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DIE FURCHE 13.07.2023

DIE

DIE FURCHE · 28 8 International 13. Juli 2023 Zum Bösewicht taugte Mark Rutte aufgrund seiner „konfirmandenhaften“ Erscheinung und seines Auftretens nie. Er wird als zugänglich und allürenfrei beschrieben. Dennoch fehlte ihm nun der Rückhalt. Von Tobias Müller Was Mark Rutte letzten Endes zum Umdenken brachte: Man weiß es nicht. Unmittelbar nachdem er vergangenen Freitagabend das Ende des vierten Kabinetts unter seiner Leitung bekanntgegeben hatte, das an einem Streit über die Asylpolitik zerbrach, verkündete er, seiner rechtsliberalen „Volkspartij voor Vrijheid en Democratie“ (VVD) bei den Neuwahlen im Herbst vermutlich erneut als Spitzenkandidat zur Verfügung zu stehen. Drei Tage später offenbarte der 56-Jährige einen Sinnes wandel: „Beim Antritt eines neuen Kabinetts nach den Wahlen werde ich die Politik verlassen.“ Eingerechnet die meist langwierigen Koalitionsgespräche in den Niederlanden wird Rutte, der kommissarisch die Regierungsgeschäfte weiter lenken wird, zu diesem Zeitpunkt mehr als 13 Jahre im Amt gewesen sein – ein niederländischer Rekord. Auf europäischer Ebene blickt einzig der Ungar Viktor Orbán auf eine etwas längere Regierungsperiode zurück. Und doch, oder gerade deshalb, war in der niederländischen Politik und Gesellschaft nach Ruttes Erklärung ein Aufatmen zu spüren. Attje Kuiken, die Fraktionsvorsitzende der oppositionellen Sozialdemokraten, sprach von „frischer Luft“. Lesen Sie hierzu auch den Text von Tobias Müller „Warum das liberale Musterland nach rechts driftet“ (24.3.2021) auf furche.at. Der Fall seiner Regierung besiegelt auch das Ende der politischen Laufbahn des niederländischen Premiers Mark Rutte. Über einen unterschätzten Pragmatiker, der zum politischen Urgestein wurde – und einen viel zu langen Abschied. Die Rutte- Dämmerung Die Leuten scheinen ihn sattzuhaben Vielleicht steckt hinter der Entscheidung schlicht eine Einsicht, der sich Rutte, der seit 2010 vier verschiedene Kabinette leitete, von denen drei vorzeitig scheiterten, lange versperrt hat. Die meisten Menschen im Land haben ihn, so drastisch ist es, satt. Eine Umfrage des TV-Magazins „EenVandaag“ am Wochenende liefert ein ambivalentes Bild bezüglich des Sturzes der Koalition – 62 Prozent begrüßen ihn, zugleich macht sich die Hälfte Sorgen darüber, in diesem Moment multipler Krisen keine vollwertige Regierung zu haben – und ein eindeutiges bezüglich des Regierungschefs: Drei Viertel sprachen sich gegen ein fünftes Kabinett Rutte aus. Natürlich kannte Rutte diese Zahlen, als er ans Rednerpult des Parlaments trat. Genauso wie er um die zahlreichen „Oprutte!“-Rufe wusste, die spätestens seit der Corona-Pandemie zum Standardrepertoire vieler Demonstrationen gehörten – ein Wortspiel mit dem Verb „oprotten“, das auf eine etwas rüdere niederländische Variante von „schleich di“ hinausläuft. Der Unterschied: Was ihn lange nicht zu kratzen schien, hatte nun wohl doch einen Effekt auf den Premier. Der Begründung, seine einzige Motivation sei das Schicksal des Landes, wollte er anhängen, seine eigene Position sei dem „völlig untergeordnet“. Ein Versprecher machte daraus: „völlig ungeeignet“. Um bei einem Bild zu bleiben, „ Er wusste um die ‚Oprutte!‘-Rufe vieler Demonstranten – ein Wortspiel mit dem Verb ‚oprotten‘. Eine rüdere niederländische Variante von ‚schleich di‘. “ das Rutte vor allem in den erfolgreicheren Perioden seiner Laufbahn begleitete: Er hat seine schützende Schicht verloren, die scheinbar alles von ihm abprallen ließ. „Teflon-Mark“ nannte man ihn hierzulande lange. Ein Image, zu dem freilich entscheidend beitrug, dass Rutte in puncto Erscheinung und Auftreten einfach nicht zum Bösewicht taugt. Etwas Konfirmandenhaftes prägt sein Äußeres bis heute, er ist zugänglich und allürenfrei wie wenige andere seines Status, und müsste man diesen Mann einem ihm entsprechenden Tier zuordnen, gäbe er ein vortreffliches Honigkuchenpferd ab. Lange hielt sich daher die Auffassung, er lache Probleme einfach weg. Was also ging schief? Die Aura der vermeintlichen Unantastbarkeit des Mark Rutte wurde Stück für Stück abgetragen. Nachhaltig unterminiert hat sie die ignorante Haltung seiner Regierungen gegenüber den besorgten Bewohnern der nördlichen Region Groningen. Wegen der dortigen Erdgasförderung wird die Region seit Jahren von Erdbeben heimgesucht, die erheblichen materiellen Schaden anrichteten. Eine parlamentarische Untersuchungskommission kam zu Jahresbeginn zum Schluss, in Den Haag habe man die Sicherheitsinteressen der Bewohner in einem „beispiellosen Systemversagens“ systematisch den Bestrebungen nach Gewinnmaximierung untergeordnet. Der andere Fleck, der sich von Ruttes Weste nicht mehr entfernen ließ, war die „Kinderzuschlag-Affäre“. Unter fälschlichem Verdacht des Sozialbetrugs forderte das niederländische Finanzamt über Jahre seiner Amtszeit hinweg ungerechtfertigt horrende Summen von mehr als 20.000 Leistungsempfängern zurück, die Foto: APA / AFP / John Thys oft durch migrantisch klingende Nachnamen oder doppelte Staatsbürgerschaft in den Fokus gerückt waren. Sein vorletztes Kabinett trat Anfang 2021 deshalb zurück. Dass der Premier wenig später bei den Wahlen als Spitzenkandidat antrat, als sei nichts geschehen, und nach langwierigen Verhandlungen aus Mangel an mehrheitsfähigen Alternativen 2022 mit einer identischen Mitte-rechts-Koalition an die Macht zurückkehrte, war der politische Kardinalfehler Ruttes. Kurz danach füchtete er sich in einer Parlamentsdebatte um die Ausbootung des populären, aber unbequemen ehemaligen christdemokratischen Abgeordneten Pieter Omtzigt in die Behauptung, an die betreffenden Vorfälle „keine aktive Erinnerung“ zu haben – wie bereits mehrfach in bedrängten Situationen. So gesehen war die letzte, nur anderthalbjährige Amtszeit Ruttes ein Epilog seiner Ära. Sein Ansehen auf nationaler Ebene war in dieser Zeit schon massiv beschädigt, und zwar längst nicht nur bei der rechtsoffenen Protestbewegung aus ehemaligen Gelbwesten, Impfgegnerinnen und alternativen Komplottdenkern, die seit der Corona-Pandemie durch das Land schwappt. Wenn einem politischen Vollprofi wie Rutte sein Instinkt abhandenkommt, sind dies Anzeichen des nahenden Endes einer Ära. Dass Rutte, der privat gerne Piano spielt und als Gastdozent an einer Schule in Den Haag unterrichtet, eine solche Karriere hinlegen würde, hätten 2006 wohl die wenigsten erwartet. Damals setzte er sich als junger Staatssekretär in einem internen Streit um die Spitzenkandidatur seiner Partei gegen Rita Verdonk durch, die „eiserne“ damalige Integrationsministerin, eine der frühen Vertreterinnen des niederländischen Rechtspopulismus. Bei den folgenden Wahlen 2010 wurde Rutte erstmals Premier – und Chef einer Minderheitsregierung, die sich dank Unterstützung der rechtspopulistischen Freiheitspartei (PVV) im Sattel hielt. Geert Wilders’ Lieblingsgegner Nach deren Sturz wurde Rutte, ein oft spröder Pragmatiker, der frei nach Helmut Schmidt einst Menschen mit Visionen den Gang zum „Augenarzt“ empfahl, zu einem Lieblingsgegner seines kurzfristigen Weggefährten Geert Wilders. Dem PVV-Chef galt Rutte als Gesicht einer abgehobenen, der einfachen Bevölkerung entfremdeten Den Haager Elite – ein Narrativ, das die populistische Rechte der Niederlande seit Jahren vorträgt und dem sich etwa die Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen nahtlos anschloss. Für die VVD, deren Basis zu einem nicht unerheblichen Teil deutlich rechts steht, keine vorteilhafte Konstellation – weshalb Rutte sich öfters bemühte, mit markigen Aussagen zu Mi gration oder weiterer europäischer Integration diese Klientel wieder einzufangen. In dieser Rolle erinnerte Rutte bisweilen an Angela Merkel: Beide waren anfangs intern unterschätzt und versuchten, zumal in den Frühphasen ihrer Karrieren, sich mit verbalem Kraftmeiern der Hausmacht ihrer Parteien zu vergewissern. Ausgerechnet eine solche Situation hat nun zum Sturz des letzten Rutte-Kabinetts geführt. Die Ansicht, die Niederlande seien „voll“ und bräuchten daher vermeintlich einen „Asylstopp“, ist in der Bevölkerung und der VVD weitverbreitet. Unter Druck von Basis und Delegierten der VVD drängte der Premier letzte Woche die Koalitionspartner dazu, den Familiennachzug von Asylbewerbern stark einzuschränken. Dass er damit sein eigenes Schicksal besiegelte, stellte sich einige Tage später heraus. Der Autor ist freischaffender Journalist und Korrespondent in Amsterdam.

DIE FURCHE · 28 13. Juli 2023 Gesellschaft 9 Herbert Grönemeyer schreibt seit über vier Jahrzehnten großartige Musik fürs Herz, den Kopf und die Beine. Nun legt er ein Album vor, das dem fatalistischen Zeitgeist trotzt, Tiefenschichten anbohrt – und in Höhen greift. Von Jan Opielka Was auch immer die Grundidee vor dem Schreiben dieser 13 Songs gewesen sein mag – es muss durch trübe Wolken viel Sonne in Herbert Grönemeyers musikalische Maschinenräume geschienen haben. Das 16. Studioalbum des deutschen Sängers und Songschreibers – „Das ist los“ – ist noch trotziger, als es der schelmische Titel andeutet: eine freche, wagemutig vibrierende Antwort auf die großen Fragen der wankenden Welt. Der 66-Jährige poetisiert singend über Ungleichheit, über Umweltzerstörung und die Corona-Pandemie, über Trauer und Leid. Doch er tut dies alles im Ton einer inspirierten und inspirierenden Hoffnung. Woher diese kommt – und ob seine persönliche Quelle eine spirituelle ist, deutet sich in und zwischen den Zeilen stets nur an. Selten redet der Künstler, der im Jahr 1998 innerhalb weniger Tage den Tod seiner Ehefrau und seines Bruders zu beklagen hatte, so klar über seinen Glauben wie in einem Interview von vor 15 Jahren. „Ich glaube an Gott. Ich bin calvinistisch-protestantisch erzogen worden. Jeder sollte sich ein moralisches System schaffen, an dem er sich misst.“ Nur Mut „Religionen sind zu schonen“ Im Großteil seiner Lieder und seines Werkes spricht er indes fast nie deutlich von Gott und Glauben. Eine der Ausnahmen ist auf dem Album „12“ aus dem Jahr 2007 das Stück „Ein Stück vom Himmel“ – in Deutschland seinerzeit ein Nummer-eins-Hit. Dort heißt es etwa: „Religionen sind zu schonen / Sie sind für Moral gemacht / Da ist nicht eine hehre Lehre / Kein Gott hat klüger gedacht“. Dass auch das neue Album beim aufmerksamen Hören große innere Bewegungen auszulösen vermag, könnte durchaus an Grönemeyers moralischem System liegen, auf dessen Fundament er komponierte. Wahre Musik kann nicht lügen. Allenthalben klingt in den Stücken eine angedeutete, jenseitige Kraft, fein verwoben mit dem konkret irdischen Hier und Jetzt. Das Albumcover zieren zwei Hände – der erste Track heißt „Deine Hand“. Ein Stück mit starker, eingehender Melodie und Versen, die eine neue Wir-Perspektive ans Firmament zeichnen. „Deine Hand gibt mir / Den Halt, den ich so dringend brauch / Um nicht zu brechen, halt sie fest / Und wir könnten uns noch retten“. Wessen Hand es sei, entscheidet das individuelle Ohr, ein Hinweis des Urhebers findet sich im sehenswerten Videoclip. Der Song wurde bereits Ende 2022 veröffentlicht – und Grönemeyer sagte dazu: „Es geht einfach darum, dass wir zusammenrücken müssen, Solidarität zeigen und uns gegenseitig Kraft schenken, insbesondere genau den Menschen, die es in dieser Zeit verdammt schwer haben, über die Runden zu kommen.“ Das Stück setzt die Latte hoch an. Doch Intensität, Qualität und auch Originalität der folgenden Lieder lassen danach kaum nach. Das Titelstück „Das ist los“ ist eine aberwitzige musische Tragikomödie über kleine und große Katastrophen der Welt; „Herzhaft“ ist ein Loblied der Lebensbejahung, inklusive typischen Wortspielen des zweifachen Familienvaters: „Nimm mich in die Herzhaft / Lass mir keinen Schmerz nach / Verweiger meine Amnestie / Entzieh mir meine Logik / Erzieh mich streng katholisch / Wenn du deine Arme schließt“. „Oh, entfriere dein Genie“ „ Spirituell betrachtet ist sein Werk eine tätige Umsetzung des humanistischen Prinzips – mit feiner Poetik begleitet. “ Nach den drei ersten Stücken hat man Lust aufs Leben – und dann legt Grönemeyer erst richtig los. Das Stück „Genie“ ist eine Aufforderung zum tiefen Blick nach innen und großen Tat nach außen, zu der jeder fähig sei. „Oh, entfriere dein Genie / Es ist, was dich lebt / Oh, du trägst den Code zum Paradies / Bring es auf den Weg“. In „Der Schlüssel“ ist die Hoffnung auf die Kinder gemünzt – diesen hatte er bereits in dem Song „Kinder an die Macht“ in den 1980er Jahren ein Denkmal gesetzt. Nun singt er: „Solang der Kopf auf den Schultern thront / sich für jedes Kind jeder Funke Hoffnung lohnt / Dass in ihnen weiter ihre Urkraft keimt / Sie wächst und sprießt, dass ihr Schlüssel wieder schließt“. Auch seiner vor 25 Jahren verstorbenen Frau Anna Henkel erinnert er sich, ihr hatte er bereits auf dem Album „Mensch“ das Stück „Der Weg“ gewidmet. Nun singt er vom „Urverlust“: „Es warst nur du, es warst nur du / Immerzu, es warst nur du / Warst immer du / Unerreicht, so klug / Von Kopf bis Fuß aus einem Guss / Bleibst du mein Urverlust“. Foto: imago / Eventpress Mehr zu Musik und Spiritualität von Jan Opielka lesen Sie unter „Brian Enos spirituelle Grenzerfahrungen“ (3.5.2023) auf furche.at. Die ersten acht Songs sind grandios, die folgenden etwas weniger spektakulär, doch lyrisch die gleiche Liga. Eine, in der Grönemeyer Fundamentales, Erhabenes und Urmenschliches verdichtet und vertont – so, dass es nicht pathetisch daherkommt, sondern mit Augenzwinkern, sprachspielerischem und stimmlichem Humor, um dann hie oder da zart ins Unendliche zu deuten. Mit dieser Platte, sagt Grönemeyer, habe er versucht, die Komplexität der Zeit der letzten Jahre zu greifen, die bisher die intensivste in seinem Leben sei: immer mehr Flüchtende, Klimakrise, Corona-Pandemie, der Ukrainekrieg. „Wir können uns als Menschen untereinander mehr helfen, als wir denken“, sagt er. Er selbst setzt sich seit Jahrzehnten für verschiedene soziale und politische Belange ein. Er unterstützt Greenpeace, ist Botschafter des Afghanischen Frauenvereins, singt und äußert sich immer wieder gegen Gefahren von rechts. Bei einem Konzert in Wien im Jahr 2019 sorgte er mit einer Aussage, die über soziale Medien verbreitet wurde, für einen Shitstorm von Anhängern und Politikern der deutschen AfD-Partei. Denn er rief, mit viel Wut, fast in Rage, in der Manier eines Tribuns: „Auch wenn Politiker schwächeln, und das ist in Österreich wohl nicht anders als in Deutschland, dann liegt es an uns, zu diktieren, wie ’ne Gesellschaft auszusehen hat. (…) Keinen Millimeter nach rechts!“ Humanismus mit Poetik Das Engagement sowie die Musik dieses Mannes, auch die aktuelle: Sie wirken komplementär. Von einer spirituellen Warte aus betrachtet ist sein Werk eine tätige Umsetzung des humanistischen Prinzips – mit feiner Poetik begleitet. Im vorletzten Stück, „Behutsam“, paraphrasiert der gebürtige Bochumer einen Gedanken, der auch in vielen älteren Stücken zu hören ist: Gott und Mensch sind wohl eine Gleichung. Nicht im Größenwahn, sondern in Demut und Freude. „Froh, wenn dein Wort klingt / Froh, wenn dein Herz springt / Heldinnen werden vom Glück bewacht / Dein Retterinnenweg / Wird sicher eng und auch mal schräg / Egal, wie’s um dich rum verzerrt / Du bist nie verkehrt“. Für Hoffnung Suchende: Diese Musik ist dringend hörenswert. Das ist los Von Herbert Grönemeyer Universal Music 2023

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