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DIE FURCHE 13.04.2023

DIE

DIE FURCHE · 15 14 Literatur 13. April 2023 Jean-Philippe Toussaint Seit den 1980er Jahren veröffentlicht der in Brüssel geborene Schriftsteller (*1957) Romane und Drehbücher, die er selbst verfilmt. Neben seinem literarischen Schaffen und seiner Tätigkeit als Regisseur ist er auch als Fotograf aktiv. In dem Werk „Das Verschwinden der Landschaft“ des belgischen Autors Jean-Philippe Toussaint greifen Außenund Innenwelt zu vielen Deutungsmöglichkeiten ineinander. Die Versiegelung des Horizonts Foto: imago / Hans Lucas Von Ingeborg Waldinger Ein Mann sitzt einsam am Fenster einer Wohnung. An den Vorfall, der ihn ins Koma katapultiert hatte und nun an den Rollstuhl fesselt, fehlt ihm jede Erinnerung. Tagaus, tagein blickt er über das Kasino von Ostende hinweg, auf den Himmel, das Meer, den winterlich verwaisten Strand. Erstarrung drinnen, kaum Abwechslung draußen. Nur die Tageszeiten und Tiden, die Wolken und Möwen bringen etwas Bewegung ins Bild. Der Segen, diese Monotonie nicht erkannt zu haben, sollte den Mann noch reuen. Das Kasino wird aufgestockt, die Aussicht unumkehrbar versperrt. Der um sein Erinnerungsvermögen und seine verlorene Identität ringende Mann ist der namenlose Erzähler von Jean-Philippe Toussaints großartigem Text „Das Verschwinden der Landschaft“; die fein- „ Toussaint bedient sich eines deutungselastischen Raumsymbols. Fenster sind Schwellen ‒ und ein Medium der Wahrnehmung. “ sinnige Übersetzung ins Deutsche besorgte Joachim Unseld. Der belgische Schriftsteller und Regisseur hat die Erzählung als Einpersonenstück angelegt und gewissermaßen dem Schauspieler Denis Podalydès (Mitglied der Comédie-Française) auf den Leib geschrieben. Nach Wunsch von Toussaint sollte der Monolog zuerst im Pariser Théâtre des Bouffes du Nord aufgeführt und danach in seinem Hausverlag, den Éditions de Minuit, erscheinen; die Pandemie hat den Zeitplan umgekehrt. „Mein Fenster ist ein Gemälde“, sinniert der immobile Mann, dessen Biografie und Äußeres im Nebel bleiben wie mitunter auch die Landschaft. Irgendwann beginnt er, auf der „Leinwand von Ostende und auf dem flämischen Fundament asiatische Landschaften und japanische Städte zu entwerfen, die sich über den wirklichen Strand“ legen. Oder wären diese Visionen bloß „Erinnerungen an meine Bücher, insbesondere an den Roman, der in Tokio spielt und den ich vor einigen Jahren genau hier, in demselben Zimmer, vor diesem Fenster geschrieben habe“, fragt sich der Monologisierende – und schlüpft dabei in den Mantel des Autors. Tatsächlich hat Toussaint den Roman „Nackt“, den letzten Teil seiner Tetralogie „MMMM“, in Tokio verortet – und in Ostende geschrieben. Es finden sich noch viele autobiografische, selbstreferenzielle Splitter, etwa der Name Madeleine. So heißt Toussaints Ehefrau und auch jene des Erzählers. Oder der Hinweis, die Wohnung des Rekonvaleszenten liege „nicht auf dem Deich“, sondern in einer Seitenstraße. Auf dem Deich von Ostende nämlich lag die Wohnung von Toussaints Großvater. Darüber – oder auch über seine großen Vorbilder Beckett, Proust, Kafka und Dostojewski – spricht der Autor in seinem Essayband „Die Dringlichkeit und die Geduld“. Der Mann im Rollstuhl entpuppt sich als Opfer eines Bombenanschlags auf die Brüsseler Métro. Toussaint nennt das exakte Datum des Dramas und verankert die Fiktion so in der schaurigen Realität: Am 22. März 2016 forderte ein Terrorakt in Brüssels U-Bahn einen hohen Blutzoll. Plötzlich erinnert sich der tragische Held. Er war an jenem Tag in einem Café verabredet. Zuvor hatte er das chinesische Konsulat aufgesucht, um einen Visumsantrag zu stellen (Toussaint selbst war mehrmals in China). Auf dem Weg zum Treffpunkt kam es dann zu der Katastrophe, die sein „mentales Gebäude“ hinwegfegte. Die nun vor dem Fenster hochgezogene Betonwand bildet den absurden Schlusspunkt seiner existenziellen Krise, und er fragt sich, ob diese Wirklichkeit nicht bloß eine Fiktion sei, eine Metapher für seinen Tod. Toussaint bedient sich eines deutungselastischen Raumsymbols. Fenster sind Schwellen ‒ und ein Medium der Wahrnehmung. Sie gewähren Ein- und Ausblicke, verbinden Innen und Außen oder halten beide Welten auf Distanz. Im Extremfall als definitive Versiegelung des Horizonts. Das Verschwinden der Landschaft Roman von Jean-Philippe Toussaint Aus dem Französischen von Joachim Unseld Frankfurter Verlagsanstalt 2022 80 S., geb., € 16,50 LITERATUR „dieser verwehende Himmelsrand als Grenze“ Von Maria Renhardt Gesänge von Vogelhochzeiten und Königskindern, vom roten Männlein im Walde, von Sternen und vom Mond. Schon als kleines Kind kommt der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr über alte Kinderlieder mit dem Erzählen in Berührung. Sie haben sich als erste Geschichten tief in sein Gedächtnis gesenkt, weil vor dem gesprochenen Wort das gesungene war. Diese Erfahrung bestätigt sich auch später auf seinen unzähligen Reisen, ob in die Wüste, zu den Archipelen der Südsee oder ins Himalajagebiet. Über Generationen überlieferte Geschichten überdauern als Gesang. Im zwölften Band seiner Spielformen des Erzählens knüpft Ransmayr an diese jahrtausendealte Praxis an. Das Resultat ist ein wunderbar bibliophil gestalteter Gedichtband. Ein Kleinod mit zartblauem Aquarell auf dem Cover, das vom deutschen Maler Anselm Kiefer stammt, der diese Lyrik aufwendig und ausdrucksstark illustriert hat. Diese poetische Textsammlung mit dem Titel „Unter einem Zuckerhimmel“ eröffnet Ransmayr mit einer Reverenz an den mythischen Helden Odysseus. Wie der antike Held möchte das lyrische Ich nach Hause. Hier steckt es fest im Krankenhaus, bis der Arzt den Patienten nach der „letzten Prüfung“ des „Blutes“ endlich freigibt, bevor sich für ihn „ein Knäuel von Routen der Heimkehr“ auftut. Bildgewaltig schildert Ransmayr auch die Erfahrungen eines Bergsteigers in den „Nachrichten aus der Höhe“. Das Vordringen in Zonen jenseits der Vegetation und des Lebens, in die Welt des Eises und der Wolkenmeere, die einem irgendwann schier die Luft zu atmen rauben, gestaltet sich als räumliche und zeitliche Grenzüberschreitung – immer im Bewusstsein, dass auch das Leben auf dem Spiel steht. Der Weg in die Höhe führt in die Einsamkeit und lässt kleinste Ritzen in die Unendlichkeit zu, die zugleich ein Schaudern in sich bergen: „dieser verwehende Himmelsrand als Grenze / zwischen einem überschaubaren Diesseits / und einem in Schnee- oder Sturmwolken / verborgenen Jenseits. // Dieses Grauen, eine Angst, / die wohl damals wie heute / im Grunde dem Tod galt, / hatte ihn zugleich verstört / und angezogen …“ In minutiöser Genauigkeit zeichnet Ransmayr die Ambivalenz unterschiedlicher Grenzerfahrungen nach. Der von Schnee, Licht und wasserblauer Farbe funkelnde Berg wirft den Menschen zurück auf sein flüchtiges Sein. Denn hier hat nichts mehr „Bestand und Bedeutung, / was nicht selbst Stein ist“. Das titelgebende Gedicht hingegen kritisiert den gelassenen Umgang des Menschen mit dem Krieg: „Wir spielen / unter einem Zuckerhimmel / Krieg … und spielen / und spielen weiter“. Gewalt am Menschen und an der Natur wird gleichmütig hingenommen. Ränder, das Überschreiten von Linien, das Überwinden „betörender Leere“, die Natur, antike Spiegelbilder – all das sind Themen des Lebens, die dieser Lyrik Essenz geben. Ransmayrs Erfahrungen aus seinen Begegnungen mit fremden Kulturen und mit der mannigfaltigen Natur diffundieren osmotisch in seine Texte und verleihen ihnen eine ungewöhnliche, bemerkenswerte Tiefe. Unter einem Zuckerhimmel Balladen und Gedichte von Christoph Ransmayr Illustriert von Anselm Kiefer S. Fischer 2022 208 S., geb., € 59,70

DIE FURCHE · 15 13. April 2023 Literatur 15 Klug ausgewählt und bezaubernd illustriert versammelt Kathrin Wexberg in ihrem Buch „Immer mal wieder zum Himmel schauen“ Gebete für Kinder. Die Texte umfassen dabei nicht nur klassische Gebete, sondern auch solche, die ganz neu für diese Sammlung verfasst wurden. Für alle (kindlichen) Lebenslagen Von Heidi Lexe Das Buch der Psalmen ist sowohl Teil der hebräischen Bibel als auch der Weisheitsliteratur des Alten (oder Ersten) Testamentes. Biblisch abgebildet wird damit sowohl die poetische Form des Gebetes als auch dessen Sitz im (kultischen) Leben. Wenn Kathrin Wexberg in der von ihr herausgegebenen Anthologie also auch einer Neudichtung ausgewählter Psalmen Platz einräumt, streicht sie damit die mehrere Jahrtausende überspannende Bedeutung des Betens als anthropologische Konstante heraus (wie Adolf Holl es formuliert); und knüpft damit einen Brückenschlag ins literarische Heute. Immer mal wieder zum Himmel schauen meint daher nur scheinbar eine einzige Blickrichtung. Vielmehr werden ganz unterschiedliche Sichtweisen auf eine über Jahrtausende hin etablierte Textsorte aufgefächert: In Kapiteln, die Grundgebete, Psalmen oder Segenssprüche umfassen, wird der Fokus auf die kultur- und religionsgeschichtliche Bedeutung des Gebets gerichtet. Im deutlich umfassenderen ersten Teil der Anthologie jedoch zeigt sich das Gebet durch die akzentuierte Auswahl als poetische Form, in der Leben gleichermaßen wie Sprache verdichtet werden. Kathrin Wexberg schöpft dabei aus ihrer langjährigen Expertise im Bereich der (religiösen) Kinder- und Jugendliteratur und greift auf Beiträge lang etablierter Autorinnen und Autoren wie Lene Mayer-Skumanz, Georg Bydlinski und Heinz Janisch gleichermaßen zurück wie auf jüngere Stimmen. Die originären Beiträge von Lena Raubaum, Elisabeth Steinkellner oder Nils Mohl schreiben moderne Kinderlyrik neu in eine Texttradition ein, die durch ihre transzendentale Dimension (mit) bestimmt ist. auf mich schauen / auf dich schauen / auf einander schauen / in die Augen schauen / auf die Erde schauen / und immer wieder mal / zum Himmel schauen. Illustration: Michael Roher / Tyrolia Verlag „ Variantenreich werden Aspekte kindlichen Lebens und Erlebens aufgegriffen – und zeigen in ihrem Mit einander dennoch jenes dia logische Moment, das dem Gebet wesenhaft innewohnt. “ FEDERSPIEL Insel der Beleidigten Als ich ein Kind war, besuchte uns ein Verwandter, der an einer Pinnwand Erlagscheine sah, mit denen mein Vater Geld für Entwicklungshilfe spendete. Daraufhin kam es zum Disput, da der Besucher der Meinung war, Geld für Kinder in Äthiopien zu spenden, sei sinnlos. Schließlich stand er auf und verließ uns mit den Worten, er sei beleidigt, weil mein Vater ihm widersprochen habe. Dass eine andere Meinung eine Beleidigung sein soll, zeigt einen Mangel an Diskussionskultur und damit an demokratischer Kultur. Schlimmer noch, wenn es nicht um Meinungen geht, sondern um Tatsachen. Alle wissen, warum das Stück „Burgtheater“ der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek nicht aufgeführt wird. Eine Familie in diesem Land verhindert, dass die Wahrheit über eine ihrer Vorfahren, die antisemitische Propaganda für das NS-Regime machte, thematisiert wird. Ein anderes Beispiel: Als der Kultursender Arte eine kritische Dokumentation über die Kronen Zeitung Himmelsblick Das Buch besticht auch durch seine Ausstattung. In kleinen Szenen und Vignetten greift Michael Roher zentrale Motive auf, lenkt den Blick und unterstreicht auf charmante Art die Tonalität der Texte. Gott als zugewandtes Gegenüber Lena Raubaums „Wichtige Augenblicke“ zeigen prototypisch jene Grundstimmung, aus der he raus die Gebete für die Leserinnen und Leser arrangiert werden. Bereits deren Präsentation lässt jedem der Texte den entsprechenden Raum (nur einer Buchseite) und betont damit deren unterschiedliche Verortung im kindlichen Alltag. Variantenreich werden Aspekte kindlichen Lebens und Erlebens aufgegriffen – und zeigen in ihrem Miteinander dennoch jenes dialogische Moment, das dem Gebet wesenhaft innewohnt: Sowohl theologisch als auch literarisch wird das Gebet als Ausdruck des Glaubens, sprich als Antwort des Menschen auf eine individuelle gleichermaßen wie kollektive Gotteserfahrung, verstanden. Fernab einer betulich-hierarchischen Beziehung, wie sie dem Kindergebet über viele Jahrzehnte hin nicht unbekannt war, wird Gott aus unterschiedlichen Situationen und Stimmungslagen heraus als zugewandtes Gegenüber befragt, angerufen oder spürbar gemacht. Die Freude über das eigene Leben wird dabei ebenso zum Ausdruck gebracht wie das Staunen über die „Schöpfungsklänge“; die Stille erhält ebenso Bedeutung wie das lautstarke Lob; dem Weinen wird gleichermaßen Platz eingeräumt wie der Zuversicht. Und ganz aus einer kindlichen Haltung des Staunens heraus dürfen auch ganz verquere Überlegungen an Gott herangetragen werden: Kannst du mir erklären, / warum du das / Y / gemacht hast? Heinz Janisch zeigt mit seiner „Frage“, dass ein Gebet und ein mit Witz realisierter Kinderblick auf die Welt einander nicht ausschließen müssen. Gerade die emotionale Bandbreite der hier zusammengestellten Gebete zeigt jene Ernsthaftigkeit, mit der die Einübung in einer (Wunder-)Welt der Sprache erfolgt, die als buchstäbliche Einübung in jene Zeichen- und Symbolwelt verstanden werden kann, in die Schriftreligionen gestellt sind. Altes Genre in neuem Kleid Dass moderne Kinderlyrik eine zentrale Rolle in der Herausbildung literarischer Kompetenzen zu spielen vermag, wurde gerade in jüngster Zeit durch eine ausdifferenzierte Formenvielfalt bestätigt – in die sich nun auch das Kindergebet einfügt. Der innovative Charakter der Neubefragung eines scheinbar so altbackenen Genres zeigt sich dabei auch in der bezaubernden Ausstattung und Illustration: In kleinen Szenen und Vignetten greift Michael Roher zentrale Motive auf, lenkt den Blick und unterstreicht auf charmante Art die Tonalität der Texte. Der dicke, ölige Farbstift weist zurück auf ganz archaische bildnerische Ausdrucksformen, die durch feinlinige Akzentuierungen und digitale Farbbearbeitungen zu einer ganz und gar heutigen künstlerischen Ausdrucksweise modelliert werden. Und damit den gelungenen zeitlichen Brückenschlag der Texte auf umso erfrischendere Weise präsentieren. ausstrahlte, reagierte diese damit, dass sie das Programm dieses Senders nicht mehr abdruckte. Und wer erinnert sich nicht an die Beschlagnahmung von Thomas Bernhards „Holzfällen“ nach einer Ehrenbeleidigungsklage eines Komponisten? Diese verhalf dem Buch zu einem sensationellen Verkaufserfolg, und Ernst Jandl schrieb damals, man dürfe heute in der Kunst alles, außer Jesus Christus oder Gerhard Lampersberg beleidigen. Wir sind eine Insel der Beleidigten. Und damit liegen wir in einem heute globalen Trend. Menschen, die sich beleidigt fühlen, wenn man sie kritisiert oder ihnen unliebsame Dinge sagt, schießen geradezu aus dem Boden, und immer mehr gelingt es ihnen, Diskussionen zu verhindern. Das ist eine undemokratische Kultur. Jemandem, der sich von einer Darstellung beleidigt fühlt, ist zu entgegnen: „Ja, und?“ Der Autor ist Schriftsteller. Immer mal wieder zum Himmel schauen Gebete für Kinder Hg. von Kathrin Wexberg Mit Illustrationen von Michael Roher Tyrolia 2023, 128 S., geb., € 22,– Von Daniel Wisser

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