DIE FURCHE · 508 International12. Dezember 2024Lesen Sie hierzuauch das vonB. Quint geführteInterviewmit ÖsterreichsMilitärbischofWerner Freistetter(9.6.2024)furche.at.Von Jan OpielkaDer amerikanischeSchriftsteller MarkTwain schrieb einmal:„Geschichte wiederholtsich nicht.Aber sie reimt sich.“ Tatsächlich?Lassen Sie es uns prüfen.Der oscarprämierte Film „ImWesten nichts Neues“ aus demJahr 2022, auf Grundlage desgleichnamigen Buchs von ErichMaria Remarque, zeigt eindrücklichdie Sinnlosigkeit des Gemetzelsdes Ersten Weltkriegs. Und erzeigt, wer an der Front stirbt – undwer, weit hinter der Front, nichtstirbt. Besonders ergreifend sindim Film die Schlussszenen, in denendas Ende des Krieges bereitsbesiegelt ist. Und doch gibt es einige,die sich weigern, dies zu akzeptieren.Es sind jene ohne Waffe inder Hand, die aber über die Machtverfügen, andere zum Kampf oderzum Rückzug zu befehligen. Essind nicht sie, die für ihren Mangelan Verantwortung bezahlen.Nur die jungen Männer. In derkonkreten Szene der junge PaulBäumer, der heimfahren, der lebensollte und könnte, doch dessenVorgesetzter unbedingt noch einenkleinen Ort einnehmen wollte.„Wir erobern die Ebene noch vor11 Uhr und beenden diesen Kriegmit einem Sieg“, schreit der Generalden Soldaten entgegen.106 Jahre und einen Monat später106 Jahre und einen Monat später:Der scheidende US-AußenministerAntony Blinken sagt nacheinem zweitägigen Treffen mitAmtskollegen der Nato-Staatenin Brüssel am 4. Dezember in einemInterview mit der NachrichtenagenturReuters folgende Wortezur Kriegführung der Ukraine:„Wir sind der Meinung, viele vonuns sind der Meinung, dass esnotwendig ist, jüngere Menschenin den Kampf einzubeziehen. ImMoment sind die 18- bis 25-Jährigennicht im Kampf.“ Wen Blinkenmit „wir“ meinte, blieb zunächstWer sollkämpfen?Ukrainische Soldatender 41. Brigadestehen in einemSchützengrabennahe der Frontlinie.Die Armeeleidet längstunter Personalproblemen.US-Außenminister Antony Blinken forderte jüngst, nun auch 18-jährigeUkrainer an die Front zu schicken. Wo blieb der öffentliche Aufschrei?Über die Gefahr einer ethischen Abstumpfung.Angst vor einemDiktatkriegunklar. Es gab zu dem Thema keinegemeinsame Erklärung der anderenAußenminister. Doch auchNato-Generalsekretär Mark Rutte,der zwar keine Konkreta zu demAlter der zu rekrutierenden Soldatennannte, sagte bei dem Treffenin Brüssel: „Wir müssen natürlichauch dafür sorgen, dass genügendLeute in der Ukraine zur Verfügungstehen. Wir brauchen wahrscheinlichmehr Leute, die an dieFront gehen.“„ Es sind jene ohne Waffe inder Hand, die über die Machtverfügen, andere zum Kampfzu befehligen. Das jüngsteAnsinnen klingt nach einemdumpfen, unheilvollen Echo. “Blinken, der 2017, vor seinerAmtszeit, die BeratungsfirmaWestExec Advisors mitgegründethatte, die sich darauf spezialisiert,Aufträge des US-Verteidigungsministeriumsan Firmenaus dem Silicon Valley zu vermitteln,sagte diplomatisch pflichtschuldig,es sei natürlich undletztlich die ukrainische Führung,die in dieser Frage entscheidenmüsse. Und er betonte, KiewsVerbündete würden sicherstellen,dass alle mobilisierten Truppendie notwendige Ausbildung undAusrüstung erhielten. „Die Verpflichtung,die wir als Bündnisund als Länder, die die Ukraineunterstützen, haben, besteht darin,sicherzustellen, dass wir fürjede Truppe, die mobilisiert wird,Ausbildung und Ausrüstung zurVerfügung stellen.“Absage aus KiewWir leben in einer derart kriegerischenZeit, in der gleichzeitigso viele gewaltsame Konflikteund Kriege geführt werden, dassBlinkens Forderung in der medialenBerichterstattung fast völliguntergegangen ist – ebensowie Kiews Absage. Doch auch dieethischen Standards, die noch vorKurzem angesichts einer solchenForderung für großen Aufschreigesorgt hätten, scheinen radikalabzustumpfen. In Österreich etwagilt eine Schul- bzw. Ausbildungspflichtbis zum Alter von 18 Jahren.Könnte sich jemand hierzulandevorstellen, solche Jugendlichen vonder Schulbank weg mit Maschinengewehrenauszustatten und andie Front zu schicken? Sie Himars-Raketen abschießen zu lassen? Sievon russischen Truppen bombardieren,sterben zu lassen?Die Perfidität der Forderung,18-Jährige in einen Krieg zuschicken, würde schlagartigklar, wenn wir die Distanz zwischenden Fordernden – BlinkenFoto: APA / AFP / Roman Pilipeyund Co – und den Aufgeforderten– 18- bis 25-jährigen ukrainischenMännern – aufhöben.Stellen wir uns eine konkrete Situationvor, die das von BlinkenGeforderte lediglich in eine andereSzenerie setzt: Der 62-jährige,stets besorgt-besonnen wirkende,sanft lächelnde Blinken würdevor Pressekameras einem ukrainischen18-Jährigen, nennen wirihn Dmytro Kovalenko, ein US-Maschinengewehr in die Handdrücken. Der junge Mann wäreetwa ein frisch gebackener Kfz-Mechaniker, der gerne Science-Fiction-Filme schaut und vor dreiMonaten seine erste Freundintraf. Blinken würde Dmytro gegenüberdie gleichen Worte sagen,die er tatsächlich verwendete:„Dmytro, wir sind der Meinung,dass es notwendig ist, jüngereMenschen in den Kampf einzubeziehen.Wir verpflichten uns, sicherzustellen,dass du eine guteAusbildung und Ausrüstung erhältst,um gegen die russischenInvasoren zu kämpfen, die immergrößere Teile deines Landeserobern.“Würde der US-Diplomat einersolchen Zeremonie hautnaher,direkter Mobilisierung zustimmen?Wohl kaum. Sie bedeutetevor allem Nähe, in der das Realedes Krieges, und vor allem dieRollenzuteilung in diesem, plötzlichnahe, sichtbar – und für vieleunannehmbar – wäre. Und dasssich in Österreich und Deutschlandbei diesem Anblick allzu vieleMenschen entsprechende Bildervom April 1945 in Erinnerungrufen würden: Es sind jene, aufdenen Adolf Hitler minderjährigenBurschen vor ihrem letztenKampf lächelnd über die Wangengestreichelt hatte.Das deutsche Außenministeriumverneinte Ende November,die Ukraine zu einer Herabsenkungdes Mobilisierungsalterszu drängen. Dies deutet womöglichdarauf, dass sich die Verantwortlichenin Berlin des ethischenDilemmas einer solchenForderung bewusst sind. Auchdie ukrainische Führung hat derForderung Blinkens im Kern eineAbsage erteilt. Dmytro Lytvyn,ein Berater des ukrainischen Präsidenten,schrieb am 4. Dezemberauf X. „Niemand bereitet dieMobilisierung von 18-Jährigenvor.“ Zehn Tage zuvor hatte sichauch Präsident Wolodymyr Selenskyjähnlich geäußert. Gleichwohl:Am 29. November erklärteIwan Tymotschko, Kommandantder Reserveeinheiten der Bodentruppen,dass ab dem kommendenJahr alle Männer im Altervon 18 bis 25 Jahren eine obligatorischemilitärische Grundausbildungabsolvieren würden. Undbereits im Frühjahr dieses Jahreswurde ein Mobilisierungsgesetzverabschiedet, laut dem sichalle Männer im Alter zwischen 18und 60 Jahren registrieren lassenmüssen. Ende Oktober dann beschlossdas Parlament in Kiew dieMobilisierung von 160.000 neuenSoldaten innerhalb der nächstendrei Monate.Trumps durchsickernde PläneDoch durch die sich am politischenHorizont abzeichnenden,aus dem Trump-Lager durchsickerndenPläne zur Beendigungdes Krieges wirken Forderungennach einer Mobilisierung von faktischenJugendlichen – und damitnach noch mehr Toten – wieein dumpfes, unheilvolles Echoder letzten Tage des Ersten Weltkrieges.Donald Trump schriebam 8. Dezember auf der PlattformTruth Social: „Es sollte einensofortigen Waffenstillstandgeben, Verhandlungen sollten beginnen.“Sein designierter Ukraine-Sondergesandter,Ex-GeneralKeith Kellogg, steht für den Plan,Russland und die Ukra ine mehroder minder an den Verhandlungstischzu zwingen. Selenskyjspricht angesichts der neuen Realitätenim Weißen Haus und derweiter vorrückenden russischenTruppen ebenfalls von Verhandlungenund unvermeidlichen, befristetenGebietsabtretungen anRussland. Derweil fordert derscheidende US-Außenminister,18-Jährige an die Front zu werfen.In einem aktuellen Interviewmit der Berliner Zeitung sagt deraus der ukrainischen Armee vonder Front desertierte, 28-jährigeArtjom: Ja, die Ukrainer hättenzwar Angst vor einem Diktatfrieden.„Viele Ukrainer haben aberauch Angst vor einem Diktatkrieg.“
DIE FURCHE · 5012. Dezember 2024Religion9Lesen Sie dazu„Frauenweihe:Widerstandgegen römischeWartepartie“ (21.10.24) des SalzburgerTheologen Gregor Maria Hoffauf furche.at.Das Gespräch führteTill SchönwälderKeine Weltsynode oderPapstwahl ohne ihn:In den österreichischenMedien bringter den Menschen seitJahrzehnten die Mechanismender katholischen Kirche nahe. Am20. Dezember feiert der PastoraltheologePaul Michael Zulehnerseinen 85. Geburtstag. Im FUR-CHE-Interview spricht der wohlbekannteste Theologe Österreichsüber die Zukunft des Glaubensund darüber, warum Papst Franziskusfür ihn ein ausgezeichneterProzessmanager ist und er glaubt,dass es nur eine Frage der Zeit ist,bis Frauen in der katholischen Kircheordiniert werden.DIE FURCHE: Die katholische Kirchehat gerade einen dreijährigensynodalen Prozess hinter sich gebracht.Wie schätzen Sie das Ergebnisfür Österreich ein?Paul Zulehner: Die Bischöfe sagen,sie wollen die Kirche auch in Österreichsynodalisieren, ich bin sehrgespannt, wie das aussehen soll.Die deutschen Bischöfe haben mitdem Synodenpapier Rückenwindbekommen, obwohl es vorher eigentlichschlecht aussah. Ich binüberzeugt, man müsste auch in Österreichdie Bischofskonferenz ineine Kirchenkonferenz umbauen,so ähnlich wie das die Deutschenmit dem Synodalen Rat probieren.DIE FURCHE: Die Deutschen scheinenin dieser Hinsicht forscher zusein. Warum ist das so?Zulehner: Ja, wir haben natürlichin Österreich eine etwas anderesprachliche Kultur. Die Deutschensind kantiger, teilweise kann dasauch rüde rüberkommen. Ich denke,in dieser Hinsicht könnten siedurchaus von uns lernen, in derRhetorik, in der Sprechweise. Umgekehrtkönnte die österreichischeKirche meines Erachtens theologischund strategisch von den Deutschenlernen. Das war wahrscheinlichauch einer der Mängel auf derWeltsynode, dass es zwar theologischeKompetenz im Hintergrund gegebenhat, aber nicht textierend undschreibend, wie das beim ZweitenVatikanischen Konzil der Fall gewesenwar. Sie haben nur Acht gegeben,dass keine großen Fauxpas passieren.Das ist theologisch aber nichthinreichend. Deswegen hat ja derPapst den Theologen kürzlich beieiner Versammlung in Rom gesagt,sie sollen sich bei der Synodalisierungstark engagieren.Professor undMedienprofiPaul Michael Zulehnerwar von 1984 biszu seiner Emeritierung2008 Professor fürPastoraltheologie ander Universität Wien.In den Medien tritt erregelmäßig alsExperte für Kirchenthemenauf.Am 20. Dezember wird der Theologe und Priester Paul Michael Zulehner85 Jahre alt. Ein FURCHE-Interview mit dem „Kirchenerklärer der Nation“.„Das Konklavegehört insMittelalter“DIE FURCHE: Kardinal Schönbornsagte kürzlich, für echte Entscheidungen,etwa beim Frauendiakonat,bräuchte es ein Konzil. SehenSie ein „Drittes Vatikanisches Konzil“am Horizont?Zulehner: Ich habe mich vor einigenJahren mal mit Kardinal Schönbornzu dem Thema unterhaltenund ihm gesagt, dass schon Pius IX.(1846 bis 1878, Anm. d. Red.) gemeinthat: „Nie und nimmer werdenwir uns mit Religionsfreiheit,Demokratie und Pressefreiheit anfreunden.“Hundert Jahre später hatdas Konzil dann festgestellt, dassall das zum Glauben gehört. 1984hat Johannes Paul II. gesagt: „Nieund nimmer werden wir Frauen ordinieren.“Ich zähle hier bereits denCountdown. Ich habe dann meinenOhren nicht getraut, als der Kardinalnickte und sagte: „Ja, auch Petrussagt in der Apostelgeschichte:‚Nie und nimmer werde ich von denunreinen Speisen essen.‘ Und dannhat ihm Gott drei Träume geschicktin Joppe“ (heute Tel Aviv-Jaffa, Anm.d. Red.). Und vielleicht braucht auchdie katholische Kirche in Fragender Ordination von Frauen so einJoppe vor dem Apostelkonzil. Ichwürde dem Kardinal also recht geben,dass es eine Kirchenversammlungauf höchster Ebene braucht,wenn man mit der Frauenordinationvorankommen will. Aber wirwerden vorankommen, das ist meinefeste Überzeugung.DIE FURCHE: Eine Studie hat kürzlichergeben, dass das Vertrauender Menschen in die katholischeKirche in Österreich historischschlecht ist. Kann die Kirche diesenVertrauensverlust irgendwannwieder wettmachen?„ Ich habe dem Kardinal einmal gesagt,bei der Frauenweihe zähle ich bereitsden Countdown. Bei seiner Antworthabe ich meinen Ohren nicht getraut.“Foto: Kathpress/Johannes PernsteinerZulehner: „Historisch“ ist ein starkerBegriff. Die katholische Kirchehat unglaubliche Tiefs nachder Aufklärung auch im 19. Jahrhunderterlebt, wo man gedachthat, es wird sie bald nicht mehr geben,und dann hat sie sich erholt.Jetzt sind wir fraglos wieder in einemTief. Wir haben gelernt, beiden kirchlichen Statistiken immervon hundert Prozent herunterzurechnen,wir müssen aber von nullheraufrechnen. Theologisch geheich davon aus, dass auch unterden jungen Leuten, die zurzeit einenBogen um die Kirche machen –und das ist mein theologischer unerschütterlicherOptimismus –,viele sind, die auch für diese vonJesus ausgelöste Bewegung berufensind. Die müssen wir finden,fördern und einen Platz für autonomeMitbestimmung geben in Bereichen,die sie betreffen, sei es imBereich der Zukunftssicherung, inder Ökologie, in der Frage der Friedensarbeitund der Migration. Undwo solche Projekte gelingen, findetman ja auch junge Leute. DieseFrage stellt sich heute nicht nurfür die Kirchenleitung, sondernweit dramatischer meines Erachtensfür die Kirchengemeinschaftenselbst.DIE FURCHE: Also ein Plädoyer dafür,hinauszugehen und neue Allianzenzu schmieden. Es gibt aberauch eine Gegenströmung, diesich anti-universalistisch auf eineBinnenkirche für die wenigen beruft.Wie sehen Sie das?Zulehner: Unter den Päpsten BenediktXVI. und auch JohannesPaul II. hat sich die Kirche in dieserHinsicht sicher etwas reformresistentgezeigt, und die Leute,die echte Reformen wollten, sindzurückgedrängt wurden. Von daherliegt es nahe, dass jene, die gebliebensind, entweder in gutemSinn über eine belastbare Kirchenresistenzverfügen oder aber ebenauch keine Veränderung wollenund das Konzil auch nicht realisierenwollen: Hier gibt Gaudium etSpes (1965, Anm. d. Red.) klar Auskunft,wo man als Kirche in diesermodernen Welt steht und wie mandie Aufgaben als Kirche in der Gesellschaftvon heute meistern soll.Das heißt, das Konzil schaute hinaus,während konservative Kreise,traditionsbesorgt, eher hinein-FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITEVORSORGE& BESTATTUNG11 x in WienVertrauen im Leben,Vertrauen beim Abschied01 361 5000www.bestattung-himmelblau.atwien@bestattung-himmelblau.at
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