DIE FURCHE · 28 16 Diskurs 13. Juli 2023 ZEITBILD Foto: ORF Missbrauchsvorwürfe gegen ein Kinderheim Der Edelhof im Sommer, umrahmt von sattem Grün: Was heute ein idyllisches Bild abgibt, scheint von einer düsteren Vergangenheit überschattet. Zumindest stehen schwerwiegende Vorwürfe im Raum. Bis 2014 war hier, in Rohrbach an der Gölsen im Bezirk Lilienfeld, ein Kinderheim untergebracht, betrieben vom „Orden der Schwestern vom armen Kinde Jesus“. Drei Brüder wuchsen hier auf, nachdem sie ihren Eltern wegen Vernachlässigung von der Stadt Wien abgenommen worden waren. Die Buben sollen von den Ordensfrauen von 1991 bis 2001schwer misshandelt worden sein – körperlich und psychisch. Nachdem sie sich an die unabhängige Opferschutzkommission der katholischen Kirche (Klasnic-Kommission) gewandt hatten, bekamen sie 2019 eine finanzielle Entschädigung. Doch nun klagen die Männer im Alter von 34, 35 und 37 auf Schadenersatz – vom Orden, der Diözese St. Pölten und der Stadt Wien. Es wäre bei weitem nicht der erste Missbrauchsfall in Kinderheimen. Doch die beklagten Institutionen streiten die Vorwürfe im laufenden Gerichtsverfahren ab: Die Gewalt sei nicht nachzuweisen, und als Kinder hätten die heutigen Kläger bei den Kontrollen geschwiegen. Am Montag hat die ORF-Sendung „Thema spezial“ den Fall beleuchtet. Die neuen Besitzerinnen des Edelhofs hatten den Journalisten erlaubt, dort zu filmen. Zwei der Brüder haben dabei offen über ihr Schicksal und ihre anhaltenden Schwierigkeiten gesprochen: Arbeitslosigkeit, Alkoholmissbrauch, Gewalt gegenüber Frauen. „Ich habe gemerkt, wo ich auch hingehe – es verfolgt dich halt“, sagte einer von ihnen. „Wenn ich nicht brav war, wurde ich zu den Schweinen gesperrt. Es wurde gesagt, wenn du dich nicht benehmen kannst, gehörst du eh dorthin.“ Sie berichteten auch von öffentlicher Demütigung: „Ich bin bestraft worden und habe deshalb ins Bett gemacht, daraufhin bin ich wieder bestraft worden. Es hat nie aufgehört. Ich musste am nächsten Tag im großen Raum stehen mit dem angemachten Leintuch über dem Kopf (...). Die anderen Kinder wurden von den Schwestern aufgefordert, mich auszulachen.“ Dem Fernsehpublikum vermittelte sich ein authentischer Einblick in eine tragische Situation. Wertvoll in der ORF-Sendung waren auch die Einschätzungen von Expert(inn)en wie der Psychotherapeutin Elia Bragagna oder dem ehemaligen Vorstand des Jugendgerichtshofs Udo Jesionek, heute Präsident der Verbrechensopfer-Hilfsorganisation „Weisser Ring“. Sie machten deutlich, welche tiefschürfenden Schäden und verheerenden Dynamiken durch traumatische Beziehungserfahrungen ausgelöst werden können. Es braucht Aufklärung – hier im konkreten Fall und ganz generell im Sinne einer traumabewussten Gesellschaft. (mt) IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at „Linksdrall“, Humanität und die Kirche Von Josef Christian Aigner Nr. 26, Seite 11 Herr Professor Aigner thematisiert in seinem Gastkommentar zahlreiche Versäumnisse und Defizite in der österreichischen Politik bezüglich Humanität – und fragt, ob die C-Parteien das Einmaleins der Botschaft Jesu Christi überhaupt begriffen haben. Die derzeitigen Zustände, so Aigner, halten keiner christlichen Ethik stand. Ich stimme ihm zu! Kritiker mögen vielleicht einwenden, dass Vokabeln wie Empathie, Barmherzigkeit und Ethik sich nicht mit Realpolitik vereinbaren lassen. Doch was sind denn unsere Wertequellen, wenn nicht der Dekalog oder die Bergpredigt? Was ist dann ein humanitärer Maßstab? Beruht nicht unsere gesamte abendländische Kultur auf der Botschaft eines jüdischen Wanderpredigers, der vor 2000 Jahren lebte? Nicht gläubige Menschen berufen sich gerne auf den Philosophen Immanuel Kant und seinen kategorischen Imperativ, die Weltformel der menschlichen Moral: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Zentral für das Christentum ist die Idee der Nächstenliebe, der Solidarität und Gerechtigkeit. Diese Werte finden sich auch in den Kernprinzipien linker Politik wieder. Beide streben nach sozialer Gerechtigkeit und dem Schutz der Schwachen. Darüber hinaus ist linke Politik im Hinblick auf Umweltschutz für mich glaubwürdiger als das sture Festhalten des Bundeskanzlers am Verbrennungsmotor. Einige Kritiker argumentieren, dass linke Politik zu sehr auf den Staat als Lösung für soziale Probleme setzt, statt mehr an die individuelle Verantwortung eines jedes Einzelnen zu appellieren. Ob aber links oder rechts: Jeder Regierung stände es gut zu Gesicht, die „Goldene Regel“ zu verinnerlichen. Das, was Kant in seinem kategorischen Imperativ formulierte, ist im Prinzip nichts anderes als das, was Jesus am Ende der Bergpredigt sagte: „Alles was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut auch ihr ihnen.“ DI (FH) Franz Josef Dorn 8733 St. Marein-Feistritz Kichernde Weisheit Human Spirits. Von Martin Tauss Nr. 27, Seite 13 Gerade fand ich Ihre geistreiche Kolumne zum Lachen. Sich richtig schön „abpecken“ ist wahrlich eine schöne Sache – und eine Turnübung für Gelassenheit: sich auch mal selbst auf den Arm nehmen. Lachyoga, Lachen ohne (äußeren) Grund, das mittlerweile 6000 Lachclubs weltweit – auch online – pflegen, wäre vielleicht auch mal ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Ach ja, das „Lachtelefon“, als eine mögliche Hilfe (von vielen) in Zeiten von Anspannung, Stress und Niedergeschlagenheit, wollte ich noch erwähnen: mit erfahrenen Lachyogis drei Minuten lang herzhaft blödelnd lachen oder auch sanft ans Lachen (wieder) herangeführt werden. Einfach zum lebendig Lachen! In Österreich unter (0720) 115883. Stefan Jedletzberger via Mail Dürfen NATO-Jets in Österreich landen? Von Manuela Tomic und Brigitte Quint. Nr. 24, Seite 10 Ob „aktiv“ oder „kooperativ“, ob „immerwährend“ und wie von der Schweiz gehandhabt: Eine Neutralität, der die internationale Anerkennung fehlt, ist wertlos. Russland hat mit der Stimme seines Außenministers unmissverständlich klargestellt, dass es Österreich nicht mehr als neutral und die gesamte EU ebenso wie die NATO als Gegner betrachtet. Damit erübrigt sich jede Debatte über ein „Festhalten“ an unserer Neutralität, die ausschließlich für den internen Gebrauch gilt – als Beruhigungspille für die Landsleute des „Herrn Karl“. Emanuel-Josef Ringhoffer, 1040 Wien Impressionen einer Rom-Reise Newsletter vom 30. Juni Von Doris Helmberger Vielen Dank für den so charmanten und knackigen Bericht über Ihren Ausflug ins Innere der Mauern der Ewigen Stadt – und die gnadenhafte Perspektive auf Kardinal Schönborn. So kenne ich ihn von früher – als ehemalige Grazer Theologiestudentin und Mitglied des Grazer Lesekreises um „P. Christoph“ im Kloster Retz. Mag. Monika Tieber-Dorneger 8501 Lieboch Hinweis: Unseren Freitags-Newsletter „Lesestoff fürs Wochenende aus dem FURCHE-Navigator“ können Sie unter furche.at/newsletter abonnieren. Die zusätzliche Lotto Ziehung gibt es auch in den Sommermonaten. Zunächst am Freitag, dem 14. Juli wie gewohnt mit 300.000 Euro extra. Alfons Haider „zieht“ diesmal die sechs Richtigen. Lotto Bonus- Ziehungen auch im Sommer Bevor er sich am 22. Juli im Rahmen der Reihe „Mr. Musical präsentiert“ der Vorstellung der erfolgreichsten Musicals widmet, hat Routinier Alfons Haider einen Auftritt auf der Lotto Bühne. Er schlüpft im Rahmen der Lotto Bonus-Ziehung am Freitag, dem charmanten Art in die Rolle des Glücksbringers. Die Quittungsnummer des Gewinnscheins der Zusatzausspielung von 300.000 Euro wird wie immer gleich im Anschluss an die Bonus-Ziehung ermittelt. Und auch die Regeln der Bonus- Ziehung bleiben unverändert: Als komplette Spielrunde gliedert sie sich in den Ziehungsrhythmus ein, es erfolgen somit auch die Ziehungen von LottoPlus und Joker. Auch eventuelle Jackpots werden in diese Runde mitgenommen. Annahmeschluss für die Bonus-Ziehung ist am Freitag, dem 14. Juli 2023 um 18.30 Uhr, die Ziehung ist um 18.47 Uhr live in ORF 2 zu sehen. Alfons Haider im Lotto Studio Foto: ORF / Günther Pichlkostner
DIE FURCHE · 28 13. Juli 2023 Literatur 17 Toni Morrison (1931 ‒ 2019) Die unselige Verbindung Hautfarbe = Charakter wurde auch durch Literatur hergestellt. Mit ihrer bereits 1983 erschienenen Erzählung „Rezitativ“ lädt Toni Morrison zu einem eindrücklichen Selbstexperiment ein. Schwarz oder weiß? Foto: imago / ZUMA Wire teilige Positionen demons trieren. Sie hängen zusammen, in ihrer Dualität, das Plakat der einen ist Antwort auf das der anderen. Attribute, Eigenschaften, Handlungen, Sprache, Ausdrucksweise, all das wird in der Erzählung so eingesetzt, dass sich die Annahmen und Rückschlüsse darauf, mit welcher Hautfarbe das denn verbunden wäre, ständig verändern. Toni Morrison erzählt dadurch indirekt Rassismus als das, was er ist: ein hoffnungslos nichtssagendes Konstrukt, wie sie in „Die Herkunft der anderen“ schreibt. 1998 wird die Literaturnobelpreisträgerin im Roman „Paradies“ den auf race fixierten Blick ganz bewusst fokussieren, „um ihn dann restlos zu verunsichern“, wie im Essayband „Selbstachtung“ zu lesen ist. Erzählen statt Theorie Nichts von dem, was ich hier analysierend beschreibe, steht explizit im Text. Morrison theoretisiert nicht, sie erzählt. Von den beiden Mädchen bzw. Frauen, ihren Leben und Kontexten und den Versuchen, sich an das Treten der noch Schwächeren zu erinnern, das sie wohl selbst vorgenommen haben, damals im Heim. Und doch ruft der Text diese Themen hervor, bewirkt er, dass man Zuordnungen versucht und diese Versuche bemerkt und reflektiert. Jedes Kind in den USA sollte „Rezitativ“ lesen, meint Zadie Smith in ihrem Nachwort. Ich würde den Vorschlag gerne ergänzen: Die Erzählung sollte auch hierzulande Schullektüre werden. Denn, wie Stuart Hall in „Das verhängnisvolle Dreieck“ feststellte, jeder Versuch, „Rassismus zu bekämpfen oder seine menschlichen und sozialen Folgen abzuschwächen“, hängt „davon ab, dass man versteht, wie genau dieses Bedeutungssystem funktioniert und warum die klassifikatorische Ordnung, die es repräsentiert, einen so mächtigen Einfluss auf die menschliche Vorstellungswelt ausübt“. Die 37 Seiten Erzählung sind vielleicht, hoffentlich trotz literaturfeindlicher Lehrpläne lesbar. Von Brigitte Schwens-Harrant Man kennt, leider, Sätze wie diesen: „dass die sich nie die Haare waschen und komisch riechen“. Und seien sie einem, aus guten Gründen, auch zutiefst zuwider: Hand aufs Herz, welche Bilder entstehen im Kopf bei einem solchen Satz, wen sieht man? Es ist erstaunlich und erschreckend, wie sehr auch bei hohem Reflexionsvermögen oder Bildung die Bilder, die Menschen sich voneinander machen, von Traditionen geprägt sind, die voll sind mit Vorurteilen und Stereotypen. Charakteristika, Eigenschaften, Attribute, bestimmte Handlungen werden Gruppen zugeschrieben, als wären sie ihnen biologisch und wesenhaft zugrundegelegt, als wären es nicht kulturell weitergegebene Erzählungen, die selbstverständlich vor allem auch dazu dienen, einander abzuwerten. Derart geordnet lebt es sich nämlich besser. Das eigene Ich wird stabilisiert, man versichert sich der eigenen Normalität, und man hält eigene Ohnmacht und Unterdrückung besser aus, wenn man selbst wiederum andere abwerten und unterdrücken kann. Leider ist das so. Man ordnet und kartografiert Menschen nach Herkunft, Hautfarbe, Vermögen, wonach auch immer. Theoretisch aber würde wohl fast jeder empört von sich weisen, dass dies einen selbst betrifft; nein, selbstverständlich sei man zum Beispiel: kein Rassist. Starke Wirkung Wie sehr und stark aber all die übernommenen Zuordnungen ständig auf die eigene Sichtweise einwirken, das erfährt man nach der Lektüre von Toni Morrisons schmaler Erzählung „Rezitativ“ tatsächlich besser als aus einem Theoriebuch zum Thema. Weil dieser Text so gebaut ist, dass er während der Lektüre bei den Leserinnen und Lesern die Fragen entstehen lässt: Ist Twyla schwarz oder weiß? Ist Roberta schwarz oder weiß? Was ist typisch schwarz? Was ist typisch weiß? Und das, ohne dass Morrison ein einziges Mal solche Fragen stellt. Aber der Text macht, dass man lesend nach Spuren sucht, nach Indizien: Das ist doch eine typische Eigenschaft von schwarzen Menschen, das ist doch typisch für einen weißen Blick usw. – und immer mulmiger wird einem, sobald man das bemerkt. Die Haupt figur in diesem literarischen Experiment ist, so könnte man sagen: man selbst. Die unselige Verbindung Hautfarbe = Charakter wurde nicht zuletzt immer auch durch Literatur hergestellt, Hautfarbe war ein Erkennungsmerkmal dafür, auf welcher Seite des Dualismus eine Figur stand: legal oder illegal, gut oder böse. In ihrem Band „Im Dunkeln spielen“, der soeben überarbeitet neu aufgelegt wurde, hat Toni Morrison 1992 das anhand von Lektüren klassischer literarischer Werke gezeigt. Diese „erzählerische Abkürzung“ des Kolorismus, wie Morrison das in „Die Herkunft der anderen“ (2018) nennt, hat sich längst so in unsere Kultur eingeschrieben, dass man diese Zuordnungen und Abwertungen oft gar nicht mehr bemerkt, wodurch sie aber ständig weiter wirken und bestärkt werden. Morrison greift in ihrer bereits 1983 erschienenen Erzählung „Rezitativ“, die nun erstmals auch auf Deutsch zu lesen ist, solche Zuordnungen bewusst auf, spitzt das Interesse der Lesenden auf diese Frage zu, um sie zugleich aber als völlig nichtssagend zu entlarven. Man muss hier nicht viel über den Inhalt dieser schmalen und so dichten Erzählung verraten. „ Morrison greift solche Zuordnungen bewusst auf, um sie zugleich aber als völlig nichtssagend zu entlarven. “ Zwei Mädchen lernen einander kennen, weil sie sich ein Zimmer in einem Kinderheim teilen müssen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie acht Jahre alt sind und „abserviert“ wurden, denn die Mutter der einen ist krank, die Mutter der anderen tanzt die ganze Nacht. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in der Hierarchie der Heimkinder nicht gerade oben stehen, dass sie aber jemanden finden, der noch tiefer steht als sie ... Was trennt sie? Sie sähen nebeneinander wie Salz und Pfeffer aus, heißt es einmal, hätten eine ganz andere Hautfarbe. Doch wer welche Hautfarbe hat, das verrät Morrison nie in dieser Erzählung, die bis in die Zeit reicht, in der sich Twyla und Roberta als Erwachsene wiedersehen und vor den Schulen ihrer Kinder für jeweils gegen Lesen Sie dazu B. Schwens- Harrants Beitrag: „Toni Morrison über ‚race‘: Wie entkommt man diesem Wärter?“, 23.9.2020, furche.at. Rezitativ Von Toni Morrison Übersetzt von Tanja Handels Mit einem Nachwort von Zadie Smith Rowohlt 2023 91 S., geb., € 20,95 Im Dunkeln spielen Weiße Perspektiven und literarische Imagination. Von Toni Morrison Übersetzt von Barbara von Bechtolsheim und Helga Pfetsch Überarbeitet von Mirjam Nuenning Rowohlt 2023 144 S., geb., € 14,95
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