Gesetz noch vom Ministerrat bestätigt werden. „ In den sozialen Medien gibt es viele Inhalte, wo Junkfood schon an sehr junge Kinder beworben wird. Da wird seitens der Politik noch zu wenig hingesehen. “ Heidi Porstner DIE FURCHE: Was wäre wichtig für eine transparentere Produktgestaltung? Heidemarie Porstner: Im Lebensmittelrecht gibt es leider immer noch viele Schlupflöcher; viele Bereiche sind zu ungenau geregelt. So muss bei frischem Obst und Gemüse im Supermarkt das Herkunftsland angegeben werden. Ebenso bei Fleisch, Fisch und Eiern. Allerdings nur, solange sie nicht weiterverarbeitet wurden. Sobald die Ananas aufgeschnitten wurde oder das Grillfleisch mariniert, verpflichtet das derzeit geltende Gesetz die Hersteller nicht mehr zur Herkunftsangabe. Und manchmal reicht dem Gesetzgeber „EU und Nicht-EU“, das ist viel zu wenig! Foto: Rita Newman DIE FURCHE: In zwei Jahren haben sich die Preise mancher Lebensmittel fast verdoppelt, wie eine aktuelle Erhebung der Arbeiterkammer zeigt. Warum ist in Österreich die Inflation in diesem Sektor, auch im Vergleich zu anderen EU-Ländern, so hoch? Porstner: Wir beobachten schon länger das Phänomen der so genannten „Shrinkflation“. Das ist quasi eine indirekte Inflation. Die Produkte werden erst mal teurer, indem der Preis gleichbleibt, aber der Inhalt schrumpft. Oft melden uns Konsumenten aber auch eine Preissteigerung zusätzlich zur Verringerung der Füllmenge. Das treibt natürlich auch die Inflation an. Foodwatch fordert von der Regierung, dass es für solche Fälle verpflichtende Kennzeichnungen an den Produkten und den Supermarktregalen gibt. In einigen Supermärkten in Frankreich wurde das im letzten Herbst gemacht. Das heißt, es geht, man braucht nur den politischen Willen! DIE FURCHE: Problematisch ist auch die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche heute mehr denn je Werbung für „Junkfood“ ausgesetzt sind … Porstner: Sobald die Kids und Teens in den sozialen Medien unterwegs sind, ist es auch für Betreuungspersonen schwierig nachzuvollziehen, welche Inhalte über das Handy laufen. Foodwatch schaut sich regelmäßig die Beiträge beliebter Influencer an. Wir haben festgestellt, dass es da viele Inhalte gibt, wo Junkfood schon an sehr junge Kinder beworben wird. Oft verwenden die Social Media-Stars die ungesunden Produkte in ihren Videos: Sie machen Essens- Challenges, die die Kids dann nachahmen, oder fordern sie auf, ein Foto vom Burger- Essen mit der Freundin zu posten. Da wird vonseiten der Politik noch zu wenig hingesehen. Es hilft nur, einheitliche Regeln für all jene zu erlassen, die auf den Plattformen der sozialen Medien audiovisuelle Inhalte anbieten: keine Werbung und Produktplatzierung für jene Lebensmittel, die zu viel Fett, Salz oder Zucker enthalten. Einen Rahmen dafür hat die Nationale Ernährungskommission schon vorgelegt, es fehlt die rechtliche Verankerung. DIE FURCHE: Wie sollte der „Supermarkt der Zukunft“ aussehen? Kernegger: Wünschenswert wäre, wenn wir nicht so eine hohe Konzentration von einigen Supermarktketten hätten; das würde den Markt beleben. Generell sollten die Produkte so gestaltet sein, dass Konsumenten und Konsumentinnen eine informierte Kaufentscheidung treffen können. So will es das EU-Gesetz, und so fordern wir es auch von Herstellern und Supermärkten. Zudem sollten nur ausgewogene Produkte beworben werden. Nächste Woche im Fokus: Zum Internationalen Tag des Waldes am 21. März richtet DIE FURCHE einen genaueren Blick auf das Waldland Österreich: Fast die Hälfte des Staatsgebietes ist bewaldet, doch das „grüne Herz“ gerät zusehends in Klima-, Energie-, Bau- und Freizeitstress. FORTSETZUNG VON SEITE 3 und macht es länger haltbar. Ebenso exemplarisch sind Milchprodukte, wie wir sie heute aus dem Supermarkt kennen: Sie haben nichts mehr mit jener Milch zu tun, die Slow Food seit Jahren zu schützen versucht. Beispiel Rohmilch Milch ist heute ein höchst industrielles, standardisiertes Lebensmittel und hat mit dem Stoff, den eine Milchkuh in ihrem Euter entstehen lässt, nur mehr wenig zu tun. Die Rohmilch, deren Erhalt wir fordern, ist hingegen charakterisiert durch eine ungeheure Vielfalt geschmacklicher Nuancen, die ihrerseits durch eine Vielzahl von Inhaltsstoffen hervorgerufen wird. Basis dafür ist das richtige Futter für die richtigen Kühe: frische Kräuterwiesen im Frühling, Sommer und Herbst sowie Heu im Winter. Die nicht auf Hochleistung gezüchtete Kuh frisst Gras, nicht Kraft- und Eiweißfutter, und verwandelt mithilfe ihrer Mikroben im Pansen das Gras zu Eiweiß, Fett und Milchzucker – also zu Milch. Insbesondere dort, wo auf zu steilen, nassen, trockenen oder steinigen Flächen kein Ackerbau möglich ist, gibt es keine Konkurrenz zur Ernährung von Menschen. Kühe helfen aber, eiweißreiches Ackerfutter, Lupinen oder Kleegras, das im Bio- Landbau notwendig ist, sinnvoll zu verwerten. Zudem kann ein durchdachtes Weide-Management die Biodiversität fördern (siehe auch S. 3). Die nachgewiesene gesundheitsfördernde Wirkung des Rohmilch- Konsums zum Beispiel bei Asthma oder allergischen Erkrankungen wird heute oft in den Hintergrund gedrängt. Ebenso der Umstand, dass immer mehr Menschen eine Unverträglichkeit gegen die heute übliche Milch entwickeln. Bei einem wissenschaftlichen Projekt der Weston A. Price Foundation wurde belegt, dass rohe Milch zahlreiche Komponenten enthält, die das Immunsystem stärken, die Darmflora schützen, die Absorption von Giftstoffen verhindern und die vollständige Aufnahme der Nährwerte der Milch sicherstellen (Anm. der Red.: Rohmilch kann krankmachende Bakterien enthalten, die auch bei vorbildlicher Melkhygiene nie ganz auszuschließen sind). Sobald die Milch mikrofiltriert, thermisiert, pasteuisiert, homogenisiert, aromatisiert, ultrahocherhitzt oder haltbar gemacht wird, verliert sie viele dieser wertvollen Eigenschaften. Nur Rohmilch kann einem Käse die spezielle geschmackliche Note des Territoriums und seiner Geschichte verleihen. Verlieren wir die Rohmilch, führt das unweigerlich zu einer Reduktion der Käsesorten, die typisch für die Region sind – und beseitigt damit einen Teil unserer Esskultur. Übrigens können Bauern und Bäuerinnen, die naturbelassene Milch direkt an die Konsumenten verkaufen, auch mit kleinem Viehbestand ein angemessenes Einkommen erzielen. Die Autorin ist Co-Vorsitzende von Slow Food Österreich. Foto: Mara Hohla/Slowfood Slowfood setzt sich für den Erhalt von Rohmilch ein. Dafür braucht es Kühe, die sich auf frischen Kräuterwiesen von Gras ernähren.
DIE FURCHE · 11 14. März 2024 International 5 PRO Die Forderungen nach einer gemeinsamen Sicherheitspolitik werden immer lauter. Wie es nun zu reagieren gilt: zwei Statements. CONTRA Von Ulrich H.J. Körtner Russlands völkerrechtlicher Angriffskrieg gegen die Ukraine hat nicht nur in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik eine Zeitenwende eingeleitet. Er stellt auch die bisherige Friedensethik der Kirchen auf den Prüfstand. Im neutralen Österreich hört man darüber wenig. In Deutschland hingegen, das Mitglied der NATO ist, wird sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Kirche intensiv diskutiert, ob die Leitidee des gerechten Friedens mit ihrem Vorrang für zivile Mittel der Konfliktlösung und ihrer kritischen Haltung gegenüber militärischen Gewaltmitteln zur Friedenssicherung weiterhin tragfähig ist. Zur Diskussion steht auch, wie es die Kirchen mit Nuklearwaffen und dem Konzept der atomaren Abschreckung halten. Der bisherige ökumenische Common Sense, wonach nicht nur der Einsatz, sondern schon die Drohung mit Atomwaffen jeder christlichen Ethik widerspricht, gerät unter Druck. Zuletzt hat die Deutsche Bischofskonferenz ihren Standpunkt bekräftigt, es sei höchste Zeit, aus der nuklearen Abschreckung auszusteigen. Was das konkret heißen soll, bleibt vage. Bis auf weiteres ist die katholische Kirche offenbar froh, unter den atomaren Schutzschirm der NATO zu leben, ohne das klar auszusprechen. In der evangelischen Kirche stellt sich die Diskussionslage ähnlich dar. Die Aussicht auf eine kernwaffenfreie Welt ist mit dem Ukraine-Krieg in weite Ferne gerückt. Wenn sich die Kirchen ehrlich machen, müssen sie nüchtern anerkennen, dass eine Sicherheitsordnung ohne nukleare Abschreckung auf absehbare Zeit kaum denkbar ist. Das Gebot des besonnenen Handelns Allerdings ist politisch besonnenes Handeln geboten, um eine unkontrollierte atomare Eskalationsspirale zu verhindern. Bestrebungen von Ländern wie dem Iran, in den Besitz der Atombombe zu gelangen, darf die Welt nicht tatenlos zuschauen. Jedoch ist die Annahme, der Verzicht auf Kernwaffen würde den Weltfrieden fördern, zumindest zweifelhaft. Der Atomwaffenverbotsvertrag aus dem Jahr 2017 stellt gegenüber dem Atomwaffensperrvertrag aus dem Jahr 1970 und dem seither entstandenen Regelwerk keine Verbesserung dar, auch wenn dieses in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend durchlöchert wurde. Im Unterschied zum Atomwaffensperrvertrag ist keine der Atommächte dem Atomwaffenverbotsvertrag beigetreten. Europa wird künftig mehr für seine Sicherheit tun müssen, anstatt sich vornehmlich auf die USA zu verlassen. Die Idee EUeigener Atomwaffen scheint allerdings unrealistisch zu sein. Die EU ist von einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik weit entfernt. Auf absehbare Zeit gibt es zur NATO und ihren Atommächten keine Alternative. Eine Option ist vielleicht die Integration von EU-Staaten in den Nuklearschutz Frankreichs. Ethisch besteht ein fortgesetztes Dilemma. Die gegensätzlichen Haltungen zur atomaren Abschreckung, die sich auch in den Kirchen finden, lassen sich als komplementäre Standpunkte verstehen. In dieser Hinsicht sind die Heidelberger Thesen, ein friedensethisches Dokument der evangelischen Kirche in Deutschland aus dem Jahr 1959, unvermindert aktuell. Faktisch stützt Foto: Getty Images / Gamma-Rapho / Bernard Charlon Nukleare Waffen für Europa? Trägerrakete, ausgestattet mit einer Atomrakete „Pluton“ der französischen Armee. „ Die Annahme, der Verzicht auf Kernwaffen würde den Weltfrieden fördern, ist zumindest zweifelhaft. Europa wird mehr für seine Sicherheit tun müssen. “ Kollaps der Nahrungsmittelversorgung Der Sicherheitsgewinn von Nuklearwaffen ist fraglich. Nukleare Abschreckung ist mit extrem hohen Risiken behaftet. Ihre Effektivität wird zwar postuliert, sie beruht aber auf letztlich nicht beweisbaren Annahmen. Neueste wissenschaftliche Forschungen zeigen, dass die humanitären Auswirkungen von Nuklearwaffenexplosionen noch gravierender und globaler wären, als dies bislang bekannt war. Schon der Einsatz eines Bruchteils der Nuklearwaffenarsenale könnte etwa zu einem nuklearen Winter und dem Kollaps der globalen Nahrungsmittelversorgung führen. Die Risiken, wie Fehlkalkujede der beiden konträren Haltungen die andere. „Die atomare Bewaffnung“, so die Thesen, „hält auf eine äußerst fragwürdige Weise immerhin den Raum offen, innerhalb dessen solche Leute wie die Verweigerer der Rüstung die staatsbürgerliche Freiheit genießen, ungestraft ihrer Überzeugung nach zu leben. Diese aber halten […] in einer verborgenen Weise mit den geistlichen Raum offen, in dem neue Entscheidungen vielleicht möglich werden.“ Allerdings gilt es, die schon 1981 von der Evangelischen Kirche in Deutschland formulierte Erkenntnis auszuhalten, „dass es für einen Frieden in Freiheit weder durch atomare Rüstung noch durch den Verzicht auf sie eine Garantie gibt.“ Aus diesem Dilemma rettet uns keine Ethik. Der Autor ist Vorstand am Institut für Systematische Theologie an der Evang.- Theol. Fakultät der Universität Wien. Lesen Sie hierzu auch den Leitartikel von Brigitte Quint: „Atomwaffen für Europa?“ (21.2.2024) auf furche.at. Von Alexander Kmentt Russlands Angriff auf die Ukraine hat das europäische Sicherheitsumfeld verändert. Europa ist gefordert, seine Verteidigungskapazitäten und seine Resilienz gegen die russischen Bedrohungen zu stärken. Dass Russlands Aggression mit nuklearen Drohgebärden verbunden war, bedeutet aber nicht, dass ein Mehr an nuklearer Abschreckung oder gar eine eigene europäische nukleare Bewaffnung eine kluge Antwort auf das neue Gefahrenbild darstellen. Vielmehr zeigt dieses reflexive Aufflackern einer nuklearen Bewaffnungsdebatte und das Gleichsetzen von „Nuklearschirm bedeutet Sicherheitsgewinn“, wie dringend ein vertiefter Diskurs über die Risiken und Auswirkungen von Nuklearwaffen erforderlich ist. lationen, Irrtümer oder menschliche und technische Fehler, oder durch neue Technologien sind komplex und nicht voll kontrollierbar. Die Menschheit ist bereits mehrfach und vor allem durch Glück an einer Katastrophe vorbei geschrammt. Heute werden die nuklearen Risiken von Experten höher eingeschätzt als zur Zeit des Kalten Krieges. Es gibt keine Garantie, dass nukleare Abschreckung funktioniert. Empirisch beweisbar ist hingegen, dass nukleare Abschreckung scheitern kann, und zwar mit extremen, globalen Konsequenzen. Man mag zwar hoffen, dass Drohungen mit Nuklearwaffen allein effektiv sind. Ohne tatsächliche Einsatzbereitschaft funktioniert die Theorie der nuklearen Abschreckung jedoch nicht. Diese ist aber auf Grund der Auswirkungen und Risiken niemals rational, noch rechtlich oder ethisch vertretbar. Europa hat ein klares Interesse, russischen Bedrohungen zu begegnen, aber ein noch größeres Interesse, die der nuklearen Abschreckung inhärenten existentiellen Risiken zu minimieren. „ Es gibt keine Garantie dafür, dass die atomare Abschreckung funktioniert, wohl aber Beweise für die globalen Konsequenzen. “ Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Völkerrecht. Seit 1970 hat der Nuklearwaffensperrvertrag (NPT) die nukleare Proliferation deutlich eingedämmt. Eine europäische nukleare Bewaffnung über den Nuklearwaffenstaat Frankreich und die schon vor dem NPT etablierte nukleare Teilhabe der NATO hinaus, wäre ein klarer Vertragsbruch des NPT. Ein europäischer NPT-Ausbruch würde wohl den Vertrag zerstören, die Dynamik des nuklearen Wettrüstens verstärken und nukleare Proliferation befeuern. Mit welchem Argument wollen wir die nukleare Bewaffnung etwa von Iran verhindern, wenn Europa sagt eigene Nuklearwaffen zu „benötigen“? Schon die Diskussion dazu ist ein Beispiel von doppelten Standards und fügt dem Nonproliferationsregime Schaden zu. Die zentrale DNA und Stärke der EU – das Eintreten für Völkerecht und Multilateralismus – und somit auch ihre globale Glaubwürdigkeit kann dadurch zur Disposition gestellt zu werden. Im Kampf der Narrative des demokratischen Westens gegen autokratische Regime, wie Russland, wäre dies jedenfalls ein Eigentor. Europa, als globaler Vorreiter in Sachen Völkerrecht, sollte Nuklearwaffen verantwortungsvoll diskutieren. Drei EU-Mitgliedstaaten, darunter Österreich, haben Nuklearwaffen völkerrechtlich geächtet. Österreich ist zudem durch sein Verfassungsgesetz aus dem Jahr 1998 gebunden. Statt der kurzsichtigen Forderung nach nuklearer Aufrüstung, sollte Europa den Fokus auf die Verstärkung der konventionellen Abschreckungskapazitäten und der Resilienz gegenüber Russland setzen. Der Autor leitet die „Abteilung für Abrüstung , Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ im Außenministerium.
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