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DIE FURCHE 13.06.2024

DIE

DIE FURCHE · 24 14 Diskurs 13. Juni 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Die Poesie darf in den Schulen nicht verdorren Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast „ Wir sind alle königlichen Geblüts und tragen als Symbol dafür die unsichtbare Krone, federleicht – wie auf den Bildern der Künstlerin Koni Oberhauser. “ Am vergangenen Wochenende war ich wieder einmal in dem Ort, wo mein Elternhaus steht. Leider hat es für ein längeres Herumspazieren in meiner Kindheit zu viel geregnet. Aber für einige Schlüsselorte hat es gereicht. Etwa für die inzwischen großzügig ausgebaute Volksschule (zu meiner Schulzeit war an der alten Fassade noch zu lesen: Kaiser Franz Joseph Jubiläums- Volksschule). Die Schule hat einmal so ausgeschaut, wie eben alle Schulen und Bahnhöfe damals, vor 150 Jahren. Hier also hat vor nicht ganz 80 Jahren mein sogenannter Bildungsweg begonnen. Und zwar unter den Fittichen einer herzenswarmen Lehrerin mit dem schönen Vornamen Helene. Heute bestaune ich ein seltsames Kunstwerk an der neuen Fassade: Ein Kind mit goldenem Ball und ein anderes mit blumenblauem Kleid und Katze spielen und träumen vor sich hin. Neben ihnen balancieren ein drittes Kind auf dem Rücken eines Großen (Erwachsenen?) und darauf wieder ein Kind, das kleinste, das sich nach der aus 127 Keramikmedaillons leuchtenden Sonne ausstreckt. Ich interpretiere: Licht. Bildung. Die Kinder tragen alle ganz zarte Kronen, nur angedeutet. Das, so habe ich gehört, hätte im Ort Befremden ausgelöst. Der Anlass für meinen Besuch war eine Ausstellung im Gemeindesaal, zu der ich sprechen sollte. Eben mit Bildern der Künstlerin, die auch die Schulwand bemalt hat. Auch in der Ausstellung tragen alle Kinder auf den Bildern Kronen. Und darüber habe ich gesprochen. Etwa so: Die Krone auf den Köpfen der Kinder steht für die Würde des Menschen. Habe ich gesagt. Und die Forderung nach Achtung diese Würde steht in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, als Artikel 1. Sie ist unantastbar. Heißt: Wir sind alle königlichen Geblüts und tragen als Symbol dafür die unsichtbare Krone, federleicht – wie in den Bildern der Künstlerin Koni Oberhauser. Das schreibt sie auf ihrer Homepage: „Meine Königskinder sind sehr wandlungsfähig. Sie schlüpfen in vielerlei Gestalten, sind Frau, Mann, Kind, Baum, Stein, Tier ….. Sind wir bereit für neue Wahrnehmungen? Oder trotten wir, brav und ungeprüft, die alten Wege?“ Bei Koni kann ich wieder in die Schule gehen. Lernziel: Achtung der Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Einer Würde, die zart berührt werden darf, umarmt, geküsst. Der auf dem Balanceakt des jungen Lebens geholfen werden darf. Oft habe ich schon über Bilder geredet. Eigentlich will ich es nicht mehr. Bilder haben ja selber einen Mund. Entweder sie teilen sich mit und sagen selber, was sie sagen wollen. Oder eben nicht. Gescheit über Kunst daherreden bringt nichts. Ganz und gar nichts in der abstrakten Sprache sogenannter Experten. Trotzdem. Über Konis Bildersprache rede ich gerne. Man braucht sie nicht bedeutungsschwanger zu analysieren, denn sie ist nicht schwer zu verstehen: Zärtlichkeit, Leichtigkeit, Geborgenheit. Wenn solche Bilder doch nicht nur an Schulfassaden sichtbar wären, sondern spürbar im Inneren der Schulen! Damit die Blaue Blume der Poesie in den Schulen nicht verdorrt! Die Gefahr ist zu groß! Zum Schluss noch eine Frage an Sie, liebe Frau Hirzberger: Machen Sie sich Sorgen um Europa? Ich schon. Herzliche Grüße, KOMMENTAR Trendprognose statt Hochrechnung: Ausgehöhltes Ritual „ Wo keine bunten Balken hochschießen, da kein Interesse des Publikums an Politik? Muss Demokratie ‚Infotainment‘ sein? “ Der Wahlsonntag ist der höchste Feiertag der säkularen Zivilreligion namens Demokratie. Und wie einen kirchlichen Feiertag, zeichnen auch den Wahlsonntag Rituale und Traditionen aus – nicht zuletzt gemeinschaftlich zelebrierte. Sein Höhepunkt ist zweifellos die erste Hochrechnung, die um 17 Uhr über die Fernsehbildschirme flimmert. Ein langer Wahlkampf ist geschlagen, unzählige Was-wäre-wenn-Szenarien wurden durchgespielt, viele Fragen aufgeworfen. Millionen schalten ein, wenn in ORF und Co parteifarbige Balken Antworten liefern. Doch das 17-Uhr-Ritual wurde am vergangenen EU-Wahlsonntag nur dem Schein nach zelebriert. Statt der üblichen Hochrechnung präsentierte Susanne Höggerl im ORF eine „Trendprognose“. Weißbrot statt Hostie. Die „Trendprognose“ ist eine repräsentative Umfrage, die die drei Institute Foresight, ARGE Wahlen und Hajek für ORF, APA und Puls24 zwischen Dienstag und Freitag vergangener Woche durchführten – also vor der Wahl. 3600 Wahlberechtigte wurden befragt, das ist immerhin deutlich mehr als die bei Umfragen üblichen 800 bis 1000 Teilnehmer. Eine Exit-Poll, also Nachwahlbefragung, wie in anderen Ländern üblich, ist diese Umfrage nicht. Warum dem Publikum um 17 Uhr eine Umfrage statt einer „normalen“ Hochrechnung präsentiert wurde? Das hängt zum einen mit dem EU-Recht und zum anderen mit der aufgehobenen Bundespräsidentenwahl von 2016 zusammen. Sie erinnern sich: Zwischen Norbert Hofer und Alexander Van der Bellen lagen in der Stichwahl nur einige tausend Stimmen, die FPÖ hat die Wahl angefochten. Unter anderem, weil erste Teil-Ergebnisse der Wahl schon an Medien weitergeleitet worden waren, bevor um 17 Uhr das letzte Wahllokal geschlossen hat. Bis 2016 war das gängige Praxis in Österreich. Basierend auf den im Laufe des Wahltags übermittelten Daten, konnte der ORF schon pünktlich um 17 Uhr eine Hochrechnung zeigen. Seit der Wiederholung der Bundespräsidentenwahl veröffentlicht das Innenministerium erst um Punkt 17 Uhr Ergebnisse der ersten ausgezählten Wahlsprengel. Erst dann können sich die Hochrechner an die Arbeit machen – und zehn Minuten später wird in heimischen Wohnzimmern und auf den Wahlpartys gejubelt oder gegrübelt. Bei EU-Wahlen kommt nun erschwerend hinzu, dass das Innenministerium die Stimmenstatistiken seit 2019 erst um 23 Uhr an die Medien weiterleitet – wenn die letzten Wahllokale in Europa, nämlich die italienischen, ihre Pforten schließen. So will es das EU- Recht. Wie konnte dann bis 2014 auch bei EU-Wahlen schon um 17 Uhr hochgerechnet werden? Bis dahin gab es hierzulande eine typisch österreichische Lösung: Das Innenministerium veröffentlichte zwar erst um 23 Uhr offizielle Ergebnisse, übermittelte aber schon davor Teilergebnisse an ORF und Co, die damit eine klassische Hochrechnung erstellten. 2019 und vergangenen Sonntag mussten die Sender nun auf besagte „Trendprognose“ zurückgreifen. Mit der Konsequenz, dass ab 17 Uhr stundenlang Fernseh- und Onlinejournalismus auf Basis einer Umfrage gemacht wurde. Noch vor 23 Uhr wurden im ORF die Reaktionen der Spitzenkandidaten und eine „Runde der Chefredakteure“ gesendet. Reagiert wurde auf ein vermeintliches Ergebnis, das den Abstand zwischen FPÖ, ÖVP und SPÖ größer erscheinen ließ, als er letztendlich war. Zwischen Platz eins und drei lagen zuerst vier Prozentpunkte, tatsächlich waren es dann nur 2,2. Die Dynamik am Wahlabend wäre wohl eine andere geworden, wäre der knappe Dreikampf nicht lange als blauer Erdrutsch verkauft worden. Zur Verteidigung der Trendprognose muss angemerkt werden: Das Endergebnis lag klar innerhalb der angegebenen Schwankungsbreite von 2,5 Prozentpunkten. Und freilich, eine Schwankungsbreite haben auch „echte“ erste Hochrechnungen. Sie liegt bei einem Auszählungsgrad von 40 Prozent meist bei etwa 1,5 Prozentpunkten. Auch da sind noch Verschiebungen möglich. Demokratie als Spektakel Es bleibt die medienethische und demokratiepolitische Frage: Sollen Medien mit ihrer Berichterstattung auf belastbare Daten warten? Erst um 23 Uhr auf Sendung gehen? Erst am nächsten Morgen Meinungsstücke in den Onlineausgaben der Zeitungen veröffentlichen? Müssen wir am 17-Uhr-Ritual zwanghaft festhalten, auch wenn es nur Show ist? Demokratie als Spektakel. Wo keine bunten Balken hochschießen, da kein Interesse des Publikums an der Politik? Lassen sich die Zuseherinnen und Leser nur noch mit Infotainment für Demokratie begeistern? Man muss nicht so schwarz sehen. Dass es nach wie vor breites Interesse am Wahlergebnis gibt, ist ein gutes Zeichen für die Demokratie. Dass die Zuseherzahl um 23 Uhr niedriger wäre als um 17 Uhr, beweist keine Politikverdrossenheit, sondern intakten Biorhythmus. Der ORF hat den Unterschied von Trendprognose und Hochrechnung deutlich erklärt. Und es bleibt die Zuversicht: Bei der Nationalratswahl im September wird das Hochrechnungsritual wieder mit Leben erfüllt. (Philipp Axmann) Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (CvD), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Mag. Till Schönwälder, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. Anzeigen: Georg Klausinger +43 664 88140777; georg.klausinger@furche.at Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Art Copyright ©Bildrecht, Wien. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet. Bitte sammeln Sie Altpapier für das Recycling. Produziert nach den Richtlinien des Österreichischen Umweltzeichens, Druck Styria, UW-NR. 1417

DIE FURCHE · 24 13. Juni 2024 Diskurs 15 Die wichtigsten Pflöcke des EU-Transformationskatalogs sind zwar eingeschlagen, seine Weiterentwicklung zur Sicherung des „Industriestandorts Europa“ steht aber noch bevor. Ein Gastkommentar. Droht dem Green Deal jetzt das Aus? Versucht man, aus den Botschaften des EU-Wahlkampfes jene herauszudestillieren, die als tatsächliche Impulse für die Zukunft der Union gelten können, so sticht die schlichte Forderung nach „Abbau der bürokratischen Fesseln für Unternehmen“ hervor. Besonders unter Druck gerieten dabei jene Elemente des European Green Deal, die Unternehmen verpflichten, Kenndaten zu den sozialen sowie den Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen (ESG) zu erheben. Diese einzelnen Elemente sind kommunizierende Gefäße und teilen sich die entscheidende Zielsetzung: Jene Daten, die Betriebe in Hinkunft zusätzlich zu den etablierten Wirtschaftskennzahlen dokumentieren werden (gemäß der „Corporate Sustainable Reporting Directive“), dienen zugleich als Informationsbasis für Investitionen (Stichworte: „Taxonomie“ und „Sustainable Finance Disclosure Regulation“) und auch als Belege entlang der Lieferkette. Die gleiche Basis soll zudem der Absicherungen von Argumenten in der ESG- Kommunikation dienen, um Greenwashing zu unterbinden und gleichzeitig die Compliance mit einer ganzen Reihe von Elementen des Umweltrechts sicherzustellen. Für all diese Instrumente gilt: Sie sind in geltendes Europäisches Recht gegossen und bilden das Daten gewordene Rückgrat der Transformation. Zwei Drittel des Deals sind schon in Geltung Diese Teile des Green Deal erfordern zwar – vor allem bei schlecht vorbereiteten Unternehmen – Anstrengungen, waren aber lange in Verhandlung und stehen (so wie mehr als zwei Drittel des Green Deal insgesamt) bereits in Geltung. Was sie aber vor allem unantastbar macht, ist ihre unbestrittene Bedeutung für die Transformation hin zu einer klimaneutralen Kreislaufwirtschaft. Die wenigen Vorhaben, die bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt wurden oder gar nicht umgesetzt werden können (Stichwort „Renaturierung“ und „Pestizidreduktion“), sind zwar nicht unwichtig, ändern aber an der eingeschlagenen Richtung nicht wirklich etwas. Aber was ist nun von den Signalen zu halten, den Green Deal um einen Deal for the European Industry zu ergänzen – wie aus Brüssel zu vernehmen ist? Foto: BMLFUW Zum Hintergrund: Die Europäische Kommission beauftragte zwei ehemalige italienische Regierungschefs, orientierende, stragetische Untersuchungen vorzunehmen. Der Bericht Enrico Lettas zur Zukunft des Binnenmarkts („So viel mehr als ein Markt“) liegt seit Kurzem vor, jener Mario Draghis zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit soll in Kürze folgen. Die Kernbotschaften in Lettas sehr klar formuliertem Argumentarium sind erstens: Die Mitgliedsstaaten (nicht etwa die Union!) sollten sich doch bitte endlich dazu bequemen, auf ihre Sonderwege bei der Umsetzung von EU- Recht zu verzichten. Denn diese Extratouren DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Thomas Jakl „ Das Bekenntnis zur Klimaneutralität wird nicht ins Fadenkreuz geraten. Doch man fordert mehr Effektivität. “ sind es, die die Verkehrsfreiheit von Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital heute einengen. Und die zweite Kernbotschaft ist Lettas Forderung nach einer fünften Kernfreiheit: Jener des Austausches von Forschung, Innovation und Bildung. Hier die Grenzen (auf allen Ebenen) durchlässiger zu gestalten, würde viel an schlummerndem oder eingeengtem Potenzial Europas entfesseln. Gespannt darf man auf Mario Draghis Bericht sein. Wie letzte Woche informell von der Europäischen Kommission zu erfahren war, misst man seitens der Behörde beiden Reports extrem hohes Gewicht zu, die Leitlinien für die nächste Funktionsperiode der Kommission zu bestimmen. Draghi wird – so viel kann vorausgeahnt werden – mehr Effektivität und Effizienz bei der Umsetzung von EU-Recht einmahnen, und das wird die Regularien im Dienste des Gesundheits- und Umweltschutzes nicht aussparen. Aber auch hier wird die vermehrte Harmonisierung und erhöhte Treffsicherheit im Fokus stehen. Weder das Bekenntnis zur Klimaneutralität noch das – EU–vertraglich abgesicherte – hohe Schutzniveau für Mensch und Umwelt werden ins Fadenkreuz geraten. Draghis Bericht muss aber auch eine europäische Antwort auf Joe Bidens Inflation Reduction Act vorzeichnen, wenn es um die Stärkung des Industriestandorts „Europa“ gehen soll. „REPowerEU“ mit Hebelwirkung Es ist zu hoffen, dass durch diese Weiterentwicklung des Green Deal mit Fokus auf Stärkung der Industrie auch der Rückenwind, den die Initiative „REPowerEU“ geschaffen hat, wieder entfacht wird. Umgesetzt durch nationale Ausformungen, hat die Union im Sommer 2020 „REPowerEU“ als Kernstück von „Next Generation EU“, dem 806,9 Milliarden Euro schweren Post-Covid-Wiederaufbauinstrument, auf den Weg gebracht. Österreich ruft fast vier Milliarden aus diesem Programm ab. Wichtige Vorhaben zur niederschwelligen Stärkung des Gesundheitssystems („Community Nurses“, Primärversorgungszentren) oder Kernelemente zur Forcierung der Kreislaufwirtschaft („Reparaturbonus“) wurden dadurch auf den Weg gebracht. Bezeichnend ist jedenfalls, dass hier ein Instrument der Europäischen Union eine entscheidende Hebelwirkung für Schlüsselelemente wichtiger gesellschaftlicher Entwicklungen entfaltet hat. Dass dies in erster Linie ein Verdienst der europäischen Institutionen ist, hätte übrigens gerade im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament im öffentlichen Bewusstsein ankommen – und von den Beteiligten explizit betont und nicht bestenfalls in einer Fußnote versteckt werden sollen. Der Autor ist Biologe und Erdwissenschafter. Er war Vorsitzender des Verwaltungsrates der EU-Chemikalienagentur und ist in nat. und internat. Institutionen des Umweltschutzes tätig. ZUGESPITZT Alles Gute für die Wahl! Angesagte Katastrophen finden manchmal statt, aber nicht immer. Nach dem Schlamassel rund um Lena Schilling schien etwa ein grünes Desaster bei der EU-Wahl vorprogrammiert. Dass es am Ende nicht ganz so übel kam, war dem bisherigen No-Name Thomas Waitz zu verdanken – nach grüner Lesart zwar ein alter, weißer Mann, aber immerhin ein Profi, der sich mit demonstrativer Uneitelkeit als alternativer Kandidat für frustrierte Stammwähler anbot. Mehr als 74.000 Vorzugsstimmen konnte er ergattern. Kurz drohte zwar der nächste Kommunikations-Super-GAU, als Kogler und Co die Delegationsleitung gleichsam aus launige Ausschnapspartie zwischen Waitz und Schilling beschrieben („ist eine akademische Diskussion“). Aber am Ende siegte dann doch der politische Überlebenstrieb. Wann und wohin sich dieser bei der SPÖ verflüchtigt hat, müssen indes Psychologen klären. Als einzige Oppositionspartei heimste die Sozialdemokratie unter Andreas Babler ein Minus ein, die übliche „Stimmt der Kurs?“-Debatte folgte auf dem Fuß. Ebenso der obligate Kommentar vom burgenländischen Balkon. „In diesem Sinne: Alles Gute für die Nationalratswahl!“, richtete Doskozil seinen Genossen aus. Klingt nach entspanntem Sommer. Doris Helmberger PORTRÄTIERT Der späte Abgang des besonnenen Generals Es hätte ein Paukenschlag werden sollen. Doch am Ende musste auch dieser kurzfristig verschoben werden: Wegen der dramatischen Befreiung von vier Geiseln – darunter die 26-jährige Noa Argamani, deren auf Video gebannte Verschleppung vom Supernova-Festival am 7. Oktober weltweit für Entsetzen gesorgt hatte –, gab Israels Oppositionsführer Benny Gantz erst einen Tag später, nämlich Sonntagabend, seinen Rückzug aus Israels Kriegskabinett bekannt. Erschöpft und frustriert von den ständigen Ränkespielen des machtbesessenen Premierministers Benjamin Netanjahu. Nach dem Terrorüberfall der Hamas war er diesem aus Verantwortung für Israel zur Seite gesprungen – gemeinsam mit Verteidigungsminister Joaw Gallant. Doch Netanjahu hatte ihm schließlich keine andere Wahl gelassen. Zu offensichtlich wurde, wie Gantz am Ende nur noch als Feigenblatt missbraucht wurde. Drei Wochen lang hatte er Netanjahu Zeit gegeben, um auf seinen Fünf-Punkte-Katalog zu reagieren. Die – durchwegs vernünftigen – Forderungen reichten von einem Geisel- Deal über die Nachkriegsordnung für Gaza bis hin zu einer langfristigen Lösung des Nahost-Konflikts durch die von Washington betriebene Annäherung an Saudi- Arabien. Doch Israels Regierungschef hatte sich damit nicht eine Minute ernsthaft beschäftigt. Damit ließ er dem sonst oft wankelmütigen Gantz keine andere Wahl, als zurückzutreten. Mit dem 65-jährigen Sohn einer Holocaust-Überlebenden tritt nun freilich der letzte Besonnene ab. Inmitten all des Chaos hatte der General und einstige Präsident der Knesset bei vielen Israelis Vertrauen geweckt. Bald wiesen ihn die Umfragen als den beliebtesten Politiker im Land aus, während Netanjahu abstürzte. Auch nach außen galt Gantz als Stimme der Mäßigung und der Vernunft. Im Weißen Haus wurde er als vertrauenswürdiger Ansprechpartner gschätzt, während Joe Biden den opportunistischen Netanjahu lieber auf Distanz hielt. Nun wird der Einfluss der Extremisten um Polizeiminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich weiter wachsen – und die Regierung noch unberechenbarer als bisher. Ob er sein Ziel erreicht, in einem breiten – auch zivilgesellschaftlichen – Bündnis Netanjahu bei Neuwahlen zu stürzen, wird sich zeigen. Der Überlebenskünstler Netanjahu wird nicht zögern, Gantz als Verräter zu brandmarken, der das Land mitten im Krieg gespalten habe. (Doris Helmberger) Foto: APA / AFP / Jack Guez Oppositionsführer Benny Gantz, von 2020 bis 2022 Verteidigungsminister, hat das nach dem 7. Oktober gebildete israelische Kriegskabinett verlassen.

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