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DIE FURCHE 13.07.2023

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DIE FURCHE · 28 4 Das Thema der Woche Kopf hoch! 13. Juli 2023 Von Regina Magdalena Smrcka Nach einem langen Arbeitstag holt eine junge Mutter gehetzt ihre Tochter von der Krippe ab. Sie wäre lieber länger in Karenz geblieben, fühlte sich jedoch von ihrer Umwelt sowie den gestiegenen Lebenshaltungskosten dazu gedrängt, wieder arbeiten zu gehen. Kaum zu Hause angekommen, wird ihre müde Zweijährige nach einem nicht erfüllten Wunsch wütend und beginnt laut zu weinen. Ihre Mutter versucht sie zu beruhigen, doch auch sie ist erschöpft und kann gerade nicht ausreichend auf die Gefühle ihrer Tochter eingehen. Beispiele wie dieses kann Daniela Pichler-Bogner viele nennen. Die Pädagogin ist Obfrau der Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft und bietet in diesem Rahmen Familienberatung sowie Aus- und Weiterbildungen für Menschen an, die in der frühkindlichen Erziehung arbeiten. Die Frau aus ihrem Fallbeispiel gehöre zu jenen Eltern, denen es schwerfalle, ihre Kinder in den ersten drei Lebensjahren in eine Tagesbetreuungseinrichtung zu geben. „Diese Eltern spüren intuitiv, dass ihre Kinder von der Entwicklung her noch nicht reif für die Gruppensituation sind“, meint Pichler-Bogner. Die Pikler-Pädagogik geht auf die österreichisch-ungarische Kinderärztin Emmi Pikler zurück und davon aus, dass wenige ständige Bezugspersonen den Sozialisationsprozess am besten unterstützen. Bewältigen Kinder in diesem Alter bereits den Alltag in einer Gruppe, stehen sie gleichzeitig vor der Aufgabe der sekundären Sozialisation. In Betreuungseinrichtungen brauchen sie laut Pichler-Bogner daher stabile Bezugspersonen, die bereits in der Eingewöhnungsphase vor der ersten längeren Trennung von Mutter oder Vater eine gute Beziehung zum Kind aufbauen und so den Eltern die Sicherheit vermitteln können, dass dieser Prozess für ihr Kind zu bewältigen ist. Wichtig seien auch eine dem Alter der Kinder angemessene Gruppengröße sowie eine gute Beziehung zwischen Betreuer(inne)n und Eltern. Es gehe um Qualität, die es Eltern leichter mache, ihr Kind in Betreuung zu geben, so Pichler-Bogner. Lesen Sie zur Notwendigkeit staatlich finanzierter Krippenplätze das Interview mit Psychiater Karl Heinz Brisch (15.7.2019) auf furche.at. Um Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, sind Eltern meist früh auf Betreuungsangebote angewiesen. Nicht immer kommen alle Beteiligten damit zurecht. Was gegen die Stress-Spirale hilft. Bindung, Beziehung, Beratung „ Bei der Arbeit mit Paaren und Familien geht es darum, gerade in Stresssituationen den engen ‚Tunnelblick‘ zu weiten, indem gemeinsam auf das Positive geschaut wird. “ Illustration: Rainer Messerklinger Durchtauchen Im Alltag gibt es für Eltern viele äußere Stressfaktoren, die zu inner familiären Konflikten führen. Sich beraten zu lassen, kann dabei helfen, Krisen besser zu bewältigen. Konflikte vorbeugen Sie formuliert damit eine Forderung, die der Berufsverband der Elementarpädagog(inn)en, das Netzwerk Elementarbildung Österreich (NEBÖ), nicht zuletzt seit der Pandemie verstärkt an die Öffentlichkeit trägt. Nach welchem Schlüssel Kinder betreut werden, ist in Österreich Ländersache. Das NEBÖ fordert eine Fachkraft pro sechs Kinder unter drei Jahren. Derzeit sind acht bis maximal 16 Kinder in Kleinkindgruppen möglich, abhängig vom zuständigen Bundesland. Zu den unterschiedlichen Bedingungen kommt schon jetzt ein akuter Personalmangel. Eine Studie der Universität Klagenfurt aus dem Vorjahr rechnet vor: Bis 2030 fehlen mehr als 13.500 Fachkräfte. Bei empfohlenem Betreuungsschlüssel ist gar von 20.000 fehlenden Mitarbeiter(inne)n die Rede. Auf der anderen Seite stehen die Eltern. Um Berufstätigkeit und Kinderbetreuung unter einen Hut bringen, sind sie meist auf das Betreuungsangebot angewiesen. Nicht alle kommen damit zurecht und verlieren sich mitunter in einer Stressspirale aus gesellschaftlichem Druck, finanzieller Belastung und zwischenmenschlicher Entfremdung. Die Folge sind Familienkonflikte. Wie sie verhindert werden können, ist eine zentrale Frage des Berufsverbandes der Diplomierten Ehe-, Familien- und Lebensberater(innen) (EFL). Österreichweit bieten 384 Beratungsstellen kostenlos Unterstützung bei Fragen zum Thema Partnerschaft, Familie und Erziehung. „Das hat einen wichtigen präventiven Wert, der Beziehungen stärken und Gewalt verhindern kann“, erklärt etwa Eva Bitzan vom EFL. Gefördert werden diese Stellen durch die Sektion Familie und Jugend des Bundeskanzleramts. Sie sind dadurch auch für Menschen mit geringen finanziellen Möglichkeiten zugänglich. In der Arbeit mit Paaren und Familien geht es dabei darum, gerade in Stresssituationen den engen „Tunnelblick“ zu weiten, indem gemeinsam auf das Positive geschaut wird, darauf, was noch gut klappt im Alltag, meinen Bitzan und ihre Kollegin Elisabeth Birklhuber. Dadurch werde auch deutlich: Manche Probleme betreffen nur bestimmte Lebensbereiche. Es gelte daher, bewusst wahrzunehmen, worauf man noch Einfluss hat. Das stärke das Gefühl der Zuversicht – gerade in Zeiten persönlichen Umbruchs und äußerer Krisen. Bei der Interdisziplinären Fachtagung des Berufsverbandes im Mai ging es daher unter dem Motto „Gelingendes und Stärkendes. Reden und mehr“ auch darum, was Kindern von klein auf mitgegeben werden soll, um ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen. Der Tenor: Sie brauchen einerseits verlässliche und tragfähige Bindungsbeziehungen, die existenzielle Sicherheit geben, und andererseits Ermutigung und Bestätigung bei der Entdeckung der Welt. Das sagt auch der deutsche Theologe und Lebensberater Christoph Hutter. Seine These: Psychosozial verweist auf den gesellschaftlichen Auftrag, den Beratungsarbeit zu leisten habe. Es gehe dabei nie nur darum, Probleme zu lösen , sondern ein positives Szenarium, eine glückliche Landkarte des eigenen Lebens zu entwickeln. Er verweist auf den 2021 verstorbenen Albert Bandura und dessen Konzept der Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Demnach entsteht Zuversicht dann, wenn es dem Menschen möglich ist, Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit zu entwickeln und diese aktiv zu gestalten. Geht es nach der Pikler-Hengstenberg- Gesellschaft, darf das bereits Kleinkindern zugestanden werden. Ebenfalls in einer Tagung beschäftigte sich der Verein im Juni mit der Bedeutung des freien Spiels in der Kinderbetreuung. Demnach haben Kinder von Anfang an das Potenzial, ihre Bewegungs- und Spielentwicklung selbstständig voranzutreiben, sich sinnvoll und zufrieden zu beschäftigen – und auch Ruhe phasen zu finden. Für Erleichterungen im Alltag Für Eltern, die sich nicht zuletzt von äußerlichen Faktoren gestresst fühlen, bedeutet das: „Wenn sich Kinder verstanden fühlen, kooperieren sie und erleben sich gleichzeitig als wertvoll“, meint Daniela Pichler-Bogner. In der Familienberatung helfe sie Eltern daher, mehr Verständnis für die Signale und Entwicklungsetappen ihrer Kinder zu entwickeln. Im Fall der von ihr genannten Mutter habe sich dadurch herausgestellt, dass die Zweijährige in der großen Gruppe ihrer Kinderkrippe überfordert war. Eine Tagesmutter erwies sich in diesem Fall als bessere Option. Eine Lösung, die freilich nicht für alle gelten kann, zumal jede Familie andere Bedürfnisse und Möglichkeiten hat. Der erste Schritt ist laut Pichler-Bogner aber, Beratung und Hilfe anzunehmen, um so einen positiven Kreislauf anzustoßen: Aus einer besseren Kommunikation entstehen vertrauensvolle Beziehungen – und das bringt letztlich Erleichterungen im Alltag. Nächste Woche im Fokus: In Österreich geht jeder Vierte fremd. Aber ist das heute noch ein Tabu? Zu Zeiten der Monica-Lewinsky-Affäre war es eines. Lewinsky, die ihren 50. Geburtstag feiert, hat sich in Zeiten von #MeToo neu erfunden. Außerdem leben immer mehr Paare polyamor. Über Treue im Wandel der Zeit. Jetzt 4 Wochen gratis lesen! Die Pädagogische Werktagung ist ein Ort des Dialogs und des Wissensaustauschs. Verlängern Sie dieses inspirierende Erlebnis mit einem Testabo der FURCHE – Ihr Begleiter für neue Perspektiven, Analysen und Einblicke in die Bildungswelt. Jetzt bestellen: furche.at/abo/gratis aboservice@furche.at +43 1 512 52 61-52

DIE FURCHE · 28 13. Juli 2023 Politik 5 Österreichs Teilnahme am Luftverteidigungssystem „Sky Shield“ fügt der Endlos-Neutralitätsdebatte eine Schleife hinzu und zeigt, wie die FPÖ von der Bewirtschaftung heiliger Kühe profitiert. „In Selbstlüge Von Wolfgang Machreich Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht dasselbe. „Für Österreichs Armee ist ‚Sky Shield‘ gleichsam ein Geschenk des Himmels“, kommentiert die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) den Beitritt des neutralen Nachbarn zum europäischen Luftverteidigungssystem. Dass dieser Himmelsschild der neutralen Schweiz ebenfalls nicht ungelegen kommt, spart der Beitrag aus. Denn im Unterschied zur Schweiz, so die Argumentation, sei die österreichische Armee „mittlerweile so schwach, dass sie nur funktioniert, wenn sie mit anderen Ländern kooperiert“. Österreich habe sich in den vergangenen Jahrzehnten bei der Verteidigung zu viel auf die Geografie verlassen, „diese Lage ausgenutzt, um die Verteidigung günstig an die NATO gleichsam auszulagern“. Die Schweiz in gleicher verteidigungspolitischer Gunstlage gebe zwar gemessen am BIP ähnlich viel für Verteidigung aus (0,8 Prozent) wie Österreich, „weil sie aber um einiges wohlhabender ist als der Nachbarstaat, sind ihre Verteidigungsausgaben pro Kopf gerechnet ein Drittel höher“. Im Unterschied zur Schweiz habe beim Nachbarn der Sky-Shield-Beitritt auch größere Wellen geschlagen und „im Land eine aufgeregte Neutralitätsdebatte ausgelöst“, schreibt die NZZ. Zwar mache sich kaum jemand in der österreichischen Bevölkerung tiefschürfende Gedanken darüber, was die Neutralität mittlerweile genau bedeute, analysiert das neutralitätsgeschulte Schweizer Auge, „besonders die rechtspopulistische FPÖ treibt aber mit dem Thema Neutralität gerne die anderen Parteien vor sich her“. Neutralitätskuh im EU-Stall? Mit einem gehörigen Schuss Ironie gewürzt, bringt diese Außensicht die österreichische Innenpolitik auf den Punkt. Zudem wird im selben Blatt kritisiert, dass es auch dem Bundesrat in Bern 16 Monate nach Kriegsausbruch in der Ukraine nicht gelungen sei, „die Schweizer Neutralitätspolitik den neuen Realitäten anzupassen oder seine Position zumindest schlüssig zu erklären“. Ein Beleg, dass der sicherheits politische Balken im eigenen Auge nicht geleugnet wird. Russlands Krieg hat die Teufel in den Neu tralitäts details hüben wie drüben der Grenze offengelegt und macht die davor schon nicht einfache sicherheitspolitische Einbindung der heiligen Kuh Neutralität in den gesamteuropäischen Stall noch schwieriger. „Die Neutralität steht als große Überschrift über dem österreichischen Nationalbewusstsein und ist Österreich Weltmeister“ Identitätsgefühl“, sagt Katrin Praprotnik. Dabei gehe es gar nicht so sehr darum, „was im Detail dahintersteckt und was noch an Substanz davon erhalten ist“, bestätigt die Politikwissenschafterin an der Universität Graz die NZZ-Analyse, „sondern generell um die Selbstzuschreibung, was es bedeutet, Österreicherin und Österreicher zu sein – deswegen ist das Thema so stark emotional besetzt.“ Einer, der sich in der Politik nicht scheute, Emotionen zu zeigen und emotionsgeladen zu formulieren, ist Sepp Schellhorn. Der frühere Neos-Nationalratsabgeordnete, der sich als außerparlamentarische Ein-Personen- Fraktion weiterhin in politischen Debatten engagiert, schüttelt über die jüngste Schleife der Neutralitätsspirale den Kopf: „Bei Sky Shield ist die Neutralität völlig wurscht, aber eine Unterstützung der Ukraine bei der Minensuche war wegen der Neutralität nicht möglich – das ist doch ein völliger Blödsinn“, schimpft er im Gespräch mit der FURCHE. Für Schellhorn ist die Neutralität Österreichs heilige Kuh schlechthin: „Daran darf nicht gerüttelt werden, die hat sich im österreichischen Denken so verfestigt, dass es noch Generationen braucht, um die zu reformieren. Dass es die Neutralität seit dem EU-Beitritt quasi nicht mehr gibt, ist uns zwar bewusst, aber in der Selbstlüge ist der Österreicher Weltmeister.“ Diese Meisterschaft in der Kunst, „sich selbst anzulügen, hat irgendwas Katholisches an sich“, wagt der Salzburger Gastwirt eine Küchenpsychoanalyse der österreichischen Seele: „Das hat mit der Beichte zu tun, das haben wir zur Beruhigung des schlechten Gewissens mit anerzogen bekommen, das kriegen wir nicht weg.“ Schellhorns Meinung weitergedacht, drängt sich der Vergleich auf: Ein neutrales Land unter Sky Shield ist wie ein religionsneutraler Agnostiker, der nach Mariazell pilgert und dort für Schutz und Schirm der Schutzmantelmadonna eine Kerze anzündet. Wenn das Volk nicht will … In der Bevölkerung ist der Glaube an den Schutzschild Neutralität, sicherheitspolitische Zeitenwende in Europa hin oder her, jedenfalls ungebrochen stark. Eine sehr breite Mehrheit von 70 Prozent plus spreche sich kon stant für die Beibehaltung der Neutralität aus, sagt Katrin Praprotnik. „Österreichs Neutralität: Weltanschaulich nie neutral!“, beschrieb Helmut Wohnout das Neutralitätsverständnis am 20. April 2022; nachzulesen unter furche.at. „ So wird bei uns eine ganze Herde von Heiligen Kühen gehegt und gepflegt, da reicht eine Almwirtschaft nicht aus. “ Sepp Schellhorn, Unternehmer Fotomontage: Rainer Messerklinger (unter Verwendung eines Fotos von iStock/reisefreak) Österreichs hl. Kühe sind nicht auf dieses Land beschränkt. Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass man sich auch dort schwer damit tut, einmal aufs politische Parkett getriebene Prinzipien zu hinterfragen. Das gleiche Bild zeigt sich auf der Seite der Parteien: Mit Ausnahme der Neos, die eine Diskussion darüber fordern, stehen alle hinter der Neutralität. Praprotnik erklärt diese Übereinstimmung damit, „dass man in den Parteien gesehen hat, in der Einstellung der Bevölkerung zur Neutralität tut sich zu wenig“. Bereits in ihrer Dissertation hat sich die Politikwissenschafterin mit der Umsetzung von Wahlversprechen österreichischer Parteien beschäftigt. Heute forscht sie im Rahmen des „Austrian Democracy Lab“ über politische Wechselwirkungen zwischen Bevölkerung und Parteien. Diese Wechselwirkung habe dazu geführt, sagt Praprotnik, dass die ÖVP von ihrem bis Anfang der 2000er Jahre reichenden neutralitätskritischen Kurs abgegangen sei, „nachdem dieser keinen Niederschlag in der Bevölkerung fand. Daraufhin hat man in der Frage einen klaren Positions- FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE

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