DIE FURCHE · 24 10 Gesellschaft 13. Juni 2024 Von Magdalena Schwarz weiß genau, warum meine Eltern sich scheiden haben lassen: weil ich zu viele Wurstsemmeln „Ich gegessen hab.“ Das gestand ein Kind der Soziologin Ulrike Zartler, die an der Universität Wien die Folgen von Trennungen erforscht. Die Wurstsemmel-Beichte mag amüsant klingen, hat aber einen ernsten Hintergrund. „In den Köpfen der Kinder entstehen teilweise sehr genaue Vorstellungen davon, was sie falsch gemacht haben“, erklärt Zartler. „Das sind Schuldgefühle, die viele Jahre bestehen können.“ Solche Langzeitfolgen wollten Julia* und ihr Ex-Mann Max* vermeiden. Die Wiener Eltern von zwei Söhnen trennten sich 2023, nach zwölf Ehejahren. Tobias* war damals neun Jahre alt, Simon* sechs. Knapp ein halbes Jahr lang nahm die Familie das Angebot des Vereins RAINBOWS in Anspruch, der Kinder und Jugendliche bei Trennung, Scheidung oder dem Tod von Bezugspersonen unterstützt. „Bei RAINBOWS haben unsere Söhne Methoden erlernt, um mit Trauer, Wut und anderen Gefühlen umzugehen“, erzählt die Mittvierzigerin Julia. „Es ist so viel besser, sie jetzt im Trennungsprozess zu unterstützen, als dass sie dann, wenn sie 30 sind, in Therapie gehen müssen.“ Damit benennt die Mutter eine Angst, die viele betroffene Eltern umtreibt: Schadet unsere Trennung unserem Kind langfristig? Nicht zwingend, sagen Expertinnen und Experten. Darf ich auf Mama wütend sein? Kinder können gestärkt aus Scheidungen hervorgehen, ist Romi Leonhardt, Psychologin und Leiterin von RAINBOWS Wien, überzeugt. Im ersten Moment zerbreche natürlich ihr Familienbild. Fast alle würden sich ihre Ursprungsfamilie zurückwünschen. Doch Initiativen wie RAINBOWS eröffnen den Raum, Gefühle auszudrücken und zu verarbeiten. Dann kann das elterliche Beziehungsende Kinder durchaus resilienter machen. Laut Soziologin Zartler kämpfen Scheidungskinder mit drei Themen: Schuldgefühle, Loyalitätskonflikte und die Hoffnung auf Versöhnung der Eltern. „Sie schreiben sich oft selbst die Schuld an einer Scheidung zu, weil sie sich nicht wie gewünscht verhalten haben oder weil sie viel Fürsorge benötigen und dadurch den Eltern Stress verursachen. Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern klar kommunizieren: Du bist nicht schuld an der Trennung“, sagt die Expertin. Auch Julia* sucht das- Gespräch mit ihren Kindern: „Aber der geschützte Raum bei RAINBOWS ist nochmal anders, weil sie dort frei sprechen können – ohne die Angst, uns zu verletzen“. „Kinder sind Meister der Resilienz“, bekräftigt Leonhardt. Welche Vorteile hat die neue Situation? Was kann ich tun, wenn ich Angst kriege, traurig oder wütend bin? Diese Fragen werden mit den Kindern spielerisch bearbeitet. „Das Leben bringt immer neue Herausforderungen, und sie können auf diese Skills zurückgreifen“, so die Psychologin. Seit 1991 hat RAINBOWS österreichweit fast 40.000 Kinder und Jugendliche im Alter von vier bis 13 unterstützt. Heute gibt es von Vorarlberg bis Burgenland Standorte. Im Zentrum stehen Kleingruppen, für je vier bis sechs Teilnehmende, begleitet von einer Psychologin, Sozialarbeiterin oder Pädagogin. (Wie viele andere im Sozailbereich bemüht sich der Verein um mehr männliche Mitarbeiter.) RAINBOWS bietet keine Psychotherapie an. In den Gruppenstunden stehen Bewegung, Kreativität und Gespräche am Programm, die Kleinen malen, toben und Foto: Rainbows Lesen Sie auch das Gespräch mit Scheidungsanwältin Helen Klaar (12.6.13) auf furche.at, geführt von Doris Helmberger-Fleckl. Schadet eine Scheidung den Kindern? Nicht unbedingt, sagen Expertinnen und Experten. Initiativen wie RAINBOWS helfen Familien, gestärkt aus der Trennung hervorzugehen. Starke Scheidungskinder spielen. Die Amerikanerin Suzy Yehl, eine geschiedene Mutter von drei Söhnen, entwickelte das Konzept bereits 1983. Der Jesuitenpater Rudi Kutschera brachte die Idee Anfang der 90er von Chicago nach Wien. Eine RAINBOWS-Gruppe trifft sich insgesamt zwölf Mal. Jeder Termin hat einen eigenen Fokus und greift so die Fragen auf, mit denen die Kinder und Jugendlichen sonst häufig allein sind: Was sind „Alimente“? Darf ich auf Mama wütend sein? Ist meine Patchworkfamilie schlechter als die „heile“ Familie meiner besten Freundin? Darf ich die neue Freundin oder den neuen Freund von Papa liebhaben? Der Austausch mit Kindern, die sich in einer ähnlichen Familiensituation befinden, ist laut Leonhardt essenziell. „Es berührt uns, wenn sie miteinander offen über ihre „ Es berührt uns, wenn die Kinder sich einander öffnen. Sie geben sich Tipps, oder sagen einfach: Ich bin traurig. Du auch? “ Romi Leonhardt, RAINBOWS Gefühle sprechen, oft gerade während der Jause, wenn wir das Obst aufschneiden. Sie sagen zum Beispiel, dass es ihnen hilft, zum Papa ein T-Shirt von der Mama mitzunehmen. Und manchmal sagen sie: Ich finde das alles richtig scheiße. Du auch?“ Die Gruppe wirke auch entstigmatisierend, wie Julia erzählt: „In den Schulklassen meiner Söhne gibt es nur wenige, deren Eltern getrennt sind. Dank RAINBOWS begreifen sie: Ich bin nicht komisch oder anders.“ Die Mutter bemerkte auch schon früh positive Veränderungen im Miteinander zuhause. „Meine Burschen haben gelernt, dass wir Eltern es schon aushalten, wenn sie offen über ihre Gefühle sprechen.“ „Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir keine Gutachten schreiben. Alles, was in der Gruppe passiert, ist vertraulich“, sagt Leonhardt. Die Kinder könne man aber besser unterstützen, wenn man beide Elternteile erreicht. Eine getrennte Teilnahme an den begleitenden Elterngesprächen sei möglich, doch viele kommen gemeinsam. „Je mehr die Foto: Rainbows Romi Leonhardt leitet den Verein RAINBOWS Wien, der Kinder bei Trennung und Verlust unterstützt. Eltern an einem Strang ziehen, obwohl sie sich als Paar getrennt haben, umso besser funktioniert es“, sagt Leonhardt. Eine Herausforderung, denn viele Paare, die sich trennen, hätten gerade in der Kommunikation und bei Konfliktlösungsstrategien Defizite, so Zartler. Dabei ist die sogenannte Coparental Relationship, also die Beziehung zwischen den Eltern, laut Forschungsergebnissen entscheidend für die Folgen, die eine Trennung für Kinder hat. Plötzliche Wut auf Freundinnen und Freunde oder Geschwister aber auch Leistungsveränderungen in der Schule können Warnsignale dafür sein, dass das Kind dringend Unterstützung braucht. „Die Trennung fordert es. Es kann nicht in allen anderen Lebensbereichen weiterhin 100 Prozent geben“, erklärt Leonhardt. Ganz besondere Unterstützung bräuchten aber die überangepassten Kinder, die ihre Eltern durch ihr „gutes Verhalten“ beschützen wollen. „Manchmal gibt es auch einen Entwicklungsrückschritt, gerade bei Kleineren“, ergänzt Leonhardt. „Sie
DIE FURCHE · 24 13. Juni 2024 Gesellschaft 11 „ Nach einer Scheidung kämpfen Kinder mit drei Themen: Schuldgefühle, Loyalitätskonflikte und die Hoffnung auf eine Versöhnung der Eltern. “ Ulrike Zartler, Soziologin klammern oder haben Probleme mit Routinen, die zuvor bereits gut funktioniert haben. Sie gehen unbewusst zurück in eine Entwicklungsstufe, in der die Familie noch heil war.“ Die RAINBOWS-Leiterin wünscht sich, dass Familien sich möglichst früh Hilfe suchen. Sie berät auch Eltern, die beschlossen haben, sich zu trennen, und unsicher sind, wie sie die Botschaft überbringen sollen. Die meisten Erziehungsberechtigten wenden sich allerdings erst viel später an den Verein, und zwar wenn das Kind bereits Auffälligkeiten zeigt. Julia vermutet, dass einige betroffene Eltern sich vor einer „Pathologisierung“ fürchten. „Diese Ängste sind völlig unbegründet. Bei RAINBOWS wird gespielt, gesungen oder gebastelt, und zwischendurch entspannt geplaudert – und das alles unter professioneller Begleitung“, sagt die Mutter. „Meine Söhne sind mit einem glücklichen Gesicht von den Treffen nachhause gekommen.“ Foto: citronenrot Die Soziologin Ulrike Zartler forscht zu den Folgen von Trennung und Scheidung. Kinder sind keine Mini-Erwachsenen Wie sieht die Familiensituation nach einer Trennung im besten Fall aus? Kinder sollten wissen, dass sie beide Eltern weiterhin liebhaben dürfen, ohne dass der oder die andere traurig ist. Schön wäre es, wenn die Kinder freudig erzählen können, wenn sie von einem Elternteil zum anderen wechseln, sagt Leonhardt. Natürlich sei das schwer aushaltbar, wenn die Tochter berichtet, wie lustig es mit Papas neuer Partnerin oder neuem Partner war. Eltern dürfen auch vor ihren Kindern weinen oder traurig sein, aber nicht exzessiv: „Sie können Trauervorbilder sein: Schau mal, ich bin auch traurig, aber was mache ich, wenn ich traurig bin? Dann telefoniere ich mit einer Freundin oder mit einem Freund oder ich mache mir einen Kakao“, sagt Leonhardt. Bei Bedarf rät die Psychologin den Eltern, sich auch selbst professionelle Hilfe zu holen. Außerdem sollte der Nachwuchs wichtige Informationen, etwa zu den Sorgerechtsvereinbarungen, kindgerecht und so früh wie möglich erhalten. Ungewissheit mache Angst. Ist noch unklar, wo das Kind zukünftig wohnen wird, dann hilft Transparenz: Wenn wir uns entschieden haben, dann bist du die oder der Erste, die es erfährt! Der neue Tagesablauf solle vor allem Stabilität bieten. Wer putzt ab jetzt die Zähne? Wer holt dich ab? Auch eine freundliche Übergabe zwischen den Elternteilen sei hilfreich. Sollte diese nicht möglich sein, dann helfen Pufferzonen. Das heißt, dass *Name von der Redaktion geändert die Kinder über die Schule oder andere Personen übergeben werden. Eine Trennung verursacht Kränkungen. Die Kinder nicht in den Konflikt hineinzuziehen sei schwer, so Leonhardt. Manchmal würden die Kinder als Botschafter missbraucht. Sätze wie „Sag das doch der Mama“ seien deshalb unbedingt zu vermeiden. Haben Eltern unterschiedliche Perspektiven, was den Trennungsgrund betrifft, dann dürfen die Kinder das – kindgerecht – wissen. „Schau, der Papa sieht das so, die Mama sieht das so.“ Die Trennungsforscherin Zartler sagt: „Kinder brauchen keine Details über die Trennung, aber sie sollten ernst genommen werden in ihrem Recht darauf, Bescheid zu wissen.“ Es sei wichtig, rechtzeitig über bevorstehende Veränderungen zu informieren. „Aber Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, mit denen die Eltern ihre Partnerschaftsprobleme besprechen sollten“, betont Zartler. „Sobald die Trennung fix ist, sollte diese auch gelebt werden“, betont Leonhardt. Manche Eltern würden noch gemeinsam auf Urlaub fahren oder miteinander Weihnachten feiern – das kann Verwirrung schaffen. „Ein klarer Prozess ist für Kinder wichtig, nur so können sie alle Verlustgefühle zulassen und bewältigen. Sonst erleben sie eine emotionale Achterbahnfahrt: Der Urlaub war so schön, warum haben sich die Eltern überhaupt getrennt?“ „ Es ist so viel besser, sie jetzt im Trennungsprozess zu unterstützen, als dass sie mit 30 in Therapie gehen müssen, weil sie die Scheidung der Eltern nicht verarbeitet haben. “ Julia*, geschiedene Mutter Für die Ferien braucht es klare Regeln. Eltern können ihre Kinder miteinbeziehen, aber man solle sie nicht grundsätzlich entscheiden lassen, so Leonhardt. Fährt das Kind zum ersten Mal mit einem Elternteil weg, dann sollte die Reise nicht zu lange sein. Übergangsobjekte wie Papas T-Shirt oder ein Foto helfen gegen das Vermissen, und der Kontakt zum anderen Elternteil sollte stets möglich sein. Auch eine Postkarte oder ein Souvenir sind gute Ideen, sagt die Expertin. Eine gute Möglichkeit ist es auch, Freunde des Kindes oder Großeltern mitzunehmen, um zu zeigen: Familie kann so viel mehr sein. Wenn Julia RAINBOWS empfielt, hört sie ab und zu: Bei uns gibt es keine Probleme, wir kriegen das schon hin! Doch, das unterstreicht die Mutter: „Kein Mensch muss alles alleine schaffen.“ Wenn Eltern sich trennen Gratisbroschüre Von Ulrike Zartler und ihrem Team. Zum Download auf https://smile.univie. ac.at/downloads/ Primus 2024 Ehre, wem Ehre gebührt! Sie wollen zeigen, wie herausragend Ihr Unternehmen arbeitet? Dann bewerben Sie sich jetzt in einer unserer 5 Kategorien für den Primus Wirtschaftspreis der Kleinen Zeitung. Gemeinsam mit Ihnen möchten wir zeigen, was Wirtschaft in der Steiermark zu bieten hat. 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