DIE FURCHE · 1118 Literatur13. März 2025FORTSETZUNG VON SEITE 10„Jeder Leser weiß, dass Jim irgendwannohne Erklärung abgewiesenwird; dass keine dauerhafteerwachsene Bruderschaftentstehen wird“, schrieb einstToni Morrison. „Dieser erwartbareVerlust könnte Twain dazugeführt haben, Jim übertriebendarzustellen. So vorhersehbarund verbreitet die grobe Stereotypisierungvon Schwarzen inder Literatur des neunzehntenJahrhunderts auch war, scheintJims Porträt hier dennoch unerklärlichübertrieben und grell inseinen Widersprüchen – wie einschlecht gemachtes Clownkostüm,das den Mann darin nichtverbergen kann.“In Everetts Roman „James“zieht Jim sich das Clownkostümselbst und absichtlich an. Deutlichwird dies schon in einer Szeneam Anfang, die es lohnt vergleichendmit jener zu lesen, dieTwain aus der Sicht Hucks geschriebenhat: „Diese weißenJungs, Huck und Tom, beobachtetenmich. Sie spielten immer irgendeinPhantasiespiel, in demich entweder ein Schurke oder einOpfer war, auf jeden Fall aber ihrSpielzeug. Sie hüpften da draußenbei den Sandflöhen, Moskitosund anderen stechenden Biesternherum, kamen mir aber kein bisschennäher. Es lohnt sich immer,Weißen zu geben, was sie wollen,deshalb trat ich in den Garten undrief in die Nacht hinaus:‚Wersndas da draußnim Dunkeln?‘“Hatte Mark Twain versucht, dieDialekte zu studieren und sie imRoman so genau wie möglich wiederzugeben,zeigt sich die „Sklavensprache“bei „James“ als Kostümierung,als Schutz. DennJim ist gebildet und belesen, beherrschtdas Englisch der Weißendurchaus, spielt den Analphabetenund spricht nur dann in falscherGrammatik, wenn Weißeihn hören. Er bringt auch seinemKind bei, so zu sprechen, wie Weißees von ihm erwarten.James hat sich einen Stift organisiert,beginnt zu schreiben undlegt seinen Sklavennamen ab: Dieandere Perspektive erlaubt, diebekannte Geschichte nicht nuranders zu erzählen, sondern sieauch mit „Abenteuern“ zu erweitern,die James erlebt. Er trifft etwaauf eine Minstrel-Truppe, dieeinen Tenor braucht. Der SchwarzeJim, der vorgeben muss, einWeißer zu sein (sonst würde er gejagt),malt sich wie die Leute derTruppe schwarz an. „Die neuesteMode ist, dass Weiße sich schminkenund sich zu ihrer Unterhaltungüber uns lustig machen.“Auswirkungen auf Sklavenhalter„Die Bedeutung von Huck Finnliegt darin, dass die Sklavereizum ersten Mal nicht Gegenstandeines Protestromans ist“, sagteEverett in einem Interview. „Esist ein aufrichtiger und legitimerVersuch, die Auswirkungen derSamuel Langhorne Clemens alias Mark Twain, geboren am 30. November1835 in Missouri, gestorben am 21. April 1910 in Connecticut.Foto: Wikipedia (Public Domain)Sklaverei nicht nur auf die Versklavten,sondern auch auf dieSklavenhalter zu verstehen. Huckbeschäftigt sich mit einem amerikanischenTrauma, das bis heuteanhält. Es gibt kein amerikanischesKunstwerk, das sich nichtin irgendeiner Weise mit dieserkünstlichen Konstruktion auseinandersetzenmuss, die wir racenennen.“Für Toni Morrison war „HuckleberryFinn“ untrennbar verbundenmit den Diskussionen, dieder Roman auslöste, er war dieAuseinandersetzung. „Seit hundertJahren wird die Auseinandersetzung,die dieser Roman ist,identifiziert, wieder identifiziert,untersucht, geführt und vorangetrieben.Was er nicht sein kann,wird abgetan. Es ist klassischeLiteratur, was bedeutet, dass siesich erhebt, manifestiert und bestehenbleibt.“Viele Fragen und Kritiken, dieTwains Werk aufgeworfen hat,scheint Everett in den Roman eingearbeitetzu haben. So wird etwaauch auf James (!) Baldwinund seinen wichtigen antirassistischenText „The Fire NextTime“ angespielt. Auch EverettsRoman wird über Jahrzehnte Literatur-und Kulturwissenschaftlerdamit beschäftigen, aufzuspüren,was alles in den Text gewebt ist.Auch „James“ ist die Auseinandersetzung,die er beschreibt undbewirken wird, und Everett setztdamit im umfassenden Sinn dasKunstwerk fort, das Samuel LanghorneClemens 140 Jahre zuvorbegonnen hat.Im Dunkeln spielenWeiße Perspektiven undliterarische ImaginationVon Toni Morrison. Übers. von Barbaravon Bechtolsheim und HelgaPfetsch. Überarb. und aktualisiertvon Mirjam Nuenning. Rowohlt2023. 144 S., geb., € 14,40BelovedRoman von Toni MorrisonÜbersetzt von Tanja HandelsMit einem Nachwort vonBernardine EvaristoRowohlt 2024448 S., geb., € 28,80JamesRoman von Percival EverettÜbersetzt von Nikolaus StinglHanser 2024336 S., geb., € 26,80DIE FURCHE EMPFIEHLT40 JahreMit großen Konzerten feiert das Festival 2025das 40-Jahr-Jubiläum des Orchesters WienerAkademie. Die Festivalsaison in Bad Ischlwird im Mai eröffnet, mit einem Konzert ausWerken von Georg Friedrich Händel.KIRCH’KLANG Festival SalzkammergutInfos: www.kirchklang.atMAGAZINEinemusikalischeZeitreiseGroße Musikgeschichte – reisen Sie auf den Spurenvon Johann Strauss durch die Zeit und entdeckenSie ein komplettes Magazin zu seiner Person.Jetzt bestellen:diepresse.com/strauss
DIE FURCHE · 1113. März 2025Film/Geschichte19Von Matthias GreulingIn dem berüchtigten Propagandafilm„Heimkehr“ mit Paula Wessely undAttila Hörbiger, den Gustav Ucicky1941 gedreht hat, findet eine Opfer-Täter-Umkehr im großen Stil statt.Damals versuchte das NS-Regime mit allerMacht, den Einmarsch in Polen im September1939, der als Beginn des Zweiten Weltkriegsgilt, zu rechtfertigen: Die deutscheMinderheit in Ostpolen wäre mehr undmehr bedroht gewesen, die Polen wurdenimmer wieder als primitive „Untermenschen“bezeichnet, die alles ermorden, wassich ihnen in den Weg stellt. Eine Broschüremit dem Titel „Dokumente polnischerGrausamkeit“ soll in unzähligen Fotos belegen,wie die Polen Deutsche verstümmeltund ermordet haben – mit großemAufwand wurden hier allerdings ermordetePolen abgelichtet und – möglichst unkenntlich– als deutsche Opfer ausgegeben.Der Film „Heimkehr“ versuchte dieseTaktik mit dramatischen Film-Stilmittelnin die Köpfe der Zuschauer zu brennen. FürGoebbels war er „das Beste, was im Film jegedreht worden ist“. Hier wehren sich Deutschegegen polnische Aggressoren und fallenihnen zum Opfer. Kein Wunder also,dass wir Polen überfallen mussten, magder Durchschnittszuschauer gedacht haben;schließlich ist „Heimkehr“ ein Meisterstückder NS-Propaganda im Film.„Heimkehr“ trug die Handschrift derWien-Film GmbH, die im Jahr 1938 gegründetwurde und fortan das heimische Filmschaffenin den Dienst des NS-Staates stellte.Als Massenmedium war das Kino damalsunerreicht; zwar war die Technik für eineFernsehübertragung bereits erfunden undab 1935 gab es auch ein regelmäßiges TV-Programm in Deutschland, jedoch war esnoch nicht möglich, Fernsehgeräte mit ihrenstark flimmernden Bildschirmen inMassen herzustellen, wie das etwa mit dem„Volksempfänger“ beim Radio der Fall war.Nur einige Hundert Fernseher standen etwain Berlin ab 1936 in öffentlich zugänglichenFernsehstuben für jedermann bereit,um beispielsweise die Olympischen Spielezu verfolgen. Die meisten Zuschauer warenenttäuscht; das Bild war zu klein und mitder Kinoleinwand nicht zu vergleichen.Verblenden und begeisternAlso legte Goebbels (gemeinsam mit Hitlergehörte er übrigens zu den glühendstenVerehrern der Trickfilme von Walt Disney)seinen Fokus voll und ganz auf die Kinoproduktion.Mehr als 1200 Spielfilme wurdenin den zwölf Jahren des „Dritten Reichs“produziert; die meisten davon waren leichtfüßigeLustspiele, Komödien, Dramen oderLiteraturverfilmungen von Nazi-genehmenAutoren. Aber viele Filme hatten dezidiertden Zweck, das Volk zu verblendenund für die Ideologie der Nazis zu begeistern.Die Wien-Film war da ein starker Armim Osten des „Reiches“. Unter dem Titel„Hollywood in der Ostmark“ ist derzeit imFilmarchiv Austria im Wiener Metrokinoeine umfassende Filmschau aus dem Katalogder Wien-Film zu sehen. Sie wurde zurzentralen Produktionsfirma und setzte dieTradition des österreichischen Films untereinem neuen ideologischen Mantel fort. Sieproduzierte Werke, die zwischen nostalgischerUnterhaltung und unterschwelligerIdeologie changierten. In der Retrospektivewird deutlich, wie sich Unterhaltung,Propaganda und Zeitgeist vermischten.Zwischen 1938 und 1945 brachte dieWien-Film rund fünfzig Spielfilme heraus.Statt plumper Propaganda setzte sie in vielenFällen auf gehobene Unterhaltung, oftmit einem nostalgischen Blick auf Wien alsStadt der Musik und der feinen Gesellschaft.Die Filme sollten das Publikum ablenken– von Krieg, Mangel und der Realität einestotalitären Staates. Wer genauer hinsieht,merkt schnell, dass die Filme nicht unpolitischwaren. Sie transportierten ein Bild vonKultur, das ins NS-Weltbild passte: traditionsbewusst,sentimental und auf eine Weisedeutsch geprägt, die sich mit der Ideologiedes Regimes vertrug. Ein Paradebeispieldafür ist die erste Wien-Film-ProduktionFoto: Filmarchiv AustriaDie Wien-Film stellte im NS-Staat üble Propaganda-Filme und leichte Lustspiele her. Eine Retrospektivedes Filmarchiv Austria beleuchtet nun ihre Rolle und den Umgang mit den Werken nach 1945.Vom Krieg ablenken„Unsterblicher Walzer“ (1939), ein Film überJohann Strauss, der mit seinen schwungvollenMelodien und opulenten Bildern perfektzur Strategie der Wien-Film passte. Musikgalt als unpolitische Kunstform, doch verpacktin schöne Bilder und eine nostalgischeErzählung bot sie die ideale Ablenkungvom Kriegsgeschehen. Ebenso in diese Richtungging „Operette“ (1940) von Willi Forst,der ein Meister darin war, elegante Filmemit Wiener Charme zu inszenieren. SeinWerk war eine Hommage an die Operettentradition– schön inszeniert, aber mit einerunterschwelligen Botschaft: Wien als musikalischeHochburg, die auch im „Reich“ ihrenPlatz hat.Karl Lueger als HeldDoch nicht alle Filme der Wien-Film warenso harmlos. „Wien 1910“ (1943) war einganz anderes Kaliber. Hier wurde das Lebenund Wirken von Karl Lueger beleuchtet,dem antisemitischen Wiener Bürgermeister,den die Nazis als eine Art ideologischenVorläufer ansahen. In diesem Film wirdLueger als Held dargestellt, der gegen „zersetzendeKräfte“ kämpft – eine kaum verschleierteAnspielung auf die antisemitischeRhetorik der NS-Zeit. Solche Filmezeigten, dass die Wien-Film nicht nur Eskapismusbot, sondern auch gezielt politischeBotschaften transportierte.Ein weiteres Beispiel ist „Wiener Mädeln“(1944/45), der erste Farbfilm der Wien-Film. Er erzählt die Geschichte des KomponistenCarl Michael Ziehrer und ist vollgepacktmit Wiener Nostalgie. Doch daswirklich Interessante daran: Obwohl derFilm während der NS-Zeit produziert wurde,kam er erst 1949 in die Kinos – alsonach dem Krieg. Dadurch steht er in einermerkwürdigen Zwischenwelt: Gedreht untereinem Regime, das 1945 unterging, ister aber dennoch Teil der Nachkriegskultur.Viele weitere Filme aus dieser Zeit bietenEinblick in die Propaganda-Maschinerieund ihre feinsinnigen Verquickungenmit der Filmkunst. In „Liebe ist zollfrei“(1941) gibt Hans Moser einen schrulligenZollbeamten, der Film strotzt nur so vorSeitenhieben auf die parlamentarische Demokratie.„Mutterliebe“ (1939) sollte miteiner dramatischen Geschichte die damaligeEinführung des „Ehrenkreuzes derdeutschen Mutter“ dem Publikum verkaufen– es geht um eine Frau, die sich allerWiderstände zum Trotz alleinerziehendund opferbereit durchschlägt. Aber auchunterschwellige Seitenhiebe auf die Nazisgab es: Etwa in dem Film „Schrammeln“,der das Regime kritisch beäugte, ohne diesdirekt auszusprechen. Kein Wunder, dassder Film über Johann Schrammel einer derPublikumshits der Wien-Film gewesen ist.Was die Filmschau mitbeleuchtet, istdie Frage, wie nach 1945 mit diesem filmischenErbe umgegangen wurde. Vieleder Filmschaffenden arbeiteten nach demKrieg unbehelligt weiter. Willi Forst inszeniertein der Nachkriegszeit weiter Erfolgsfilme,selbst „Jud Süß“-Regisseur VeitHarlan durfte nach einigen Jahren Berufsverbotwieder inszenieren. In der unmittel-„ Die Wien-Film produzierteWerke, die zwischennostalgischer Unterhaltung undunterschwelliger Ideologiechangierten. “Bedrohung„Heimkehr“ stelltdie polnischeBevölkerung alsAgressor, dieDeutschen aberals Opfer dar. FürGoebbels war es„das Beste, was imFilm je gedrehtworden ist“.baren Nachkriegszeit versuchte man, eineklare Distanz zu den Filmen der NS-Zeit herzustellen. Viele Werke wurdenmit Aufführungsverboten belegt, insbesonderejene, die als eindeutig propagandistischgalten. Filme wie „Heimkehr“sind bis heute nur selten und oft mit einführendenWorten zu sehen. Das Internethat diesem vorsichtigen Umgang mit NS-Propaganda aber einen Strich durch dieRechnung gemacht: Eine kurze Internet-Suche bringt auf Anhieb die vollständigeFassung des Films zutage – zum Gratis-Streamen für jedermann.Literatur entdeckenSeit ihrem Gründungsjahr widmet sichDIE FURCHE der Welt der Bücher undschafft einen wertvollen Zugang zuWissen, Fantasie und Inspiration.Entdecken Sie online Textenamhafter Autorinnen undAutoren – von 1945 bis heute.Lesen Sie auch„Unheilbare Wunden“von MatthiasGreuling(30.11.2020)über Flucht undVertreibung imösterreichischenFilm auffurche.at.Jetzt4 Wochengratislesen!u Gleich bestellen:www.furche.at/abo/gratisaboservice@furche.at+43 1 512 52 61 52online im Navigator seit 1945
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