DIE FURCHE · 5012 Gesellschaft12. Dezember 2024Eine Welt aus WortenMichael Endes Protagonist BastianBalthasar Bux verliert sich inder „Unendlichen Geschichte“.In der Erzählung fiebert er mit demmutigen Romanhelden Atréju mit.Von Miriam Al Kafur undMagdalena SchwarzEs passiere mehrmalstäglich, dass Kundennach Lektüretipps fürihre Söhne fragten,sagt Petra Hartlieb, Eigentümerinder gleichnamigenBuchhandlung in Wien-Währing.Der Bereich der Kinder- und Jugendliteraturdes Geschäftes istumfangreich: Bilderbücher, Erstleselektüre,Young Adult Fiction,Comics – wer suchet, der findet.Doch warum verirren sichso wenige Burschen an Orte wiediesen?Vorab sei gesagt, und das magprovokant klingen: Ein glücklichesLeben ohne Bücher ist möglich.„Die in Aussicht gestelltenSätze, die Flügel, der Zugang zuunerträumten Möglichkeiten – alldas ist fraglos bestechend“, räumtIna Brendel-Kepser, Professorinfür deutsche Sprache und Literaturan der Pädagogischen HochschuleKarlsruhe, ein. Für Gender-und Leseförderung ist sie imdeutschsprachigen Raum die Expertin.Aber, fährt sie fort, lesensei eben viel mehr als das „literarischeBuchlesen im Sinn des traditionellbildungsbürgerlichenHabitus“. Die Leseweisen vieleJugendlicher würden aus dieserPerspektive nicht berücksichtigt.Auch Literaturvermittler KlausNowak rät Eltern, sich zuerst zufragen, warum sie ihre Söhneüberhaupt für das Lesen begeisternwollen. „Will ich, dass meinKind gute Schulnoten hat? Oderdass es sich mit Kunst auseinandersetztund so einen Zugang zuanderen Welten findet?“ Besuchtman Nowak in seinem Büro amInstitut für Jugendliteratur, dannpassiert man Regale über Regalean Kinderbüchern. Der 1965gegründete Verein in Wien vergibtgemeinsam mit der FURCHEund der Studien- und Beratungsstellefür Kinder- und JugendliteraturStube monatlich den BuchpreisLektorix (siehe Infobox). DasInstitut bietet Informationen undVeranstaltungen rund um Jugendliteraturfür private und professionelleInteressenten – die meistensind Frauen und Mädchen.Ein Buch unter dem Christbaum begeistert die wenigsten Buben.Warum eigentlich nicht? Die FURCHE geht dem Lesefrust auf den Grund.So weckt man das Interesse männlicher Teenager trotzdem.Warum liester nicht?Elitärer Elterntraum?Denn „belletristisches Lesenist weiblich“, so der Experte.Das geschriebene Wort ist dasTerritorium der Frauen, zumindestin Industriestaaten seit dem19. Jahrhundert. Männliche Lesevorbilderwürden fehlen. Beklagensich Eltern in Workshops,dass der Sohn nicht lese, dannkontert er: „Lesen Sie?“ Zu oft drehesich die Diskussion um „lesefauleBuben“. Aber wo sind denndie lesenden Väter?Der Literaturvermittler kritisiertauch, dass manche Lehrkräfteunnötig Druck ausübten.Das verunsichere wiederum geradeleseschwache Burschen. Etwawenn ein Kind in der dritten Klasseein Referat über sein Lieblingsbuchhalten soll, aber dann hört:Es hat nur 30 Seiten, es muss mindestens100 haben! „Es gibt so vielefantastische Werke mit wenigText, die mich als erwachsenenMann noch begeistern.“Dennoch ist Lesekompetenzeine Schlüsselqualifikation, dievielen fehlt. Die diesen Dienstagveröffentlichte PISA-Studie fürErwachsene zeigt, dass fast jederdritte 16- bis 65-Jährige in Österreichkaum Leseaufgaben aufVolksschulniveau meistert, wobeider Migrationshintergrund eineuntergeordnete Rolle spielt. Zudem schlechten Lesevermögen,„ Will ich, dass mein Kind gute Noten hat?Oder sich mit Kunst auseinandersetzt undeinen Zugang zu anderen Welten findet?“Klaus Nowak, Literaturvermittlerauch bei Kindern und Jugendlichen,kommen geschlechtsunabhängigeBarrieren. Spätestensab der Pubertät konkurriert dasBuch mit dem Smartphone, einunfaires Duell.Die Schule wiederum ist gleichzeitigTeil der Lösung und des Problems.Während manche Lehrkräfteengagiert nach aktuellerLektüre suchen, würden andere„seit Jahren zu den gleichenBüchern greifen, die aus der Zeitgefallen sind“, sagt Stella Graschopf.Sie ist Bibliothekarin beiden Stadt Wien Büchereien, dieauch finanziell benachteiligtenFamilien den Zugang zum Lesenerleichtern. Ihre Kollegin im Verkauf,Buchhändlerin Petra Hartlieb,findet, dass auch die Politikihren Teil zur Lesemisere beigetragenhabe. Sie habe Schulbüchereien„total kaputtgespart“.Das Unbehagen der Elternangesichts eines bibliophobenSohns mündet nicht selten in Bevormundung.Diese Erfahrunghat auch Petra Hartlieb gemacht.„Manche literaturaffine Eltern sagen,der Bub soll ein ‚richtigesBuch‘ lesen.“ Was damit gemeintist, weiß die Buchhändlerin natürlich:Belle tristik, keine Comicsoder Sach bücher – die Genres,die Burschen bevorzugen.(Hartlieb selbst ist mit DonaldFoto: IMAGO / United ArchivesDuck und Mickey Mouse aufgewachsen.)Dabei handle es sich „bei Text-Bild-Formaten keineswegs umanspruchslose Lektüre“, erklärtdie Leseforscherin Brendel-Kepser.Auch Bibliothekarin Graschopfbestätigt, dass Comicsüber Computerspiele oder Superheldenbei Teenagern ein Dauerbrennerseien. Mangas, japanischeComics, seien derzeit sogarso beliebt, dass Jugendliche dafürextra in ihre Bücherei kämen.Nur den Eltern seien die „lustigenTaschenbücher oder Comics meistein Dorn im Auge“. Graschopf teiltdiese Abneigung nicht. Dank dergrafischen Untermalung könntendie Leser die Emotionen der Protagonistenbesser verstehen.Dem Sachbuch hatte man angesichtsdes multimedialen Internetsüberhaupt den Untergangprophezeit, sagt LiteraturvermittlerNowak, dabei erlebe es geradeeine Blüte. Es vermittle Informationen,unterstützt durchIllustrationen, in zugänglichenHappen. Alle Kinder und Jugendlichenseien in irgendeinem ThemengebietExpertinnen und Expertenoder leidenschaftlicheFans. Als gelungenes Beispielnennt Nowak „Der Traum vonGold: Sportlegenden zwischenHoffnung, Sieg und Niederlage“von Volker Mehnert und PaulinaEichhorn. Es erzählt die Lebensgeschichtenvon berühmten sowievergessenen Sportlerinnenund Sportlern, begleitet von fotorealistischenIllustrationen.Krimis machen keine MörderUnd wenn es nun doch Belletristik sein soll? Brendel-Kepsersagt, dass bei den Achtjährigendie „Harry Potter“-Reihe nach wievor gut ankomme oder „Gregs Tagebuch“.Neben der Kombinationaus Action und Komik profitiertendiese Werke auch vom Prinzipder Serie. „Die Leserinnenund Leser treten mit jedem neuenBand in eine ihnen vertraute Weltein, kennen das Setting und dieFiguren und freuen sich auf weitereAbenteuer, in die sie niedrigschwelligeinsteigen können“, erklärtdie Wissenschafterin.Viele 14-Jährige begeisternsich laut der Hartliebs-Fachverkäuferinund KinderbuchexpertinEva-Maria Niegel für Fantasygeschichten,Krimis und Comics.„Die Thriller der Wiener AutorinUrsula Poznanski haben überraschendeWendungen, sind psychologischanspruchsvoll undbehandeln aktuelle Themen wieKünstliche Intelligenz“, erzähltsie. Man könne jungen Menschenauch heftige Materien zutrauen,ergänzt Petra Hartlieb. „Ich habemit 13 Stephen King gelesen. Ichhatte drei schlaflose Nächte, aberaus mir ist keine Massenmörderingeworden.“Mehr Empfehlungen und Bewertungengibt es auf der Onlineplattform„Boys & Books“, dieBrendel-Kepser mitbegründethat. Sie soll vor allem männlicheWenig- oder Nichtleser erreichen.Dort gibt es kostenlos Buchtippsfür Altersgruppen von acht bis 14
DIE FURCHE · 5012. Dezember 2024Gesellschaft13Jahren. Die Expertenjury bewertetdabei nicht vorrangig nach literarischenKriterien, sondernmit Blick auf den jungen Leser.Wer seinen Sohn, Neffen oderEnkel zum Lesen motivieren will,kann ihm natürlich ein geeignetesBuch unter den Christbaum legen.Die Expertinnen und Expertenhaben aber auch noch andereTipps. „Die beste Leseförderungist vorlesen, vorlesen, vorlesen.Je früher, desto besser“, sind sichdie Fachleute einig.„ Kinder müssen die Erfahrung machen,dass du dich mit einem Buch ‚wegbeamen‘kannst. Wenn du das einmal erlebt hast,dann willst du es immer wieder. “Petra Hartlieb, Buchhändlerin und AutorinBUCHPREIS LEKTORIXBest-of der KinderundJugendliteraturRomantik für BurschenSeien die Kinder älter, dannsei es essenziell, ihnen zuzuhören:Hast du schon etwas gelesen,was dir gefallen hat? Warum hatdich ein bestimmtes Buch nichtabgeholt?Zwar gebe es kein „idealesBuch“, das alle begeistere. Dennochvermutet Nowak, dass Buchempfehlungenvon Vertrauenspersonenbesser ankommen.Darüber hinaus versuchen auchBüchereien, speziell männlicheJungleser zu erreichen. So organisierenGraschopf und ihr Team„Buchcastings“, bei denen sie Jugendlichenmehrere Bücher kurzvorstellen.Doch es können noch nicht alleBuchwünsche erfüllt werden, wederin Hartliebs Geschäft noch inden Bibliotheken. Bei Buben undmännlichen Jugendlichen gibtes erhebliche Marktlücken. ZumBeispiel erinnert sich Niegel aneinen Jugendlichen, der sich fürLiebesgeschichten für Burscheninteressierte. Eine Herausforderung,denn Romanzen zieltenschon grafisch auf die Zielgruppeder Mädchen ab, abgesehen vonqueeren Geschichten.Literaturvermittler Nowak findet,dass es im DACH-Raum, geradeim Vergleich zum englischsprachigenMarkt, zu wenigqualitätsvolle Sportjugendliteraturgebe. Und BuchhändlerinHartlieb wünscht sich mehr aktuelleKinderkrimis, die „FünfFreunde“ seien mittlerweile zualtmodisch.Die gute Nachricht: Jugendliche,die die Liebe zu Büchernentdecken, machen schnell Lesefortschritte.Manche der jungenLeseratten würden praktischüber Nacht vom Kinderbereich indie Jugendbuchabteilung wechseln,erzählt Bibliothekarin Graschopf.„Kinder müssen die Erfahrungmachen, dass du dich miteinem Buch ‚wegbeamen‘ kannst“,sagt Hartlieb. „Wenn du das einmalerlebt hast, dann willst du esimmer wieder.“Auch DIE FURCHE empfiehlt regelmäßig KinderundJugendliteratur: Der Lektorix ist eine Literaturauszeichnung,die seit Mai 2003 von der WochenzeitungDIE FURCHE gemeinsam mit dem Institutfür Jugendliteratur und der STUBE, der StudienundBeratungsstelle für Kinder- und Jugendliteraturder Erzdiözese Wien, vergeben wird. Die Bücherwerden ausführlich in der FURCHE vorgestellt. Diebisher prämierten Werke ergeben ein Best-of, dassich sehen lassen kann. Alle Lektorix-Bücher seit2003 finden Sie auf furche.atAnne Bender vom Carlsen Verlag weiß, worauf es bei Jugendliteratur ankommt.Ein Gespräch über Harry Potter, Comics und Social Media.„Action und Humorsind gefragt“Das Gespräch führte Miriam Al KafurMit Bestsellern kennt Anne Bender sich aus:Die Bereichsleiterin des Erzählenden Programmsbeim deutschen Carlsen Verlagist unter anderem für die „Harry Potter“-Reihe zuständig.Im FURCHE-Interview spricht sie über dieKritik an Comics und die Erfolgsgaranten in derJugendliteratur.DIE FURCHE: Carlsen ist einer derführenden deutschsprachigen Verlagefür Jugendbücher. Nach welchenKriterien entscheiden Sie,welche Bücher verlegt werden undwelche besonders für Buben relevantsind?Anne Bender: Unsere Entscheidungenbasieren auf einer Mischungaus Erfahrung, Marktkenntnis undBauchgefühl. Wir prüfen die Manuskripteund diskutieren in unserenLektoratsrunden. Geht man nachden Verkaufszahlen und der Zielgruppenanalysesind Bücher wie„Harry Potter“ oder „Percy Jackson“bei Jungen besonders beliebt. BeiLetzterem punktet sicherlich dieVermittlung von historischen Themenauf eine humorvolle und moderneArt. Außerdem sind Abenteuerund Freundschaft hier zentrale Themen.Das gilt auch für Harry Potter.DIE FURCHE: Können Sie weitere Beispielenennen?Bender: Je mehr die Themen sowohlMädchen als auch Jungen ansprechen, desto mehr werdensie meiner Meinung nach auch von Jungen gelesen.„Die Schule der magischen Tiere“ von Margit Auer ist eingutes Beispiel dafür. Welches Kind möchte nicht ein magischesTier zum Freund haben? Eine Buchreihe, die besondersviele Jungen angesprochen hat, ist sicherlich„Gregs Tagebuch“. Aus meiner Sicht lag das an der Kombinationvon Text und Bild, aber auch daran, dass hierProtagonisten die Hauptrollen spielen, mit denen sichdie Jungen identifizieren können. Aber auch Bücher zuThemen wie Sport oder Minecraft ziehen das Interesseder Jungen auf sich.DIE FURCHE: Der „Harry Potter“-Boom der 1990er Jahrefand vor der Omnipräsenz von Smartphones statt.Foto: Nina StillerAnne Bender ist seit 23 Jahren beimCarlsen Verlag tätig und leitet denerzählenden Bereich.„ ‚Harry Potter‘ warein Glücksgriff.Eine perfekteKombination ausFreundschaft,Abenteuer undMagie. “Wären vergleichbare Schlangen von begeisterten Kindernund Jugendlichen heute denkbar?Bender: Durchaus, wie man am aktuellen Hype umRomance- und Romantasy-Bücher sieht, die allerdingsmehr die weiblichen Leserinnen ansprechen. „HarryPotter” war in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme undein Glücksgriff. Die perfekte inhaltliche Kombinationaus Freundschaft, Abenteuer, Spannung und Magie.Harry Potter hat viele Kinder zumLesen gebracht. Nicht alle sind dabeigeblieben,aber wenn sich einähnlicher Erfolg wiederholen ließe,wäre das großartig für das Lesenan sich.DIE FURCHE: Aus Studien geht hervor,dass Buben beim Lesen Passagenüberspringen und Bücher wählen,die sie nicht fordern. Wie berücksichtigenSie das in der Produktion?Bender: Wir versuchen, Titel mitkürzeren Texten und größererSchrift anzubieten, die dennochinhaltlich anspruchsvoll sind undnicht langweilen. Aber Ausnahmenbestätigen die Regel. Beim ersten„Harry-Potter“-Band hieß es etwa,dass er zu umfangreich für dieZielgruppe sei. Das hat sich nichtbewahrheitet.DIE FURCHE: Die Lektüre von Jugendlichenwird von Experten oft als literarischinadequat betrachtet.Bender: Ich frage mich immer, werdafür die Kriterien aufstellt und mitwelcher Berechtigung. Wichtig istdoch, dass sie lesen. Ich kenne sowohl Mädchen als auchBuben, die gar nicht gelesen haben, bis sie das passendeBuch für sich gefunden haben. Dass etwa Comics oft kritisiertwerden, halte ich für falsch. Besser haben die Kinderund Jugendlichen mit einem Comic ein tolles Lese-Erlebnis als gar keines. Wir konkurrieren nicht mit derArt der Lektüre, sondern mit der Zeit unserer Leser, dieoft mit Handy und Computerspielen ausgefüllt ist.DIE FURCHE: Wie stehen Sie zu dem Hype um E-Booksund Hörbucher?Bender: Hörbücher sind beliebt, da sie Inhalte vermitteln,ohne dass gelesen werden muss. E-Books spielenim Kinderbuchbereich eine geringe Rolle, währendim Jugendbuchbereich mehr Interesse besteht.KREUZ UND QUERANGSTFREI.DI 17. DEZ 22:35Wer Angst hat, ist verwundbar und gilt als schwach – vor allem in einerWelt, die immer mehr auf Effizienz, Leistung und Funktionalität setzt.Doch was passiert im Körper, wenn wir Angst verspüren, und warumist dieses menschliche Grundgefühl sogar überlebenswichtig? Die Dokuvon Karoline Thaler zeigt unterschiedliche Formen der Angst, wie diesedas Leben und den Alltag von Menschen beeinflussen können und warumdas Gefühl letztlich zutiefst menschlich ist.religion.ORF.atFurche24_KW50.indd 1 02.12.24 15:15
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