DIE FURCHE · 41 2 „BÜRGER ISRAELS, WIR BEFINDEN UNS IM KRIEG“ 12. Oktober 2023 AUS DER REDAKTION Der Aufmacher war lange geplant: Slowenien, Ehrengast bei der Frankfurter Buchmesse, sollte in all seiner – unbekannten – Vielschichtigkeit unter die Lupe genommen worden. Doch dann kam der 7. Oktober und brachte mit dem beispiellosen Terror-Überfall auf Israel eine Zäsur. Susanne Glass, ehemalige ARD-Korrespondentin in Israel sowie FURCHE-Kolumnistin, Heinz Nußbaumer, langjähriger Herausgeber und wie kaum ein anderer mit der Geschichte des Nahen Ostens vertraut, und Kolumnist Mouhanad Khorchide haben die Ereignisse eingeordnet. Angesichts dessen gerät manches in den Hintergrund, was dennoch wichtig bleibt: etwa die bevorstehende Polenwahl; oder das Verfassungsreferendum über die Mitsprache der „Aboriginal People“ in Australien. Bedeutend ist auch, wie deutlich Papst Franziskus in Laudate Deum rascheres Handeln im Kampf gegen die Klimakrise fordert. Den Folgen ausgedünnter Infrastruktur und fehlenden Finanzwissens widmet sich der Kompass, Regina Polak kontert im „Diesseits von Gut und Böse“ Aurelius Freytag hinsichtlich des Umgangs mit Herbert Kickl – und Otto Friedrich würdigt den langjährigen FURCHE-Verlagsleiter Walter Schaffelhofer zu dessen 80. Geburtstag. Das Feuilleton schließlich bietet neben einem Interview mit Luc Besson und Neuem zu Long-Covid die beeindruckende Dankesrede des Christine Lavant-Preisträgers Yevgeniy Breyger: Poesie sei die Kunst des Widerstands gegen eine grausame Welt. Der Kreis schließt sich. (dh) Von Susanne Glass Wie der Krieg Israels gegen die Terroristen der Hamas auch ausgehen wird– der Überfall der radikalislamischen Palästinenser am jüdischen Feiertag Simchat Tora stellt eine Zäsur in der Geschichte des jungen Staates dar, der vor 75 Jahren gegründet wurde, um Jüdinnen und Juden nach der Schoa einen sicheren Zufluchtsort zu bieten. Dieses Sicherheitsgefühl war zwar seit jeher labil. Es war dennoch irgendwie vorhanden. An Kriege und Konflikte und an ein Leben umgeben von Feinden hatte man sich notgedrungen gewöhnt. Aber der Alltag war überwiegend von Gelassenheit und Lebensfreude geprägt. Das lag bei einigen Israelis am Gottvertrauen. Bei den meisten am Glauben daran, dass Militär und Geheimdienst die Situation im Griff haben. Jetzt steht Israel unter Schock. Das Sicherheitsgefühl ist passé. Viele sehen sogar das Existenzrecht ihres Staates bedroht. Die psychologischen Folgen werden lange anhalten. Die politischen sind für Israel und die gesamte Region noch nicht absehbar. Verzweifelte Eltern, die mit tränenerstickter Stimme erzählen, dass sie beim Anruf ihrer Kinder nur noch deren Hilfeschreie hörten und arabische Stimmen. „Dann über 20 Minuten lang Schüsse, wie auf einem Schießstand“, wie es ein Vater beschreibt, dessen 23 und 27 Jahre alten Töchter mit mehreren hundert anderen jungen Menschen am Samstag auf einem Musikfestival etwa fünf Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt gefeiert haben. Bis sie von Terroristen der Hamas massakriert wurden oder als Geiseln in den Gaza-Streifen verschleppt. Viele der Massakrierten waren politisch Linksstehende, die sich für Aussöhnung mit den Palästinensern eingesetzt haben. Gespaltene Gesellschaft geeint Lesen Sie das von der Redaktion zusammengestellte Online- Dossier „Angriff auf Israel“ auf furche.at. Militär und Geheimdienste verabsäumten, Israel zu schützen. Nun herrscht Krieg. Über eine Grenze, die längst überschritten ist. Ein fataler Irrtum Die Mutter, die mit ihrem kleinen Sohn im Schutzraum des Kibbuz geköpft wurde. Die junge Frau, die halbnackt und schwer verletzt, von Palästinensern mit Allahu-Akbar-Rufen an den Haaren auf einen Jeep gezerrt wird. Wie diese Bilder sind auch die Zahlen beispiellos in der israelischen Geschichte. Sie werden laufend nach oben korrigiert. Etwa 1000 Israelis sollen beim Überraschungsangriff der Hamas an Orten nahe des Gaza-Streifens ermordet worden sein. Das traumatisierte Land fragt sich, wie konnte es passieren, dass die angeblich so bestens abgesicherte Grenzanlage zu Gaza von der Hamas an fast 30 Stellen durchbrochen werden konnte und vermutlich mehr als 1500 schwerbewaffnete Terroristen nach Israel eindrangen? Was hat eigentlich der Geheimdienst in den vergangenen Monaten gemacht? Da gilt es noch einiges aufzuarbeiten. Aber erstmal herrscht Krieg. Die Hamas feuert tausende Raketen auf Israel. Die israelische Armee bombardiert großflächig Ziele der militanten Palästinenser in dem 365 Quadratkilometer großen Küstenstreifen. Auch dort starben bisher hunderte Menschen, tausende wurden verletzt. Premier Netanjahu hat angekündigt, die „Hamas komplett in Trümmer zu legen“. Der Gaza-Streifen wurde von Israel komplett abgeriegelt, die Strom-, Nahrungs- und Treibstoffzufuhr gekappt. Damit büßen die Zivilisten einmal mehr für die Taten der Terrorgruppe. Neu ist das für die leidgeprüften Menschen in Gaza nicht. Dabei hassen viele die Hamas abgrundtief. Manche solidarisieren sich aber auch jetzt erst recht. In Israel wurden jetzt 300.000 Reservisten mobilisiert. Offenbar kommen alle, um ihr Land zu verteidigen. Auch diejenigen, die vor Wochen angekündigt hatten, den Reservisten-Dienst künftig zu verweigern, um so gegen die geplante umstrittene Justizreform zu demonstrieren, mit der die rechtsnationale, ultrareligiöse Regierungskoalition nach Ansicht der Opposition die Demokratie aushebeln will. Die existenzielle Gefahr eint die politisch gespaltene Gesellschaft. Sogar von einer möglichen Einheitsregierung ist die Rede. Die Großmobilmachung deutet daraufhin, dass Israel demnächst mit Bodentruppen in den „ Eine weitere Annäherung des Erzfeindes an ein arabisches Land, wie jüngst mit Saudi-Arabien, gilt es aus der Sicht Teherans zu torpedieren. “ Vergeltung Ein Mann flüchtet aus einem brennenden, einstürzenden Gebäude nach dem israelischen Bombardement in Gaza-Stadt. Gaza-Streifen einmarschieren wird. Ein Szenario, dass die Regierung bisher aus gutem Grund vermieden hat. Der Einsatz von Bodentruppen bedeutet einen langen, sehr blutigen Krieg mit großen Opferzahlen auf beiden Seiten. Hinzu kommt jetzt die Sorge um die Sicherheit der in den Gaza-Streifen verschleppten Geiseln. Für Israel ein riesiges Dilemma. Und was passiert nach einem solchen militärischen Eingriff? Sollte es gelingen, die Hamas tatsächlich vernichtend zu besiegen: Wer regiert den verelendeten Gaza-Streifen mit rund zwei Millionen Palästinensern? Will Israel bleiben und die Verantwortung übernehmen? Oder wird es eine ganz andere Lösung geben? Je länger der Krieg mit der Hamas andauert, desto wahrscheinlicher ist außerdem, dass auch die Palästinenser im Westjordanland gegen die israelische Besatzungsmacht und die dort lebenden jüdischen Siedler aufbegehren. Nicht zu vergessen: Israel ist von Feindesländern umgeben. Bindet das Militär seine Truppen im Süden in einem Bodenkampf Foto: APA / AFP / Mohammed Abed mit der Hamas, könnte das die Feinde im Norden reizen, die offene Flanke auszunutzen. Und das Waffenarsenal der Hisbollah im Libanon ist weitaus größer und bedrohlicher als das der Hamas. Sowohl hinter Hisbollah als auch Hamas steht Israels Erzfeind Iran. Im Zentrum Teherans feierten am Wochenende Regimeanhänger das Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten. Religionsführer Khamenei bezeichnete – nach den jüngsten Angriffen der Hamas – Israel als Krebsgeschwür, das – Zitat – „nun hoffentlich durch das palästinensische Volk und Widerstandsgruppen in der Region ausgelöscht werde“. Mahmud Abbas wird verachtet Diese Bedrohungslage ist lange bekannt. Aber was hat die Hamas ausgerechnet jetzt zum Großangriff auf Israel veranlasst? Vermutlich mehrere Gründe. Seit Jahren kann man die zunehmende Frustration und Hoffnungslosigkeit gerade unter jungen Palästinensern spüren. Sie haben auch durch den wachsenden israelischen Siedlungsausbau das Gefühl, keine Perspektive auf eine Zukunft in einem palästinensischen Staat zu haben. Ebenso eint sie die Verachtung für die aktuelle palästinensische Regierung in Ramallah unter dem 87-jährigen Präsidenten Mahmut Abbas und seiner Fatah-Partei. Abbas hat seit vielen Jahren keine Wahlen mehr zugelassen. Aus Angst gegen die Hamas zu verlieren, die ohnehin schon im Gaza-Streifen an der Macht ist. Nun sah die Hamas offenbar ihre Chance auf Profilierung im innerpalästinensischen Bruderkampf. Auch weil die israelische Regierung vom Streit um die Justizreform, von der sich sogar Teile des Militärs und Geheimdienstes distanzierten, absorbiert war. Auch dem Iran dürfte der Zeitpunkt dieses Krieges gelegen gekommen sein. Stand doch kurzzeitig das Momentum eines Friedens zwischen Israel und Saudi-Arabien, unter Vermittlung der USA, im Raum. Also eine weitere Annäherung des Erzfeindes Israel an ein arabisches Land. Das gilt es aus Sicht Teherans unter allen Umständen zu torpedieren. Was sich aber vor allem zeigt: Die Strategie der israelischen Regierung, den ewigen Konflikt mit den Palästinensern zunehmend zu ignorieren, die Hoffnung, ihn nicht mehr lösen zu müssen, sich nicht mehr damit zu beschäftigen, sondern die „lästige Palästinenserfrage“ nur noch irgendwie verwalten zu können – „we manage it“, „wir haben das unter Kontrolle“, hieß es häufig – das war ein fataler Irrtum. Die Autorin ist ehemalige ARD-Nahost-Korrespondentin und Redaktionsleiterin Ausland beim BR.
DIE FURCHE · 41 12. Oktober 2023 „BÜRGER ISRAELS, WIR BEFINDEN UNS IM KRIEG“ 3 Wie sieht der langjährige Nahost-Beobachter, Präsidentenberater und FURCHE-Herausgeber Heinz Nußbaumer die aktuelle Eskalation in Israel und Gaza? Eine persönliche Einordnung – samt Relecture eigener Kolumnen zu diesem historischen Drama zweier Völker. Die Logik des Wahnsinns Von Heinz Nußbaumer Menschen, die andere Menschen gnadenlos quälen und töten – aus Wut oder Verzweiflung, aus Rache oder Hybris: Als Chronist des Zeitgeschehens war dies das dunkelste Thema meines Lebens. Und es kannte und kennt – bei aller weltweiten Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit – keine ganz aggressions-freie Insel, aber ein furchtbares Hauptquartier: den Nahen Osten mit seinen unaufgelösten historischen Bruderkämpfen um Land, Besitz und Vormacht. Die „Hölle auf Erden“ – für mich hatte das von allem Anfang an einen Namen mit nur vier Buchstaben: Gaza. Es war der Schauplatz meiner ersten Kriegserfahrungen (1967) – mit allem, was dazugehört: den Bomben, den Minen und Raketen – und mit den ersten, auch zivilen Toten in großer Zahl, sogar ganz unmittelbar am Nebensitz. Zudem der Kulminationspunkt unvorstellbaren Elends. 300.000 Menschen auf engstem Raum anfangs, heute 2,3 Millionen – das größte Freiluftgefängnis der Erde, ohne jede Perspektive. Ein Druckkochtopf, seit 16 Jahren de facto ohne Zugang zur Welt. Israel und Palästina – wie oft ist dieses Drama schon beschrieben worden: Zwei Völker, die von kolonialen Machtspielen und Holocaust auf knappstem Raum gegeneinander geworfen wurden. Zwei Existenzrechte, die einander auszuschließen scheinen – und die immer wieder in gegenseitiger Unmenschlichkeit entarten. Obwohl alle wissen, dass Israel mit Terror nicht zu vernichten ist. Und dass jede Rakete aus Israel neue Kämpfer für Palästina gebiert. Eine „Nachbarschaft“, die unter Gebirgen von Angst und Aggression, von Überheblichkeits- und Minderwertigkeitsgefühlen vergraben liegt. Längst hat Ratlosigkeit und Erschöpfung alle Vermittlungsversuche ertränkt – und die Begriffe verwirrt: Umstritten ist weltweit, wer hier die „Terroristen“ sind – und wer die Opfer. Militants – „Kämpfer“ – nennt etwa die sonst so israelnahe große New York Times die in Österreichs Medien ganz anders beschriebenen Krieger der Hamas. Vieles in diesen Tagen mag neu und jenseits aller gewohnten Dimension sein: Die Feuerkraft und Brutalität der Angreifer. Das Ausmaß ihrer Geiselnahmen in den Grenzdörfern Israels. Auch das Anfangs-Totalversagen des unbesiegbar scheinenden israelischen Militärs – und das Ausmaß der jetzt nachfolgenden Vergeltung unter Gazas Zivilbevölkerung: Nach den Bomben und Raketen hat die totale Abriegelung der Stadt von Lebensmitteln, Medizin, Strom, Wasser und Treibstoff begonnen. Mindestens 1,2 Millionen Menschen des schmalen Landstreifens werden jetzt von der UNO am Leben erhalten werden müssen. Und noch weit mehr Gewalt und Elend drohen. Als wiederholter Augenzeuge des Dramas über nahezu 55 Jahre hat die Unversöhnlichkeit zweier Wahrheiten und die Logik des existierenden Wahnsinns wiederholt Einzug in meine FURCHE-Kolumnen gefunden – im (vergeblichen) Versuch, auch jenseits von Gaza, von Israel und Nahost ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu wecken. Und um uns mit einer heiklen Frage zu konfrontieren: Gibt es für so viel Unmenschlichkeit so etwas wie „Schuld“ – und wenn ja, wo? Meine Antwort wäre: Ja, auf allen Seiten – auch bei uns! Denn: – Vielleicht hat uns die horrende Erb-Last des Holocaust allzu lange verleitet, über Israels Verhalten gegenüber den Palästinensern lieber zu schweigen. – Vielleicht haben uns die Aussichtslosigkeit und Entwürdigung von Generationen Lesen Sie dazu die beiden FURCHE-Kolumnen „Jenseits von Gaza“ (20. 5.2021) sowie „Die Logik des Wahnsinns“ (9.1. 2009) von Heinz Nußbaumer auf furche.at. „ Zu den dunkelsten Facetten der Nahost- Tragödie gehört es, dass politische Führer – nicht nur in Gaza – ihre Gewalt auch mit religiösen Zielen rechtfertigen dürfen. “ palästinensischer Menschen zum stillen Verständnis ihrer terroristischen Gewalttaten verleitet. – Vielleicht hat uns eine globale politische Ermüdung den Aufschrei vergessen lassen, als Israel mit US-Beihilfe den Freibrief zur ungebremsten Siedlungstätigkeit, ja Annexion besetzter Gebiete bekam – in Jerusalem und Westjordanland. Und zum globalen Vergessen der Menschen von Gaza. – Vielleicht hat gerade im oft zitierten „Heiligen Land“ und in Jerusalem, der „Stadt des Friedens“, dieser gemeinsame Appell der großen Religionen gefehlt: „Es muss endlich Schluss sein, sich bei der Schändung der Menschlichkeit auf den Glauben berufen zu können“. Zu den dunkelsten Facetten der nahöstlichen Tragödie gehört es, dass politische Führungen – nicht nur im Hamas-regierten Gaza – ihre Gewalt auch mit religiösen Zielen rechtfertigen dürfen. So stehen wir heute vor der Schicksalsfrage, ob inmitten von all dem Wahnsinn nicht nur das Existenzrecht des palästinensischen Volkes, sondern – durch alle erwartbaren Vergeltungsschritte – am Ende auch die gesicherte Solidarität mit Israel und dessen Zukunft bedroht sein könnte. Der Autor war Journalist, Sprecher der Bundespräsidenten Waldheim und Klestil sowie bis Februar 2023 FURCHE-Herausgeber. Sie haben Fragen an das Bundeskanzleramt? service@bka.gv.at 0800 222 666 Mo bis Fr: 8 –16 Uhr (gebührenfrei aus ganz Österreich) +43 1 531 15 -204274 Bundeskanzleramt Ballhausplatz 1 1010 Wien ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich auf Ihre Fragen und Anliegen! bundeskanzleramt.gv.at
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