DIE FURCHE · 15 18 Wissen 13. April 2023 Von Martin Tauss HUMAN SPIRITS Visionäre Sensibilität Eine Reise nach London regte mich kürzlich dazu an, in meiner Plattensammlung zu stöbern. Schließlich war ich schon als Jugendlicher auf die Insel gereist, um vor allem eines zu tun: Musik-Idolen nachzuspüren und Platten zu kaufen. Ich stieß auf ein weitgehend vergessenes Meisterwerk: „Third“, das dritte Album der britischen Band „Soft Machine“ von 1970. Was da zu hören ist, bringt mich auch heute noch zum Staunen. Eine Zeit, die eine dermaßen exzentrische und im besten Sinne verrückte Kunst hervorbringt, muss als kulturelle Blütezeit betrachtet werden. Das „Swinging London“ der späten 1960er Jahre erinnert daran, wie der freie Fluss der Kreativität das Leben beflügeln kann. „Manche glauben immer noch, dass der technische Fortschritt die Welt retten könnte. Dabei ist gegenüber der technischen Intelligenz das kulturelle Gedächtnis so unendlich viel reichhaltiger“, bemerkt Rainer M. Holm-Hadulla im Buch „Die kreative Bewältigung von Verzweiflung, Hass und Gewalt“. In Musik, Malerei oder Architektur verkörpere sich eine kulturelle Evolution, die wir dringend benötigen. Denn die kreative Verwandlung von Destruktivität erscheint „als einzige Chance, menschliches Zerstörungspotenzial zu bewältigen“. Der deutsche Psychiater und Psychoanalytiker beleuchtet das anhand vieler Fallbeispiele aus Kunst und Wissenschaft, von Mozart über Goethe bis Marie Curie. „ Ein tiefer traumatischer Riss macht Menschen anfällig für psychischen Schmerz, befähigt aber auch zu disruptiver Kreativität. “ Vor allem aber widmet er sich Ikonen der Popkultur, deren Lebensgeschichte verdeutlicht, wie die Transformation dunkler Anteile gelingen oder auch scheitern kann: Madonna, John Lennon, Amy Winehouse, Jim Morrison und Mick Jagger. So blickte etwa der Ex-Beatle Lennon auf eine schwierige Kindheit mit traumatischen Verlusterfahrungen zurück, die er künstlerisch (z. B. im Song „Mother“) sowie therapeutisch (mit Arthur Janovs Primärtherapie) zu bewältigen versuchte. Depression und Drogen sind ebenfalls oft prägend für Künstlerbiografien. Auch im Austropop finden sich Perlen der kreativen Bewältigung: Die düster-melancholischen Songs von Wolfgang Ambros sind dafür das beste Beispiel. Ein tiefer traumatischer Riss macht Menschen nicht nur anfällig, starken psychischen Schmerz zu erleben, sondern befähigt sie auch, „mit visionärer Sensibilität und disruptiver Kreativität durchs Leben zu gehen“ (Ansgar Rougemont). In den Worten des großen Songwriters Leonard Cohen: „In allem ist ein Riss – genau so kommt das Licht herein“. Die kreative Bewältigung von Verzweiflung, Hass und Gewalt Von Rainer Matthias Holm-Hadulla Psychosozial-Verlag 2023 124 S., kart., € 19,50 Foto: APA / AFP / Lionel Bonaventure Open AI wurde als Non-Profit-Organisation gegründet, um Künstliche Intelligenz in den Dienst der Menschheit zu stellen. Doch nachdem die Gründer merkten, dass sich mit solchen Sprachmodellen viel Geld verdienen lässt, bröckelt dieses Ideal. Der Geist aus der Flasche Von Adrian Lobe ChatGPT hat seit seiner Veröffentlichung im November 2022 eine steile Karriere hingelegt: Das Sprachmodell, das mit riesigen Datenmengen aus dem Internet trainiert wurde, hat Jus-Prüfungen an US-Universitäten bestanden, Reden von Abgeordneten verfasst und Bücher geschrieben. Kürzlich hat die Entwicklerorganisation Open AI das multimodale Nachfolgemodell GPT-4 vorgestellt, das mit 100 Billionen Parametern sechsmal so groß wie sein Vorgänger sein soll und auch Bilder verarbeiten kann. Und während sich die Fachwelt noch ungläubig die Augen reibt, wird schon über den Nachfolger GPT- 5 diskutiert, dessen Training im Dezember dieses Jahres abgeschlossen sein soll. Die Innovation schreitet so schnell voran, dass eine Reihe von Prominenten und KI-Experten, darunter Tesla-Gründer Elon Musk, der Historiker Yuval Harari sowie Apple-Gründer Steve Wozniak, in einem offenen Brief eine sechsmonatige Pause für „ Die Innovation ist so rasant, dass eine Reihe von Experten nun eine halbjährige Pause für die Entwicklung von KI-Systemen fordert. “ die Weiterentwicklung von KI-Systemen fordert. Die Unterzeichner äußern die Sorge, dass in einem KI-Wettrennen immer mächtigere Modelle entstehen, die selbst ihre Schöpfer nicht mehr verstehen und kontrollieren könnten. Die Geschichte von ChatGPT geht zurück ins Jahr 2015. Da lud der US-Investor Sam Altman zu einem privaten Dinner in das noble Rosewood Sand Hill in Menlo Park, nur ein paar Meilen vom Facebook-Hauptquartier entfernt. Das Luxushotel mit seiner zypressengesäumten Poolterrasse ist eine beliebte Location für junge Start-ups, die dort mächtigen Wagniskapitalfirmen ihre Ideen präsentieren. Altman ist ein Strippenzieher im Silicon Valley, er hat beste Beziehungen zu Geldgebern und den Ruf eines Mannes, der alles, was er anfasst, zu Gold macht. Er hat früh in Airbnb, Reddit und Pinterest investiert und es damit zum Multimillionär gebracht. Wenn so jemand zu einem Treffen lädt, sagt selbst ein vielgefragter Mann wie Elon Musk nicht ab. Und auch nicht die anderen, eher unbekannten Gäste: Ilya Sutskever, Entwickler bei Google Brain, und Greg Brockman, ein damals 26-jähriger MIT-Absolvent. Donald Trump hatte gerade seine Präsidentschaftskandidatur erklärt, aber im Silicon Valley sprach man über ein anderes Thema: „Deep Learning“. Die Forschungslabore von Google und Facebook hatten erste Erfolge auf dem Gebiet neuronaler Netze vermeldet, künstlicher Neuronen, die Nervenzellen im Gehirn imitieren. Auch der chinesische Suchmaschinenriese Baidu, der gerade einen Topforscher aus dem Valley abgeworben hatte, sorgte für Schlagzeilen. Also wollten die Herren in gediegener Atmosphäre mit Blick über die Hügel von Palo Alto die Potenziale dieser Technologie ausloten. Den Ehrgeiz gekitzelt Sprachbegabt Kürzlich wurde das Sprachmodell GPT- 4 vorgestellt, das mit 100 Billionen Parametern sechsmal so groß wie sein Vorgänger sein soll. Brockman, der Erfahrung beim Zahlungsdienstleister Stripe mitbrachte, hatte sich bereits eingefunden, doch die kleine Runde musste noch auf Musk warten, der rund eine Stunde später hineinschlurfte und, so erzählt es der Journalist Cade Metz in seinem Buch „Genius Makers“ (2021), „den Raum mit seinen ungewöhnlich breiten Schultern und seiner ebenso einnehmenden Persönlichkeit erfüllte“. Die Gäste wussten noch nicht so recht, was sie hier eigentlich sollten, aber Altman kitzelte ihren Ehrgeiz: Könnte man eine KI entwickeln, die Probleme wie Krankheiten oder den Klimawandel löst? Was sind die
DIE FURCHE · 15 13. April 2023 Wissen 19 „ Elon Musk hat ChatGPT öffentlich als ‚woke‘ kritisiert und ein Konkurrenzprojekt angekündigt. Insider sagen, er sei ‚wütend‘ über den Erfolg des Sprachmodells. “ Risiken der Technologie? Die Runde diskutierte bis spät in die Nacht. In den darauffolgenden Wochen telefonierte Brockman seine Kontakte ab und erstellte eine Liste von Forschern, die er zu einer Weinverkostung ins Napa Valley einlud. Bei Wein und Snacks reifte die Erkenntnis, ein eigenes Forschungslabor zu gründen: Open AI. Der Name war Programm: Künstliche Intelligenz sollte nicht das Spielzeug von ein paar Superreichen werden, sondern eine technische Errungenschaft, die der Allgemeinheit zur Verfügung steht – so wie Elektrizität oder Fernsehen. In Brockmans Apartment in San Francisco begann mit einer Handvoll Tech-Jüngern, darunter fünf ehemalige Google-Entwickler, die heilsgeschichtlich aufgeladene Mission einer humanitären KI, zu deren Spiritus Rector Sam Altman erkoren wurde. Schon damals trieb Musk die Sorge um, dass unbemerkt eine Superintelligenz entstehen könnte, die Amok läuft und Schaden an der Menschheit anrichtet. Das Magazin New Yorker schrieb, Open AI sei eine „strategisch-defensive Initiative“, um die Menschheit vor ihren eigenen Schöpfungen zu bewahren. Also eine Art von Frankenstein’scher Rückversicherung. Gespeist mit Millionen Dollar Risikokapital wuchs die Non-Profit-Organisation schnell und bezog Quartier im denkmalgeschützten Pioneer Building in San Francisco, wo sie sich eine Zeitlang die Büroflächen mit Musks Start-up Neuralink teilte, welches an Gehirnchips forscht. Dystopie und Utopie lagen also räumlich nahe beieinander. Anfangs werkelten die Softwareingenieure noch an Technikspielereien wie einem Roboterarm, der einen Zauberwürfel lösen konnte. Dann verabschiedete sich die Denkfabrik von ihren defensiven Zielen – und verlegte sich auf offensive Forschung. Konfliktbeladene Forschung Aufsehen erregte 2018 das Sprachmodell GPT-2, das die Entwickler von Open AI für so gefährlich hielten, dass sie es zunächst nicht veröffentlichten und unter Verschluss hielten. Zu groß war die Sorge, dass der Textgenerator von Meinungsmanipulateuren für die Verbreitung von Desinformationen und Propaganda missbraucht werden könnte. Zwar beteuerte man hinterher, dass GPT-2 keine PR-Aktion war, sondern ein abgewogenes Gedankenexperiment. Doch der Geist war damit aus der Flasche. Und plötzlich machte sich dieses ansteckende Gefühl breit, dass das Tool die „nächste große Sache“ sein könnte, wie man im Silicon Valley sagt: eine Innovation, mit der sich eine Menge Geld verdienen lässt. 2019 gründete Altman eine gewinnorientierte Tochtergesellschaft. Plötzlich ging es nicht mehr um die Weltrettung, sondern ums Geldverdienen. Der Softwareriese Microsoft investierte eine Milliarde Dollar in das Start-up. Einstige Weggefährten, die das Unternehmen verließen und ihr eigenes Forschungslabor gründeten, werfen Altman daher Verrat an den Idealen vor. KI-Sicherheit sei bloß ein „Feigenblatt für unternehmerische Belange“ gewesen, zitierte das Wirtschaftsmagazin Forbes einen ehemaligen Mitarbeiter. Elon Musk, der 2018 den Verwaltungsrat von Open AI verließ – offiziell wegen Interessenkonflikten mit der KI-Forschung seines Unternehmens Tesla, inoffiziell wegen eines gescheiterten Übernahmeversuchs –, hat ChatGPT öffentlich als „woke“ kritisiert und ein Konkurrenzprojekt angekündigt. Insider, die dem schillernden Tech-Milliardär nahestehen, sagen, er sei „wütend“ über den Erfolg des Sprachmodells. Zwar verdient Open AI noch kein Geld. CEO Altman bezeichnete die Ausgaben der Sprach-KI als „horrend“, die Betriebskosten sollen sich auf 100.000 Dollar pro Tag belaufen. Doch der Marktwert der Softwareschmiede wird auf 29 Milliarden Dollar taxiert. Um profitabel zu werden, hat Open AI ein Bezahlmodell seines Dialogsystems eingeführt: 20 Dollar im Monat kostet die Premiumversion des Nachfolgers GPT-4. Die Organisation, die KI in den Dienst der Menschheit stellen wollte, könnte davon am meisten profitieren. Foto: APA / AFP / Jason Redmond Sam Altman war Strippenzieher im Silicon Valley und ist heute CEO von Open AI. Dessen Marktwert wird auf 29 Milliarden Dollar geschätzt. Hauptsache, für den Kopf zahlt es sich aus. Vielen Dank für Ihren Abo-Beitrag! Gründliche Recherche kostet Zeit – und Geld. Mit professionell recherchierten Hintergründen und kritischen Artikeln ist qualitativer Journalismus eine wichtige Basis für die Meinungsvielfalt in unserer Demokratie. dubistwasduliest.at DU BIST, WAS DU LIEST.
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