Aufrufe
vor 1 Woche

DIE FURCHE 13.03.2024

DIE FURCHE · 118

DIE FURCHE · 118 Politik/Philosophie13. März 2025Verderberder JugendDer griechischePhilosoph Sokrates(469-399 v.Chr.) mussteden tödlichenSchierlingsbechertrinken. Hier in derberühmten Darstellungvon Jacques-LouisDavid,gemalt 1787.Foto: www.metmuseum.org/collection/the-collection-online/search/436105Von Philipp AxmannWollen Sie einmalso richtig provozieren,ja sogarempören? Dannwagen Sie einkleines Experiment: Beim nächstenMal, wenn Sie in eine politischeDiskussion geraten – sei esmit Arbeitskolleginnen, Freundenoder der Familie – und egalob das Thema die neue Regierung,Donald Trump oder der Nahostkonfliktist, dann sagen Sie ganzeinfach: „Dazu habe ich keineMeinung.“Ich garantiere: Damit fallen Siemehr auf als alle anderen Mitdiskutanten.Und mit hoher Wahrscheinlichkeitverärgern, enttäuschenoder verwundern Sie damitalle Beteiligten (politisch) linksund rechts von Ihnen. Ja, Sie ärgernsie noch viel mehr, als hättenSie bloß die „falsche“ Meinunggeäußert. Für Menschen aufdem Holzweg haben wir im Zweifelnoch ein bisschen Sympathie –Stichwort: „Man muss die FPÖ-Wähler verstehen“ – aber garkeine Meinung? Das geht wirklichgar nicht.Ein Diskurs in sieben EmojisDabei ist es doch so: Bei den allermeistenThemen fehlt den allermeistenMenschen (auch Journalistinnenund Journalisten)ganz einfach das Fachwissen, umschnell ein fundiertes Urteil zufällen.Nach einem Fundament verlangtder Zeitgeist aber ohnehinnicht, er will stattdessen: Möglichstviel Meinung, und die ambesten ganz schnell. Sichtbarwird das vornehmlich auf SocialMedia: Der „Gefällt mir“-Knopfund die Kommentierfunktion ladendazu ein. Auf Facebook etwastehen neben dem klassischen„Like“ noch „Liebe“, „Umarmung“,„Haha“, „Wow“, „Traurig“ und „Wütend“als Reaktionen zur Verfügung.Sieben Emojis als maximaleDifferenziertheit des Diskurses.Geliked und kommentiert wirdfreilich auch von Leuten, die einPosting oder einen verlinktenArtikel nicht einmal (zur Gänze)gelesen haben.„ Die Logik und Sprache von‚Gut‘ und ‚Böse‘ schadet dempolitischen Diskurs noch mehr,als es die vermeintlich ‚Bösen‘können, wenn wir ihr Spielnicht mitspielen. “Lesen Sie auchdas Interviewmit KonradPaul Liessmann„Wir würdenSokrates heutesofort canceln“(19.9.24) auffurche.at.Heute hat jeder zu allem eine Meinung – und vertritt sie vehement. Warumsich mehr Bescheidenheit lohnen würde. Lob einer unzeitgemäßen Tugend.Auf Zweifeln stehtdie TodesstrafeAuf Social Media vertretene Unternehmen,darunter auch Medien,messen ihren Erfolg an derMenge des „Engagements“, alsoder Interaktionen mit ihrenInhalten. Wie viele Kommentarestehen unter einem Posting?Wie viele Daumen nach oben hates erhalten? Diese Zahlen werdenmit Erfolg gleichgesetzt. Qualität,Überlegtheit oder Originalität einesKommentars spielen keineRolle. Die kann man schließlichnicht messen. Auch finanziell lohnensich die Meinungen aus demSchnellkochtopf also.Unter den sieben zur Auswahlstehenden Reaktionen auf Facebookgibt es freilich kein Emojifür „Ich bin mir nicht sicher“. DerSatz ist aus der Mode gekommen.Das liegt auch am Geschäftsmodellder Medien: „Ich bin mir nichtsicher“ ist kein reißerischer Titel,verkauft keine Zeitung, wirdnicht geklickt. Zwischentöne findenunter lauter Crescendos keinGehör. Je lauter und schneller diepolitmediale Symphonie wird,desto weniger sind die zuhörendenOhren geschult, subtile Halbtöneüberhaupt noch zu hören.Und wo spielt die Musik? Beiden Lauten, bei den Zuspitzern,bei den Überzeichnern. Die vollerÜberzeugung rufen: „Ich habedie Wahrheit!“ Ganz still wirdes dagegen um die Zweifler, dieNachdenklichen.Konklave: Gewissheit als SündeWer ehrlich ist, muss freilichzugeben: So leicht verhält sichdie Sache mit der Wahrheit nicht.Nicht ohne Grund streiten Philosophenseit 3000 Jahren darüber,wie man zu ihr gelangt – falls dasüberhaupt möglich ist. Und: Fallses sie überhaupt gibt.Eine ähnliche Frage wird imOscar-gekrönten Film „Konklave“verhandelt. Der KardinalsdekanLawrence (Ralph Fiennes) mahntin einer Predigt seine Kardinalskollegen:„Gewissheit ist der erbittertsteFeind der Einheit. Gewissheitist der tödliche Feind derToleranz. Unser Glaube ist genauaus diesem Grund etwas Lebendiges,weil er Hand in Hand geht mitdem Zweifel. Gäbe es nur die Gewissheitund keinen Zweifel, sogäbe es kein Mysterium und folglichkeinen Grund für den Glauben.“Jedem Fundamentalismuswird damit eine Absage erteilt,Gewissheit wird zur Sünde, Offenheitund Zweifel zur Tugend.Was sich die Kardinäle für diePapstwahl vornehmen, würdeauch dem realen politischen Diskursnicht schaden. Auch für Politikerinnenund Politiker, Medienleuteund letztlich alleBürgerinnen und Bürger gilt: Probierenwir es wieder einmal mitetwas mehr Bescheidenheit imUrteilen, mit Respekt vor der Meinungdes politisch Andersdenkenden.Dafür spricht allein schon dieziemlich hohe Chance, dass auchLeute, deren Meinung wir nichtteilen, irgendetwas wissen, daswir selbst noch nicht wissen. Werstatt Argumente abzuwägen dieLeute, die die Argumente vortragen,in „gut“ und „böse“ einteilt,der verstellt sich selbst die klareSicht auf die Argumente.Doch Einspruch! Ist es nicht einefatale Ironie, wenn wir demütiganerkennen, dass Leute wieTrump oder Kickl mit manchemRecht haben, während genau dieseLeute so völlig befreit von jederDemut agieren und ohne jedenZweifel sprechen? Wenn mansich selbst zu den Vernünftigenzählt, ist Bescheidenheit im Urteilendann nicht ein taktischer Fehler,gibt man dann nicht im Tauziehenmit den „Falschen“ nach?Diese Argumentation hat etwasfür sich. Vielleicht (und hiermuss auch der Autor zweifeln) istein anderes Argument aber nochgewichtiger: Selbst wenn wir unsauf der „guten“ Seite wähnen,sollten wir die Größe aufbringen,vom Freund-Feind-Schema abzusehen.Die Logik und Sprache vonGut und Böse schadet dem politischenDiskurs langfristig nochmehr, als es die vermeintlich „Bösen“können, wenn wir ihr Spielnicht willig mitspielen.Sokrates’ nervige FragenEin bisschen mehr an den eigenenMeinungen zweifeln: Dafürist nicht nur Kardinal Lawrenceaus „Konklave“ ein Vorbild, sondernauch der antike PhilosophSokrates. Im fünften Jahrhundertvor Christus spazierte er über dieAgora, den Marktplatz von Athen,und unterhielt sich mit Politikernund anderen Leuten, die sichfür weise hielten. Indem er seinenGesprächspartnern immerneue Fragen stellte, offenbarte erschlussendlich die Widersprüchlichkeitihrer Meinungen. Sokrateshielt sich selbst für weiser alsseine Gesprächspartner. Dochnicht, weil er etwa so viel wusste,sondern weil er sich der Grenzenseines Wissens bewusst war: „Ichweiß, dass ich nicht weiß.“Dem Experiment vom Anfangdieses Textes muss ich nun aberden Beipackzettel anfügen: „Probierenauf eigene Gefahr“. Dennfür den letzten meinungslosenZweifler, Sokrates, ist die Geschichtenicht gut ausgegangen:Die Athener verurteilten ihn samtseinen nervigen Fragen und seinerintellektuellen Bescheidenheitzum Tode. Dem heutigenpolitischen Diskurs würdemehr Bescheidenheit trotzdemnicht schaden.

DIE FURCHE · 1113. März 2025Gesellschaft9Die Pflege des demenzkrankenVaters, die Suchenach einer vermisstenTochter, der Umgang mitdem unerfüllten Kinderwunsch:Wie leben Menschenmit „uneindeutigen“Verlusten? Teil zwei einerdreiteiligen Serie.Seit über sieben Jahren sucht Brigitta Scharingernach ihrer abgängigen Tochter Jenni. Über ein Lebenim freien Fall, den Glauben an das Gute und Gott.Wo ist ihreTochter?Von Magdalena Schwarzhängen inder Luft, alshätte jemand„Wir eine Bombegeworfen unddann auf die Stopp-Taste gedrückt“,sagt Brigitta Scharinger. „Es istwie eine Momentaufnahme in einemVideo: der Augenblick, kurzbevor das Schreckliche eintritt.“Die 69-jährige Niederösterreicherinist Mutter von drei Kindern.Eines davon hat sie seit dem 21.Jänner 2018 nicht mehr gesehen.An jenem Sonntag sind Jenniund ihr damaliger Freundbei Brigitta Scharinger in Hanfthalim Bezirk Mistelbach zu Besuch.Es ist eine vertraute Szenezwischen Eltern und Kindern, diegerade das heimische Nest verlassenhaben: Die Tochter Jennifer,sie ist Anfang 20, hat vorkurzem in Wien ihre erste eigeneWohnung bezogen. Aber eineihrer Jogginghosen vermutet sienoch im mütterlichen Kleiderschrank.Doch die Stimmung seimerkwürdig angespannt gewesenan diesem Tag, erzählt Scharinger.Jenni und ihr Partner verlassengemeinsam die Wohnung.Was passierte danach?Ein letztes SelfieDarüber können die Mutter sowiedie Ermittler nur anhand vonIndizien spekulieren. Jenni undihr Freund fahren zurück nachWien. Möglicherweise kommtes im Auto zu einer Diskussion –vielleicht, weil die Studentin amAbend ihre Schulfreundin treffenwill. Schlussendlich gehendie beiden jungen Frauen miteinanderaus, doch Jenni verpasstdie letzte U-Bahn. Sie bittet ihrenFreund, sie mit dem Auto abzuholen.Es gibt ein Selfie aus der Tiefgarage,das Jenni um 1.16 Uhr anihre Freundin schickt. Darunterdie Wörter „BIN SAVE“ – falsch geschrieben,mit „v“ statt „f“. DieserRechtschreibfehler wundert dieMutter, der würde ihrer Tochtereigentlich nicht passieren, denktsie. Es ist das letzte Lebenszeichen.Jenni hatte einige Tage frei, deshalbist ihr Arbeitgeber der Erste,der am 30. Jänner Alarm schlägt,als sie nicht erscheint.Es gibt Hinweise, dass Jennisich von ihrem Freund getrennthaben könnte, so ihre Mutter BrigittaScharinger. Seine Handydatenweisen darauf hin, dass ersich nach dem Verschwinden derStudentin im Bezirk Hollabrunnaufhielt. Außerdem hätten Spürhundein einem dortigen Waldgebietangeschlagen. Die Polizeilässt Bagger anrücken, TaucherFoto: iStock/Ralf GeitheAm 1. Mai 2024 waren 1523 Frauen und Männer im österreichischen Fahndungssystem (EKIS) als abgängig gespeichert, davon sind 508 Erwachsene und 1015 Minderjährige.der Spezialeinheit Cobra suchenim Stausee Ottenstein. Gefundenwird die Tochter nicht. Dannkommt der Winter – Kälte, Schnee,Monate vergehen. Im Frühlingschlagen die Hunde nicht mehran. Von Jenni keine Spur.Laut Kurier hat die Polizei dieErmittlungen wegen Freiheitsentziehunggegen den Freundnach 15 Monaten eingestellt. Esgibt keine Beweise dafür, dass eretwas mit Jennis Verschwindenzu tun hat. Die zuständige LandespolizeidirektionWien gibt aufFURCHE-Anfrage an, dass in demFall noch ermittelt werde, aberes keine neuen, öffentlichkeitsrelevantenInformationen gäbe.„Wir können nur mehr auf einWunder hoffen“, sagt Scharinger.Die Mutter als ErmittlerinWie geht ein Elternteil damitum, wenn das Kind von einem aufden anderen Tag einfach weg ist?Brigitta Scharinger wird zur Ermittlerin.Als Lehrerin sei sie esgewohnt, alles zu dokumentieren.Als der Freund laut ihr andeutet,dass Jenni verreist sei, beginntScharinger alle Zug- und Flugverbindungenzu checken. Dannerkundigt sie sich bei Obdachlosenunterkünftenund Frauenhäusern.Die Suche wird zum Lebensinhalt.Sie fährt immer wiederzum Wiener Westbahnhof,hängt Flugzettel auf.Als die Ermittler sich auf eineWaldgegend in Hollabrunnkonzentrieren, beginnt auch dieMutter die dortige Geologie zustudieren. Wo gibt es welche Bodenschichten?Wo kann Wasserabfließen? Welche Rolle spielendie Vegetation – der Sanddorn,die Erlen? Als die Polizei ihre Grabungeneinstellt, lässt die Familieprivat baggern. Es ist ein quälenderZustand des freien Falls, jenseitsjeder Gewissheit.Die amerikanische SchriftstellerinAnn Patchett bringt dieseGefühle in ihrem Roman „Stateof Wonder“ zu Papier: „Es gab keineneindeutigen Punkt des Verlusts.Er geschah immer und immerwieder auf tausend kleineArten, und die einzige Wahrheit,die es zu lernen gab, war, dassman sich nicht daran gewöhnenkonnte.“ Hoffen, bangen, beten.Seit sieben Jahren geht das so.„Bei anderen Trauerfällen wird esmit den Jahren leichter. Bei Jenni„ Bei anderenTrauerfällen wirdes mit den Jahrenleichter. Bei Jenniist das nicht so. Eswird immer ärger.“Brigitta Scharingerist das nicht so. Es wird immer ärger“,sagt Scharinger.Die amerikanische Professorinfür Ehe- und FamilientherapiePauline Boss nennt diese spezielleForm von Verlusten Ambiguousloss. Wenn ein nahestehenderMensch verstirbt, dann setztfrüher oder später ein Verarbeitungsprozessein. Rituale gebenOrientierung, auch dem Umfeld.Der Bruder bringt Essen vorbei,die Schulfreundin schreibt eineKondolenzkarte, eine Nachbarinstellt Blumen ans Grab.Doch diese „uneindeutigenVerluste“, wie Boss sie nennt –etwa, wenn Menschen spurlosverschwinden – verlaufen anders.Lesen Siedie anderenGeschichtenin „AmbiguousLoss: Wie lebenMenschen mit‚uneindeutigen‘Verlusten?“ auffurche.at.„Es kommt zu einer verlängerten,eingefrorenen Trauer“, erklärtdie Therapeutin im Gespräch mitder FURCHE. „Man kann nichtwirklich trauern, weil man sichschuldig fühlt, wenn man es tut.“Und so steckt man fest. „Es ist eineSpirale, die ständig Energiefrisst“, sagt Brigitta Scharinger.Sie wendet sich an den Verein„Österreich findet euch“, der die Angehörigenvon abgängigen Menschennach einer Vermisstenanzeigebei der Polizei unterstützt.Etwa durch die Verbreitung relevanterInformationen in der Öffentlichkeitund durch rechtlicheBeratung. Der VereinsvorsitzendeChristian Mader war Kriminalbeamterund leitete die WienerAbgängigenfahndung. Er hat unzähligeFälle untersucht und späterFamilien begleitet.In diesem Feld der Polizeiarbeitsei man „sehr nahe am Menschen“,erklärt Mader. Denn umzu ergründen, warum jemandverschwunden sein könnte, mussdas Ermittlungsteam eng mit denAngehörigen zusammenarbeiten.Er und sein Team helfen undFORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023