DIE FURCHE · 28 10 Gesellschaft/Medien 13. Juli 2023 Vielfach geehrt Zahllose Preise konnte Heinz Nußbaumer entgegennehmen. U. a. erhielt er 2018 vom Presseclub Concordia den Ehrenpreis für sein Lebenswerk (siehe Bild). Unter „Auch im Abschied bleibt die Nähe“ (22.2.23) lesen Sie auf furche.at den letzten Text von Nußbaumer als FURCHE- Herausgeber. Von Otto Friedrich und Doris Helmberger Heinz Nußbaumer gehört zu einer Art Journalist, von der es heute nicht mehr viele gibt. Für ihn war der Beruf ein lebenslanger Auftrag, in die Welt hinauszugehen – und zwar buchstäblich. Und jeder, der Nußbaumer begegnet ist, weiß, dass Journalismus nicht nur das Aufspüren, Aufbereiten und Einordnen von Fakten bedeutet. Sondern der gute Journalist ist auch ein guter Geschichtenerzähler. In Bezug auf Heinz Nußbaumer muss man hinzufügen: ein begnadeter. Nicht nur, dass er in seiner Tätigkeit Weltgeschichte miterlebt hat. Ebenso wichtig war: Er wusste und weiß davon so zu er zählen, dass dies seinen Leser(inne)n, Zuhörer(inne)n, Zuschauer(inne)n auch bewusst wurde. Vielleicht hat diesen, heute nicht immer anerkannten Aspekt des GLAUBENSFRAGE Vom Feind zum Freund Kaum war mein Schlüsselbeinbruch leidlich geheilt, brach ich in diesen Tagen sogleich auf zum Mosel-Camino. In dieser ganz besonderen Natur-, Kultur- und Religionslandschaft freue ich mich am meisten auf Beilstein. „Verwunschen“ ist das richtige Wort für diesen Ort, dessen kunstvolle Fachwerkhäuser, verwinkelte Gassen und kühle Weinkeller zum Sommer genuss einladen. Etwa 600 Jahre lang prägten jüdische und christliche Kultur gemeinsam das wunderschöne Städtchen. Die alte Synagoge ist noch erhalten, wenn sie heute auch säkular genutzt wird. Zugleich überrascht eine ausladende Wallfahrtskirche, in der eine Schwarze Madonna alle Blicke auf sich zieht. Hoch aufgerichtet, strahlt sie Standhaftigkeit und innere Freiheit aus. Die wertvolle Skulptur entstand jedoch nicht im Moseltal, sondern wurde im zwölften Jahrhundert in Spanien geschaffen. Sie kam im Dreißigjährigen Krieg hierher, als die Spanier 1620 Beilstein besetzten. In jenem furchtbaren Krieg, der Hungersnöte und Seuchen verursachte, ganze Landstriche verwüstete und entvölkerte. Journalismus auch die Liebe zum Orient, in den es Nußbaumer wieder und wieder hinverschlagen hat, befördert. Wer je einen Abend mit ihm verbringen durfte, weiß, wie faszinierend Weltgeschichte in erlebten Geschichten sein kann. In einem Buch wie „Meine große kleine Welt“ (2011/18) ist manches dazu nachzulesen. FURCHE-Leserinnen und -Leser erhielten von 2008 an regelmäßig Einblick in „Nußbaumers Welt“. Die darin vermerkten welthistorischen Miniaturen reichten vom Kreml bis ins Weiße Haus, führten durch Paläste von Königen und Präsidenten, verweilten auf dem Berg Athos, umkreisten immer wieder die „Causa Waldheim“, die er aus nächster Nähe „ Die welthistorischen Miniaturen reichten vom Kreml bis ins Weiße Haus, führten durch Paläste, verweilten auf dem Berg Athos, kamen zu seinen Vorbildern zurück. “ Journalist, Präsidentensprecher, Brückenbauer zwischen Religionen und Kulturen: Heinz Nußbaumer, langjähriger Mitherausgeber und Kolumnist der FURCHE, wird am 16. Juli 80 Jahre alt. Eine Würdigung. Weltgeschichte in Geschichten Von Hildegund Keul Ganz anders hier in Beilstein. Zwischen Besatzern und der Moselaner Bevölkerung entwickelten sich freundschaftliche Beziehungen, so wird es hier erzählt. Sie gingen miteinander den prekären Weg von Feindschaft zu Freundschaft. Als die Spanier nach vierzig Jahren in ihre Heimat abzogen, überließen sie ihre hochverehrte Schwarze Madonna den Einheimischen. Daraufhin entwickelte sich Beilstein zu einem vielbesuchten Wallfahrtsort. Die Marienfigur erhielt den Namen „Königin des Friedens“. So setzt Religion ein Zeichen gegen die verheerenden Machtwirkungen, die Kriegstraumata auf eine Bevölkerung ausüben können. Wie sehr brauchen wir auch heute solch wirksame Zeichen, die Gräben überwinden und Menschen zum Stiften von Frieden herausfordern! Die Autorin ist katholische Vulnerabilitätsforscherin an der Universität Würzburg. miterlebt hatte, und kamen oft und gern auf seine vier großen Vorbilder zurück: Kardinal Franz König, Heinrich Harrer, Hermann Gmeiner – und Hugo Portisch. Letzterem war er bis zu dessen letzten Lebensmomenten in tiefer Freundschaft verbunden. „Kein anderer Österreicher ist mir begegnet, für den Heimatliebe, Europa-Bewusstsein und Weltbürgertum so untrennbar zusammengehört haben wie für Dich“, schrieb er „Dem toten Freund“ im April 2021 in der FURCHE. Schwund an Solidarität Foto: APA / EXPA / Sebastian Pucher Dass Portischs journalistisches Vermächtnis weitergegeben wird – u. a. durch den „Hugo Portisch- Preis“, erstmals vergeben an den ORF-Journalisten Peter Fritz –, war ihm ein Herzensanliegen. An Portischs Seite habe er gelernt, dass „mangelndes Weltwissen immer von einem Schwund an Solidarität und globalem Humanismus begleitet ist – und auch unsere Demokratiefähigkeit schwächt“. Umso leidenschaftlicher war Nußbaumers Eintreten für journalistische Kompetenz und Medienvielfalt: Bis zuletzt protestierte er gegen die Einstellung der Wiener Zeitung, die Hugo Portisch als „Weltkulturerbe“ bewahren wollte. Auch die FURCHE hat er nach Kräften unterstützt: Nicht nur mit seinen Kolumnen und Texten, sondern auch mit seinem tatkräftigen Einsatz auf FUR- CHE-Leser(innen)reisen – sowie seinem unermüdlichen Werben für diesen Solitär in der österreichischen Medienlandschaft. Seit 1945 sei diese Zeitung „ihrem Auftrag treu geblieben, das Bleibende und Versöhnende, das Solidarische und Existenzielle atmen zu lassen“, schrieb Nußbaumer bei seinem Abschied als Herausgeber und regelmäßiger Kolumnist im Februar dieses Jahres. Sie habe „Samenkörner des Anstands, der Weltoffenheit und Empathie in die Furchen unserer Republik gelegt“. Herausgeber im Ehrenamt Dass dies möglich war und ist, verdanken wir wesentlich auch ihm. 2003 hat Heinz Nußbaumer nach seiner Karriere als weitgereister Kurier-Journalist und Berater sowie Sprecher von Kurt Waldheim und Thomas Klestil Neuland betreten, als er – auf Einladung von Geschäftsführerin Gerda Schaffelhofer und gemeinsam mit Wilfried Stadler – das Ehrenamt des FUR- CHE-Herausgebers übernahm. Wie diese Schnittstelle zwischen der verlegerischen Geschäftsführung und der journalistischen Redaktion ausgeübt wird, liegt stets im persönlichen Ermessen. Heinz Nußbaumer wusste aus eigener Erfahrung, wie lähmend Begehrlichkeiten – seien sie politischer oder ideologischer Natur – für journalistische Arbeit sein können. Journalismus muss Mächtigen auch wehtun, wenn er seiner Aufgabe nachkommt. Von daher ist es notwendig, einer Redaktion den Rücken freizuhalten. Genau das hat die FURCHE-Redaktion in den 20 Jahren ihres Herausgebers Heinz Nußbaumer erfahren. Manchmal hat er uns wissen lassen, dass es solche Versuche der Einflussnahme gegeben hat, meistens wohl nicht. Die Redaktion dankt ihm dieses Engagement bis heute. Hugo Portisch war Vorbild und Lebensmensch von Heinz Nußbaumer. Lesen Sie unter „Dem toten Freund“ (29.4.2021) seine Abschiedsrede auf den legendären Journalisten – auf furche.at und unter diesem QR-Code. Von 2008 bis 2023 hat Heinz Nußbaumer für DIE FURCHE Kolumnen verfasst. Diese sowie weitere Texte – von Waldheim über den Schah von Persien bis Gorbatschow – sind auf seiner Autorenseite nachzulesen.
DIE FURCHE · 28 13. Juli 2023 Gesellschaft 11 Die Debatte darüber, wie viel Haut bei Jugendlichen (in einem formellen Kontext) zu sehen sein darf, erhitzt die Gemüter. Unser Gastautor findet: Man darf auch als Mann sagen dürfen, dass man sich sexuell belästigt fühlt. Eine argumentative Herausforderung. Kleidung ist Teil von Körpersprache Von Clemens Paulovics in die Schule gehen? Wenn du dagegen bist, denkst du patriarchal“ – so erscheint mir der Tenor „Bauchfrei zur Debatte rund um den verunglückten Versuch einer Salzburger Schuldirektorin, Bekleidungsvorschriften zu erlassen. Mir stellt sich hier die Frage: Verlernen wir als Gesellschaft zunehmend, Themen des Zusammenlebens in ihrer Komplexität wahrzunehmen und zu diskutieren? Zwei große Bereiche könnten wir anlässlich dieser Causa diskutieren: das Zusammenleben der Geschlechter einerseits und den vielfältigen, doch selten genauer definierten Auftrag von Schule in der heutigen Zeit andererseits. Stattdessen aber gleitet das Thema in eine Banalisierung ab: Mädchen sind zu schützen, egal wie sie sich kleiden, und Burschen sind keinesfalls hormongesteuerte Opfer derselben (beides ist unbestritten). Ich hatte versucht, in einem Facebook- Posting zu differenzieren, die Vielschichtigkeit aufzuzeigen. Die Folge: Ich wurde mitunter von Usern abgemahnt, der Täter- Opfer-Umkehr bezichtigt, mit Mullah- Vergleichen bedacht. Lesen Sie hierzu „Lass und streiten“ von Manu Tomic und Brigitte Quint: „Kleidet sich die Jugend zu freizügig?“ (5.7.2022) auf furche.at. Frauen spielen offensiv mit Optik Ich wünsche mir aber kein Schwarz- Weiß-Denken, sondern eine sachliche Auseinandersetzung. Reicht es für die Emanzipierung einer Gesellschaft, wenn Mädchen und Frauen zum Einfordern und Leben ihrer Rechte ermutigt und der männlichen Seite Pflichten und Verantwortung zugeschoben werden? Gilt es nicht vielmehr, Rechte in den Kontext von Pflichten und Verantwortung zu setzen? So hat ein 16-Jähriger das Recht, Alkohol in der Öffentlichkeit zu trinken. Aber damit hat er auch die Pflicht, sich zu überlegen, in welchem Ausmaß er das praktiziert, und die Verantwortung, was er unter diesem Alkoholeinfluss macht. Beim Bekleidungsthema wünsche ich mir einen vergleichbaren Zugang: Ja, du kannst tragen, was du möchtest – aber damit geht die Pflicht einher, ein Gespür zu entwickeln, wo welches Outfit angemessen ist. Auch sehe ich den Träger, die Trägerin in der Verantwortung, mitzubedenken, was die jeweilige Kleidung bei anderen auslösen könnte. Der Auftrag von Schule: Jugendliche dafür zu sensibilisieren, dass auch Kleidung ein Teil der Körpersprache ist. Jeder Mensch muss dabei lernen, dass durch Kleidung gesendete Signale von der Empfängerin und vom Empfänger durchaus anders erfahren werden, als sie von der oder dem Sendenden gedacht sind. Das müssen speziell Burschen lernen, aber nicht, weil sie blöder oder hormongesteuerter sind, sondern weil sich eines bei aller Weiterentwicklung unserer Gesellschaft nicht wesentlich ge ändert hat: Frauen spielen viel öfter gezielt und offensiv mit Optik und Zurschaustellung. Viel Dekolleté, Bauch und Beine zeigen und gleichzeitig verlangen, dass dort niemand hinschaut? Selbst Lehrerinnen und Trainerinnen – hetero – bestätigen mir, dass das nicht funktionieren kann: „Manche der Mädchen hatten einen so tiefen Ausschnitt, dass ich selbst Mühe hatte, die Blicke abzuwenden. Wie willst du einen so starken erotischen und visuellen Reiz ignorieren? Dabei war ich als Frau eh nicht einmal das Ziel, sondern die männlichen Trainer.“ Ich halte es für höchst wichtig, mit den Burschen zu arbeiten. Sie müssen lernen, dass ein Minirock oder ein bauchfreies Oberteil keine Einladung sind, hinzufassen. Sie sollen aber auch lernen, ihre Gefühle in passende Worte zu fassen. Statt übergriffig „Geiler Ausschnitt!“ zu rufen, dürfen sie durchaus sagen, dass sie die Kleidung ihres Gegenübers irritiert oder ablenkt. Oder auch dass sie sich davon sexuell belästigt fühlen, so wie ich das auf Facebook geschrieben habe. Diesbezüglich musste ich erfahren, dass eine solche Empfindung offenbar nur Frauen vorbehalten ist. Ist das aufgeklärt und Foto: imago / Design Pics Hingucker als Dissens Viel Beine, Bauch, Dekolleté zeigen und dann erwarten, dass niemand hinschaut – für Clemens Paulovics ist das ein Widerspruch, für den es die Jugendlichen auch zu sensibilisieren gilt. „ Ich halte es für höchst wichtig, mit Burschen zu arbeiten. Sie müssen lernen, dass ein Minirock keine Einladung ist, hinzufassen. Sie sollten aber auch lernen, ihre Gefühle in passende Worte zu fassen. “ emanzipiert? Als Auftrag unserer Gesellschaft sehe ich neben der Arbeit mit Burschen daher auch, junge Frauen zur Reflexion anzuleiten. Von Bildungseinrichtungen wird weiter nach wie vor erwartet, Arbeitshaltungen wie Fleiß, Ordentlichkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Genauigkeit und vieles mehr zu lehren, um die Arbeitnehmer für morgen jobtauglich zu machen. Nun wird aber in vielen Berufen das äußere Erscheinungsbild als Teil der Arbeitshaltung betrachtet – für alle Geschlechter geltend, wohlgemerkt. Eine Polizistin, die zwei Knöpfe offenlässt, um ihr Dekolleté zu betonen, ist ebenso undenkbar wie ein Rechtsanwaltsanwärter im eng anliegenden ärmellosen T-Shirt mit Oberarmtattoos. Hierzu möchte ich gerne zwei Möglichkeiten zur Diskussion stellen, nämlich staatlich verordnete Regelungen einerseits, am Schulstandort partizipativ entwickelte andererseits. Dresscode für Bildungseinrichtungen Es wäre grundlegend ein Leichtes für den Gesetzgeber, Regelungen für den Schulbetrieb festzulegen, was ein reiner Dresscode sein könnte, wie er in den USA immer öfter zu finden ist, oder die Einführung von Schuluniformen, wie sie weltweit verbreitet ist: Großbritannien, Australien und Russland haben ebenso Uniformen wie weite Teile Lateinamerikas, Afrikas und Asiens – darunter Indien, Japan, China und Südkorea. Themen wie „Kleidung als Statussymbol“ und „Mobbing wegen Kleidung“ würden hier ad acta gelegt werden, auch ist diese Regelung letztlich sogar entscheidend billiger für die Familien. Lieber als staatliche Vorgaben hätte ich persönlich aber gerne ein anderes Modell diskutiert: Warum das Thema nicht der Schulautonomie überlassen und einfordern, dass diese Regelungen zusammen mit den Heranwachsenden entwickelt werden? Das gäbe Lehrer(inne)n wie Schüler(inne)n gleichermaßen die Möglichkeit, eigene Bedürfnisse und eigene Gefühle – wie etwa Unbehagen – zur Sprache zu bringen und miteinander eine gute Lösung für die gesamte Schulgemeinschaft zu erarbeiten und zu verantworten. Der Autor ist Bildungsbereichsleiter der Ordenskonferenz und arbeitete 25 Jahre lang in der Jugendarbeit und als Lehrer. KREUZ UND QUER WAS UNSERE GENE LENKT EPIGENETIK UND SCHICKSAL DI 18. JULI 22:35 Wir sind mehr als die Summe unserer Gene. Umwelteinflüsse wie Ernährung, Traumata, Krankheit oder unser Lebensstil sind in der Lage, bestimmte Gene ein- oder auszuschalten. Wissenschafterinnen und Wissenschafter vergleichen diese neuen Erkenntnisse mit dem Bild eines Klaviers: Die Saiten und Tasten repräsentieren die Gene, aber erst das Anschlagen der Tasten bringt die Melodie des Lebens zum Erklingen. Damit stoßen die Erkenntnisse der Epigenetik ein lang gehegtes Dogma der Biologie um: die Idee, dass die Eigenschaften eines Organismus durch das vererbte Genmaterial unveränderbar bestimmt werden. religion.ORF.at Furche23_KW28.indd 1 03.07.23 14:43
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