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DIE FURCHE 13.06.2024

DIE

DIE FURCHE · 24 18 Theater 13. Juni 2024 Von Christine Ehardt Tim Etchells gilt als Theaterurgestein und Ausnahmekünstler. Gemeinsam mit seiner britischen Performancegruppe Forced Entertainment forscht er seit über 40 Jahren zu Wesen und Aufgabe des Theaters. Zwei seiner Arbeiten sind heuer in Wien zu sehen. Die minimalistische Schauspielgroteske „Die Rechnung“ tourt seit Beginn der Festwochen als Volksstück durch die Bezirke (und wird am Volkstheater auch noch im Herbst zu sehen sein) sowie das End- und Echtzeitspektakel „How goes the World“. „Theater ist brutal und magisch“ lautet Tim Etchells künstlerisches Credo. Ein Theaterverständnis, dem sich auch die diesjährigen Festwochen verschrieben haben, die im ersten Jahr der Intendanz von Milo Rau thematisch nah an den Brennpunkten der Gegenwart sind, sich aber zugleich verspielt und experimentierfreudig zeigen. Am äußersten Rand des verspielten Endes ist das Minidrama „Die Rechnung“ (uraufgeführt 2023 beim Festival d’Avignon) angesiedelt. Etchells geht von einer einfachen Ausgangsthese aus, die sich im Verlauf des Abends aber zusehends verkompliziert: Theater basiert auf der Vorstellungskraft seiner Zuschauer. Um diese These zu überprüfen, braucht Etchells nur einen Tisch mit Tischtuch, Stühle, Gläser und eine leere Weinflasche FEDERSPIEL Natürliche Intelligenz Ich liebe diese Bücher, in denen steht, wie man einen Roman schreibt. In einem davon las ich die Anweisung: „Beschreiben Sie keine Sonnenaufgänge!“ Ja, weiß der Autor denn nicht, dass Verbote dazu verführen, sie zu brechen? Ich habe mich daher entschlossen, einen Roman zu schreiben, der ausschließlich aus Beschreibungen von Sonnenaufgängen besteht – vielleicht aufgelockert durch ein paar Sonnenuntergänge. Etwas zu beschreiben, gehört sprachlich zu einer der schwierigsten Aufgaben. Thomas Bernhard hat es gleich bleiben lassen, wie er in der berühmten Interviewpassage erklärt hat, in der er die Beschreibung eines Orangenbaums persifliert. Beschreibungen verführen dazu, einen reichen Wortschatz zu verwenden und damit doch gar nichts zum Ausdruck zu bringen. Den Gipfel des so entstehenden Nonsens erreichen Beschreibungen von Weinen und Pop-Musik-Rezensionen. „Komplexe Struktur und weicher Körper mit guter Stoffigkeit.“ Was soll das sein? Solche Beschreibungen sind so sinnlos, dass hier die In zwei Produktionen der Wiener Festwochen zeigt der Regisseur und Performer Tim Etchells, wie sich die Lust am Theater neu entdecken lässt. Bühne des Möglichen Immergleich und doch anders: Frank Genser und Christoph Schüchner beeindrucken in abwechselnden Rollen in „Die Rechnung“. KI vielleicht doch sinnvoll zum Einsatz kommen könnte; nicht nur, indem sie diese Texte verfasst, sondern indem sie sie auch lesen muss. Immer wieder versuche ich, mich über aktuelle Popmusik zu informieren und vielleicht einmal etwas zu entdecken, das ich möglicherweise hören möchte. Dann lese ich über ein neues Album: „Metallisch düster flirren säurehaltige Beats zu tänzelnden Ambient-House- Klangstrukturen.“ Ich weiß gar nicht, ob hier Musik oder nicht doch ein Wein beschrieben wird. Dann lieber doch zwei, drei Gläser von der „frisch strukturierten Note, im Glas explosiv“. Zur Explosion kam es nicht. Dafür fiel mir das Aufstehen am nächsten Tag schwerer. Das allerdings stand nicht in der Beschreibung des genossenen Weins. Für diese Feststellung brauchen wir die NI – die Natürliche Intelligenz. Der Autor ist Schriftsteller. Von Daniel Wisser „ Etchells lässt wie immer alle Interpretationsmöglichkeiten offen und präsentiert zwei furiose Stücke voller Witz und Ironie. “ Foto: Nurith Wagner Strauss sowie zwei Schauspieler. Die wenden sich gleich zu Beginn in guter alter Volksstücktradition ans Publikum, um die nachfolgende Geschichte zu erläutern. Ein Gast sitzt im Restaurant und bestellt Wein, der Ober schenkt ein und das Glas läuft über. Dass sich daraus ein fast anderthalbstündiges Kleinod entwickeln kann, ist dem komödiantischen Geschick der beiden Volkstheaterschauspieler Frank Genser und Christoph Schüchner zu verdanken, die mit grandiosen Slapstickeinlagen und in beeindruckendem Tempo die immergleiche Szene in abwechselnden Rollen abspulen. Die Aufführung erinnert an endlose Computerspiele, bei denen das nächste Level einfach nicht zu erreichen ist, man es aber trotzdem immer und immer wieder versucht. An anderer Stelle wird die endlose Wiederholung zur klimapolitischen Metapher: Warum machen wir weiter, obwohl wir wissen, dass es schiefgehen wird? Wer sich auf diese Irrfahrt zwischen Imagination und Realität einlässt, kann einen höchst vergnüglichen Theaterbesuch verbringen, für den Rest ist es die reine Qual, das zeigten die begeisterten und entnervten Kommentare der Zuschauerinnen und Zuschauer während und nach der Vorstellung. Die offene Rechnung, soviel sei noch verraten, wird am Ende jedenfalls bezahlt. Hamsterrad des Lebens? Komplexer, aber strukturell ähnlich, verfährt Etchells in seiner zweiten Produktion, die er gemeinsam mit Forced Entertainment kreierte. In einer absurd tragischen Endlosschleife aus Redundanzen und Irritationen gehen vier Performer (fantastisch: Aurélie Alessandroni, Neil Callaghan, Aurélie Lannoy und John Rowley) der Frage nach: „Was wäre, wenn die Bühne von all den Dingen heimgesucht würde, die auf ihr jemals passiert sind?“ „How goes the World“ (der Titel spielt auf ein Zitat aus Shakespeares „Macbeth“ an) ist der fünfte Teil von Milo Raus „Histoire(s) du Théâtre- Serie“, die seit 2018 am NTGent entwickelt wird. Im heurigen Festwochenprogramm war daraus bereits Angélica Liddells bildgewaltige Performance „Liebestod“ zu sehen. Etchells legt seine Arbeit weniger blutig, doch nicht weniger grausam an. Das Schauspielerquartett wird von Geräuschen aus dem Off dirigiert, die als Stichwortbringer zahllose Handlungen anstoßen und denen es scheinbar ferngesteuert gehorchen muss. Zwischen Telefonklingeln, Türklopfen, Hundegebell und Kindergeschrei hin- und hergerissen, laufen und stolpern sie über die Bühne, dazwischen fallen unentwegt Schüsse, ein Bühnentod folgt dem anderen. Die gesamte Theatergeschichte mit all ihren dramatischen Höhepunkten läuft im Zeitraffer ab und verdichtet sich zu einer rasanten Choreografie, die völlig chaotisch wirkt und doch in absoluter Präzision verfährt. Oder sind hier doch nur vier Gefangene im Hamsterrad des Lebens zu sehen? Etchells lässt wie immer alle Interpretationsmöglichkeiten offen und präsentiert zwei furiose Stücke voller Witz und Ironie, die einem die Lust am Theater wieder neu entdecken lassen. Die Rechnung Spielorte in Wien, 15., 19., 21.6. WN185_furche.qxp_Layout 1 28.05.24 16:40 Seite 1 WESPENNEST 186 NO FUTURE Die Ängste der 1980er galten «Umwelt» und «Atom», heute heißt die Vorsilbe «Klima». Während frühere Dekaden mit dem Slogan «No Future» reagierten, tragen heutige Bewegungen «for Future» im Namen. Was hat sich geändert an der Haltung zur Zukunft? Erhältlich im gut sortierten Buchhandel oder direkt: Wespennest, Rembrandtstr. 31/4, 1020 Wien T: +43-1-332.66.91, email: office@wespennest.at Testen Sie die Ausgabe «Verzicht» (Nr. 181) oder «Zufall» (Nr. 182) zum halben Preis oder entscheiden Sie sich für ein Abonnement zum Preis von 42,- € für 4 Hefte (2-Jahres-Abo). Als Abobeigabe stehen attraktive Buchgeschenke zur Auswahl. www.wespennest.at

DIE FURCHE · 24 13. Juni 2024 Literatur 19 Ein schmaler Band und ein gewichtiges Thema, das erst entdeckt werden muss: Die irische Schriftstellerin Claire Keegan erzählt in „Reichlich spät“ alltägliche Formen der Misogynie. Die Wurzeln des Übels Von Brigitte Schwens-Harrant Viel passiert nicht, an jenem Freitag, dem 29. Juli, an dem der Buchhalter Cathal im Dubliner Büro sitzt und aus dem Fenster schaut. Das Wetter ist so wie vorhergesagt, nämlich prächtig, die Sonne scheint. Doch die Zeit mag an diesem Tag nicht so recht vergehen, und Cathal ist mit seinen Gedanken offenbar woanders, denn die Budgetverteilungsdatei schließt er, noch bevor er sie gespeichert hat. Die Kollegin hört auf ins Handy zu lachen, als sie ihn beim Kaffeeautomaten trifft, der Chef bietet ihm freundlich an, er könne heute gerne früher gehen. Doch Cathal schreibt erst noch copy and paste ein paar abschlägige Antworten auf Bewerbungen. Dann steigt er in den Bus und fährt in sein Haus aufs Land. Dort wartet Post auf ihn, ein welker Blumenstraß vor der Tür, kein frisches Essen im Kühlschrank – und eine Katze, die er (versehentlich?) im Badezimmer eingesperrt hat. Viel passiert nicht, in Claire Keegans Erzählung „Reichlich spät“, jedenfalls nicht in der Gegenwart. Das meiste spielt sich in Cathals Erinnerungen ab. Im Bus und allein im Haus denkt er daran, wie er Sabine kennengelernt hat, wie sie bei ihm eingezogen ist, wie sie beschlossen haben zu heiraten – und wie daraus dann doch nichts geworden ist. Es ist ein trauriger Tag für Cathal, denn es wäre der Tag der Hochzeit gewesen. Eine simple Liebesgeschichte also, mit keinem Happy End? Nein, Keegan führt in dieser kurzen, in der deutschen Übersetzung gerade nur 55 Seiten langen Prosa in andere Schichten des Geschehens und des menschlichen Miteinanders. Von harmlos bis unerträglich Der Blick, der hier eingenommen wird, ist jener des Mannes. Was Sabine denkt und fühlt, bleibt daher unerzählt, außer sie spricht es aus. Cathal, ein Durchschnittstyp, fällt nicht weiter auf; er erscheint auf den ersten Seiten langweilig und mit ihm auch die Geschichte, und man fragt sich lesend: Worauf will Claire Keegan eigentlich hinaus? Die irische Schriftstellerin, bekannt als Meisterin des reduzierten Erzählens, weiß, wann sie wie Informationen verteilt. Die Sichtweise dieses Mannes soll erst nach und nach als unerträgliche und gar nicht harmlose entlarvt werden. Und zwar ohne Die vielfach ausgezeichnete Autorin Claire Keegan, geboren 1968, wuchs in der irischen Grafschaft Wicklow auf. dass je eine Erzählinstanz eingreifen müsste, erklärend, urteilend oder denunzierend. Nein, die Aufgabe des Erkennens müssen die Lesenden selbst übernehmen. Je mehr erzählt wird, desto fragwürdiger wird Cathals Sichtweise auf die Dinge und vor allem auf die Frau, die er zu lieben meint. Es sind Alltäglichkeiten und Kleinigkeiten – etwa das Erstaunen darüber, wie viel Geld sie leichthändig ausgibt beim Einkaufen –, die Schritt für Schritt ein sehr kleingeistiges Gemüt offenbaren. Dieses ist aber nicht auf den Umgang mit Finanzen beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf den Bereich der Emotionen. Und es ist mehr als Kleingeist. Sichtbar werden vielmehr in Cathals Denken und Sprechen Formen der Abwertung, und zwar solche, die womöglich dort wie da noch so alltäglich sind, dass sie kaum auffallen. Sie zeigen sich in der Art, wie Cathal Sabine fragt und argumentiert, ob sie heiraten sollen, sie steigern sich in der Weise, wie er kommentiert, was sie alles mitbringt, als sie bei ihm einzieht: „dieses ganze Zeug“. Viel passiert nicht, in dieser schmalen Erzählung, und doch etwas, was sich auch gesellschaftlich ungeheuer auswirkt. Nach und nach wird Cathals Haltung erkennbar, sie ist das Thema dieser Erzählung, die im Französischen denn auch mit diesem Titel erschien: Misogynie. Frauenfeindlichkeit und Frauenhass beginnen bei den hier erzählten „Harmlosigkeiten“, sie grundieren das Miteinander im privaten Kreis der Familie ebenso wie in der Gesellschaft. Sie setzen klare Machtstrukturen voraus, wissen, wer was zu sagen, wer sich wie zu benehmen hat – und sie fallen dann nicht auf und werden als harmlos beurteilt, wenn sie gesellschaftlich (noch) üblich sind. Claire Keegan hat in der Erzählung „Kleine Dinge wie diese“, die sie den „Frauen und Kindern gewidmet [hat], die in irischen Mutter-Kind-Heimen und in Magdalenen- Wäschereien gelebt und gelitten haben“, die ungeheuerlichen und grausamen Auswirkungen menschenverachtender Einstellungen erzählt. Hier beleuchtet sie anhand „Claire Keegan: ‚Kleine Dinge wie diese‘ - eine irische Weihnachtsgeschichte“ von Brigitte Schwens-Harrant, 23.11.2022, furche.at. „ Frauenfeindlichkeit und Frauenhass beginnen bei den hier erzählten ‚Harmlosigkeiten‘, sie grundieren das Miteinander im privaten Kreis der Familie ebenso wie in der Gesellschaft. “ Foto: Getty Images / David Levenson eines völlig durchschnittlichen Menschenlebens die Wurzeln des Übels. Einstellungen, Haltungen und Verhaltensmuster wie diese werden erzogen und weitergegeben, von einer Tradition zur nächsten, und dem den Champagner nun alleine trinkenden Cathal kommt denn auch eine Erinnerung in den Sinn, als er und sein Bruder zuhause mit dem Vater bei Tisch saßen. Ein schlechter Scherz „Seine Mutter stand am Gasherd und machte Buttermilchpfannkuchen, die sie in der Pfanne wendete. Sein Vater saß am Kopfende des Tisches, er selbst und sein Bruder an den Seiten. Beide, damals in den Zwanzigern und Studenten, waren übers Wochenende mit ihrer Schmutzwäsche nach Hause gekommen. Seine Mutter hatte sie bedient, ihnen die Teller an den Tisch gebracht, und sie hatten zu essen begonnen. Als sie sich mit ihrem eigenen Teller hinsetzen wollte, hatte sein Bruder plötzlich den Stuhl unter ihr weggezogen – und sie war rücklings auf den Boden gefallen. Zu diesem Zeitpunkt musste sie an die sechzig gewesen sein, da sie spät geheiratet hatte, aber sein Vater hatte nur gelacht – alle drei hatten sie herzlich gelacht und auch dann noch gelacht, als sie die Pfannkuchen und die Scherben vom Boden las.“ Man könnte aus einer solchen Erinnerung lernen. Und Cathal? „Falls ein Teil von ihm sich fragen wollte, wie er sich wohl entwickelt hätte, wäre sein Vater ein anderer Typ Mann gewesen und hätte nicht gelacht, so unterdrückte Cathal den Gedanken. Er sagte sich, dass der Vorfall nichts zu bedeuten habe, dass es nur ein schlechter Scherz gewesen sei.“ DIE FURCHE EMPFIEHLT Reichlich spät Erzählung von Claire Keegan Aus dem Engl. von Hans-Christian Oeser Steidl 2024 64 S., geb., € 16,50 WELT.NATUR.ERBE Das diesjährige Festival La Gacilly-Baden Photo zeigt von 13. Juni bis 13. Oktober 2024 die Arbeiten von Meistern der Umweltfotografie. Bereits zum siebten Mal kann bei freien Eintritt diese beeindruckende „Open-Air-Galerie“ in Baden und Badener Parks auf insgesamt sieben Kilometern Länge begangen werden. La Gacilly-Baden Photo www.festival.lagacilly-baden.photo GANZ DICHT VON SEMIER INSAYIF Dichtungsmechanik & poetische Randvermessungen „in wörterbüchern / wunschlos suchendes blättern / blätter fallen ab / im lexikon leben / in wörterbüchern / wunschlos suchendes blättern / blätter fallen ab“. So das erste Triplegedicht der Nummer 2 aus dem Gedichtband „Memogramme“ von Herbert J. Wimmer. „144 Tankatripels“ lautet der Untertitel und abgesehen von diesem klangintensiven Kompositum, werden wir also mit der reimlosen japanischen Gedichtform des Tanka konfrontiert. Es ist eine circa 1300 Jahre alte Kurzgedichtform in fünf Verszeilen bestehend aus 5-7- 5-7-7 Silben, genauer aus 31 Moren. Wimmers Gedichte weichen allerdings davon ab und behaupten ihre eigenen Gesetze. Es sind jeweils 7-zeilige Gedichte, alle in Kleinbuchstaben und ohne Interpunktion in Tripleanordnung notiert. Soll heißen 3 x7 Verszeilen, wobei jedes Gedicht um eine „Mittelachse“ organisiert scheint, die vierte Verszeile, sie bleibt bei allen Triplegedichten ident und stellt eine Art Spiegel- oder Rotationsachse dar. Im dritten Triplegedicht gruppieren sich jeweils drei Verszeilen vom ersten Triplegedicht und drei vom zweiten Triplegedicht um die gleichbleibende Mittelachse. So entsteht eine sprachintensive Kontemplation poetischer Wiederholungsvariationen, die mit Motivverwebungen von Natur, Sprache, Augenblicksbeobachtungen, Neologismen und ausgewiesenen Kafkazitaten als Gesamtwerk eine unheimliche Dichtungsdynamik erzeugt. Durch sprachspielerische Momente wird zusätzlich eine ironisch lustvolle Ebene hörbar, was insgesamt die hypnotische Wirkung noch verstärkt. „am äußersten rand von“, lautet der Titel des noch unveröffentlichten Manuskriptes von Evelyn Bubich. Und dies weist schon darauf hin, dass das Phänomen und der Begriff „Rand“ im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Da heißt es im Gedicht mit dem Titel „uhrwerk“: „deine haut verträgt nicht / was mein wind in seinen fingern hält“. Die Haut also Rand einer Existenz, als Motiv einer äußersten Grenze. Die Gedichte von Evelyn Bubich, die ungebunden, in freien Rhythmen, beinahe völlig interpunktionslos und ausschließlich in Kleinbuchstaben notiert sind, entwickeln an manchen Stellen mittels ungewöhnlicher Bilder assoziative Verschiebungen wie „ein stück noch / schreist du / und dein gebiss rutscht aus dem anker“. Einige Gedichte gelangen tastend bis an die Wahrnehmungsgrenzen oder Wahrnehmungsränder von Erfahrungsräumen, um diese in poetischer Haltung und mit sprachlichen Mitteln zu reflektieren. Mit ihrer akustischen Organisation von Assonanzen, Wiederholungen, End- und Binnenreimen entsteht ein ganz spezifischer Sog und Sound, zum Beispiel hörbar in den ersten Verszeilen des Gedichtes „fließen“: „fließen / flinkern / die lichter / wie gestern / gesichter / die lässt man / außen vor“. Motive wie Vergänglichkeit, Zeit und Liebe generieren einen offenen Untersuchungsraum für die lyrischen Bewegungen unter anderem auch auf der Suche nach Identität: „ich bin, inzwischen, / die fasern meiner vorgänge / die umrisse meiner abgrenzungen“. „ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (nächstes: 20.6.2024) Lyrik vor. Memogramme Gedichte Von Herbert J. Wimmer Edition Melos 2023 168 S., geb., € 24,–

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