DIE FURCHE · 37 4 Das Thema der Woche Welche Werte wir wählen: Sicherheit 12. September 2024 Stadtpolizei statt Wache 15 Jahre nach ihrer Gründung sollte die Welser Ordnungswache laut den Plänen der FPÖ mit Pfeffer sprays und Bodycams ausgestattet und zur Stadtpolizei aufgewertet werden. Von Wolfgang Machreich Wer mit dem Bus – vom Bahnhof Wels kommend – am Kaiser-Josef-Platz in der Innenstadt aussteigt, steht auf der mit Natursteinpflaster ausgelegten Sicherheitspolitik der FPÖ-Stadtregierung. Die vor ein paar Jahren großzügig umgebaute Busdrehscheibe empfängt Gäste wie Einheimische mit viel Grün, mit Brunnen, mit Wasserspielen; und wenn es dunkel wird, erhellen hunderte Meter LED-Beleuchtungsbänder den Platz. Mit dem Herausputzen des Platzes verband der freiheitliche Bürgermeister Andreas Rabl das Ziel, „dem Sicherheits- und Drogenproblem am Kaiser-Josef-Platz“ ein Ende zu bereiten. Dafür wurde auch eine Polizeiinspektion auf den Platz verlegt. Der Lokalaugenschein bestätigt den Erfolg der Maßnahmen: Der Platz ist aufgeräumt und ausgeräumt, keine offensichtlich Drogenabhängigen, keine Bettlerinnen und Bettler, keine Obdachlosen. Freibadpatrouillen Nächste Station auf dem Stadtrundgang ist das Welldorado-Freibad an der Traun. „Echtes Badevergnügen gibt es nur, wenn man sich auch sicher fühlt“, erklärte Vizebürgermeister Gerhard Kroiß, ebenfalls FPÖ, zu Sommerbeginn und kündigte an, dass „speziell zum Schutz weiblicher und junger Badegäste vor Übergriffen“ die Ordnungswache der Stadt sowie die Polizei (in KICKL BEIM WORT GENOMMEN Wie ein Familienvater Lesen Sie dazu auch „‚Aktionsplan gegen Extremismus‘ – Ein Papier mit Sprengkraft“ (26.7.23) vom DÖW-Experten Andreas Peham. Bargeld ist für Herbert Kickl „gedruckte Sicherheit“. Neutralität ist für Kickl Sicherheit – und Österreich dürfe kein „Schaf“ in der US-geführten NATO-Schafherde werden. Auch dass Österreich und Europa „Festungen“ werden, ist für ihn Sicherheit. Diese und weitere Sicherheitsvorstellungen des FPÖ-Chefs finden sich im Buch „Kickl beim Wort genommen“ (Cernin Verlag) von Falter-Chefreporterin Nina Horaczek. Beklemmend, wie da einer die „Familie Österreich als Ort der Sicherheit“ herbeiredet, an deren Spitze „einer sitzt, ned a Feldwebel, ned a Kommandant, sondern einer, der für diese Familie ein guter Familienvater ist“. (wm) Wer sich ein Bild von der Sicherheitspolitik der FPÖ machen will, sollte das seit 2015 von einem freiheitlichen Bürgermeister regierte Wels besuchen. Ein Stadtrundgang. Sicher das Blaue vom Himmel Zivil) mit mehreren täglichen Rundgängen durch das Bad patrouillieren würden. Eine weiteres Projekt zur Förderung der Sicherheit für Frauen startet in zwei Wochen. Die Stadt erweitert das Angebot von Selbstverteidigungskursen – und 30 Teilnehmerinnen erhalten vom städtischen Frauenbüro geförderte Kursplätze, kündigte die Frauenreferentin „ Die Sicherheitsstrategie der Welser FPÖ besteht vor allem darin, ein Problem herbeizureden, das sie dann zu bekämpfen vorgeben. “ Werner Retzer, Welser Initiative gegen Faschismus und FPÖ-Vizebürgermeisterin Christa Raggl- Mühlberger an. Der Stadtrundgang durch Wels mit dem Fokus auf sicherheits relevante Maßnahmen ließe sich noch lange fortsetzen: Man könnte die heuer um 180.000 Euro neu installierten Beleuchtungsanlagen abgehen; oder die über das Stadtgebiet verstreuten 19 Kameras zur Videoüberwachung aufsuchen. Man kann aber auch einfach nur in die Aussendungen der Welser FPÖ schauen und findet dort eine sicherheitspolitische Maßnahme nach der anderen angekündigt – oder bereits umgesetzt und mit Bestnoten evaluiert. In Wels, so scheint es, ist die von Parteichef Herbert Kickl beim FPÖ-Oktoberfest voriges Jahr verkündete Vision für das Land bereits umgesetzt (siehe Kasten): „Diese Familie Österreich als Ort der Sicherheit, der Geborgenheit und der Zufriedenheit.“ Ein anderes als das in den FPÖ-Meldungen gezeichnete Bild von der Stadt und ihrer Sicherheitspolitik beschreibt Werner Retzer, Vorsitzender der Welser Initiative gegen Faschismus (Antifa). Wobei er die Bedeutung von sicherheitspolitischen Maßnahmen nicht kleinreden will: „Es wäre ja idiotisch, zu sagen, ich bin gegen Sicherheit.“ Die Sicherheitsstrategie der Freiheitlichen besteht für Retzer aber „vor allem darin, ein Problem herbeizureden, das sie dann zu bekämpfen vorgeben“. Als Beispiele für „öffentlichkeitswirksame Aktionen, die aber die Foto: Wolfgang Machreich Probleme nicht lösen, sondern nur an andere Orte verlagern“, nennt er die von der FPÖ forcierte Videoüberwachung und das von der Ordnungswache exeku tierte Bettelverbot. „Da wird immens viel Geld reingesteckt, während bei der Straßensozialarbeit gekürzt und bei den Öffnungszeiten der Jugendzentren der Rotstift angesetzt wird – das ist schon bedenklich.“ Die Welser Antifa hat eine Broschüre mit dem Titel „Die Einzelfälle der Welser FPÖ“ verfasst, die einen Blick „hinter Rabls schönen Schein“ bietet. Dabei gehe es der Initiative gegen Faschismus nicht darum, die Nächste Woche im Fokus: Arbeit des Bürgermeisters im Rahmen der Agenden seines Amtes zu kritisieren, so Retzer, „sondern wir konzentrieren uns auf Vorkommnisse, die unserer Meinung nach nicht mit dem antifaschistischen Grundkonsens der Republik Österreich vereinbar sind“. 14 solcher Einzelfälle in den vergangenen sechs Jahren werden aufgelistet. Sie reichen von der Förderung rechtsextremer Burschenschafter, der Stadthalle als Bühne für einen Holocaust-Verharmloser über die Aufstellung eines NS-Kultobjekts in der Fußgängerzone bis hin zur Diskriminierung von Minderheiten und Diffamierung von Andersdenkenden. Die Zahl und die Regelmäßigkeit dieser Einzelfälle zeigen für Retzer, dass es sich dabei nicht um bedauerliche „Ausrutscher“ handle, „sondern dass hinter der Fassade doch das typische FPÖ-Programm steckt“. Warum Bürgermeister Rabl dennoch 2025 politisch quasi unangefochten sein Zehn-Jahres-Jubiläum als Bürgermeister feiern wird, erklärt Retzer damit, dass Rabl „ein immens geschickter, rhetorisch äußerst begabter Mann“ sei, er „eine Eventkultur nach dem Modell Brot und Spiele“ betreibe – „und die Opposition nicht wirklich tatkräftig“ sei. Symptombekämpfung Johann Reindl-Schwaighofer ist SPÖ-Gemeinderat in Wels, war bis vor zwei Jahren Stadtrat für Kultur und Bildung und sagt, er sei „ganz klar in Opposition zur FPÖ in der Stadt“. Mit ihm kehrt der Welser Stadtrundgang wieder zum Kaiser-Josef-Platz zurück, weil dieser für ihn beispielhaft für die FPÖ- Politik ist: „Es geht immer ums Verdrängen, es werden nur die Symptome bekämpft, aber eine Lösung der Probleme wird nicht angegangen.“ Die Videoüberwachung in der Innenstadt habe nur dazu geführt, dass Drogenkranke auf andere Plätze ausgewichen seien. Als die FPÖ noch in Opposition war, erinnert sich Reindl-Schwaighofer, habe sie vehement gegen die Aufhängung eines Spritzenautomaten für Drogenkranke kampagnisiert. Jetzt aber erklärte die FPÖ- Sozialstadträtin in einer Gemeinde sitzung, dass der Spritzenautomat an einen geeigneteren Standort umgehängt werden solle, so Reindl-Schwaighofer. „Dann bin ich dagesessen und habe gedacht: Die FPÖ in Opposition würde sofort eine Kampagne dagegen starten. Aber es wäre ja widersinnig, wenn wir gegen eine vernünftige Lösung aufträten.“ Dasselbe Muster zeigt sich für Reindl- Schwaighofer bei den durchreisenden Sinti und Roma, die in Wels Zwischenstopp machen: „Das hat die FPÖ jahrelang skandalisiert. Jetzt sind sie ganz normal da, so wie früher auch, aber es gibt niemanden mehr, der das hochgabelt.“ Im scharfen Kontrast zur FPÖ-Präsentation von Wels als Musterstadt für Integration beklagt Reindl-Schwaighofer, dass es kein ausreichendes Budget für die Schulsozialarbeit gebe. Gerade in Schulen mit hohem Migrationsanteil sei aber der Bedarf sehr groß. „Wir haben elf Volksschulen und acht Neue Mittelschulen, aber nur eine Handvoll Schulsozialarbeiter“, rechnet er vor. „Aber dafür gibt es kein Geld, dabei gehört zur Sicherheit in einer Stadt wie Wels an vorderster Stelle auch soziale Sicherheit.“ Der Blick auf die Schwachen gehört zum programmatischen Kern der Sozialdemokratie. Doch ist der Fokus richtig justiert? Und was bedeuten Solidarität und Gerechtigkeit in heutigen (Migrations-)Gesellschaften überhaupt? Ein Fokus samt Gespräch mit dem Theologen und Philosophen Clemens Sedmak.
DIE FURCHE · 37 12. September 2024 International 5 Das Gespräch führte Jan Opielka Friedensgespräche statt „Kriegstreiberei“ – sowohl die in Teilen rechtsextreme AfD als auch das neue Bündnis von Sahra Wagenknecht, BSW, punkteten bei den Wahlen in Ostdeutschland mit dieser populistischen Forderung. Überraschend war das nicht. Vor allem im Osten wird die Ukraine-Politik der Ampel skeptisch gesehen. Der Jenaer Soziologe Klaus Dörre über die spezielle ostdeutsche Position und darüber, warum er das als Vorboten für den Westen begreift. DIE FURCHE: Herr Dörre, glauben Sie, dass das Wahlergebnis in Sachsen und Thüringen anders aussehen würde, wenn es den Krieg in der Ukraine und die damit einhergehende deutsche Positionierung nicht gäbe? Klaus Dörre: Es würde zwar nicht völlig anders aussehen, denn die AfD war in beiden Bundesländern schon vorher stark und hat eine Stammwählerschaft, die sie aus inhaltlicher Überzeugung wählt. Die Hauptthemen, die zur Zustimmung für die AfD sorgen, sind Migration, innere Sicherheit sowie soziale Absicherung. Das Thema Krieg kommt für die AfD-Anhänger auf Rang drei. Doch es gibt einen Zusammenhang mit dem Krieg, der von der Ampel, insbesondere von den Grünen, unterschätzt wurde: Der Krieg als solcher, aber auch die intensive Aufrüstung in Deutschland tragen dazu bei, dass Argumente zur ökologischen Nachhaltigkeit für viele Menschen unglaubwürdig werden. Dieser Krieg sowie die deutsche Beteiligung in Form von Waffenlieferungen stoßen in großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung auf Ablehnung, auch wenn diese Position in der medialen Öffentlichkeit kein Gehör findet. DIE FURCHE: Wie hängen ökologische Transformation und der Krieg zusammen? Dörre: Die Streichung der Umweltprämie beim E-Auto-Kauf oder die Verschiebung der Einführung des Klimageldes durch die Regierung in Berlin – das hat viel mit dem Ukrainekrieg zu tun. Der Widerspruch, den die Menschen sehen, ist schlicht: Ihr liefert Patriot-Raketen, die eine Million Euro pro Stück kosten, doch die Emissionen, die dabei entstehen, spielen offenbar keine Rolle. Viele fragen sich daher, warum ausgerechnet ihr Leben und ihre Wirtschaft verändert werden sollen. Vor allem die Grünen und die FDP erscheinen den Leuten als Kriegstreiber, die kein Wort zu Friedensverhandlungen oder auch zu den ökologischen Folgen des Krieges äußern. Der Philosoph Günther Anders (1902–1992) sagte vor Jahrzehnten: Die Rüstungsindustrie ist eine Doppelindustrie, die zum Konsum ihrer Güter tendiert und damit potenziell kriegstreibend ist. DIE FURCHE: Die Menschen sind also nicht einfach gegen den Krieg, „Die AfD ist auf dem Weg zur Macht“ sondern verbinden ihn mit der Sanktionspolitik und die deutsche Aufrüstung mit der eigenen, sozioökonomischen Situation? Dörre: Ja. Wenn sie in Thüringen oder Sachsen auf dem Land leben, dann erleben sie seit 30 Jahren, wie die Infrastruktur bröckelt und für nichts Geld da ist, um das zu ändern. Zugleich sehen die Menschen: Für Waffenlieferungen an die Ukraine ist genug Geld da, und auch – zumindest in ihrer Wahrnehmung – für die Geflüchteten. Sie dagegen scheinen leer auszugehen. Solche Überzeugungen sitzen tief und werden von den Rechten instrumentalisiert. Es gibt aber noch einen zweiten Grund. Viele Ostdeutsche fühlen sich überrumpelt, argumentieren, sie seien weder zu Waffenlieferungen noch zur geplanten Stationierung von US-Mittelstreckenraketen gefragt worden. Zu diesem weitreichenden Beschluss hatte es nämlich nie eine Bundestagsdebatte gegeben. Die Menschen haben das Gefühl, dass permanent über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. DIE FURCHE: Der Krieg in der Ukraine oder auch die Perspektiven auf Russland spielen offenbar in Ostdeutschland eine größere Rolle als in Westdeutschland. Warum? Dörre: Im Westen Deutschlands gibt es kein Gespür für den Osten, ein Drittel der Westdeutschen war noch nie im Osten. In der BRD – die dortige Friedensbewegung ausgenommen – galt ja während des Kalten Kriegs die Losung: Der Feind steht im Osten. In den ostdeutschen Bundesländern ist die Perspektive ambivalent. Fest eingegraben hat sich dort die Überzeugung, dass es ohne Russland keinen stabilen Frieden geben kann. Daher sagt etwa das BSW, man müsse auch mit Putin reden, und es brauche Sicherheitsgarantien auch für Russland. Es ist schwer zu sagen, woher das rührt, denn die Rote Armee ist dort keineswegs nur als Befreiungsarmee empfunden worden. DIE FURCHE: Spielen hier womöglich ökonomische Aspekte eine Rolle, „ Während in den neuen Bundesländern die Infrastruktur bröckelt und kein Geld da ist, um das zu ändern, schickt die Ampel Waffen ins Kriegsgebiet. “ In Thüringen und Sachsen sind viele davon überzeugt, dass antirussische Politik Schaden anrichtet, sagt der Soziologe Klaus Dörre. Warum sich der Unmut über die Ampel im Osten (zuerst) Bahn bricht. Lesen Sie auch das Dossier unter dem Titel „Zwischen Goethe und AfD“ auf furche.at. also die Verzahnung der ostdeutschen Wirtschaft mit Russland? Dörre: Ich denke, es gibt ein waches Bewusstsein darüber, dass das billige russische Gas vorteilhaft war. Die Menschen sehen, dass die hohen Energiepreise auch durch das Kappen der Verbindungen zu Russland zustande kommen. Industrielle Kernbereiche, etwa der Chemiegigant BASF, waren zu 50 Prozent vom russischen Gas abhängig und mussten das von einem Tag auf den KLARTEXT nächsten ändern. Bei der Krise im Stahlbereich spielen die Energiepreise ebenfalls eine Rolle. Daher empfinden viele Menschen das, was vor allem die FDP und die Grünen gegenüber Russland tun, als gegen die eigenen wirtschaftlichen Interessen gerichtet. Die Wohlstandsverluste, die indirekt und direkt mit dem Krieg zu tun haben, etwa die Inflation, sind in Deutschland gerade für die untere Hälfte der Einkommensbezieher enorm. Das erzeugt Frust China als Herausforderung In Wahlkampfzeiten laufen Ehrabschneidermeister aller Couleur zur Hochform auf. Da bleibt kein Platz für Anerkennung von Gelungenem. Die daraus erwachsende politische „Dunkelflaute“ sollte uns jedoch nicht daran hindern, auf Themen zu schauen, die spätestens nach der nächsten Regierungsbildung dringend neuer Lösungen bedürfen. Eines dieser Themen ist der Umgang Europas mit der chinesischen Herausforderung. Das Treffen von nicht weniger als 50 Staatschefs beim China-Afrika-Forum in Peking zeigte nämlich überdeutlich, dass Xi Jinpings industrie- und handelspolitische Initiative Früchte trägt. Und zwar für beide Seiten. Europa wird deshalb gut daran tun, Chinas Investitionen in Infrastrukturen von afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Staaten seinerseits mit einer Offensivstrategie zu begegnen. Denn bei allen bisherigen, durchaus großvolumigen Programmen hapert es merklich an deren zügiger Umsetzung. Foto: Stella Weiß Klaus Dörre ist Professor für Arbeits soziologie an der Friedrich- Schiller-Universität in Jena, Thüringen. Er erforscht etwa, wie die Stimmung in Unternehmen bei AfD-Unterstützern ist. und befeuert in Ost- mehr als in Westdeutschland das Misstrauen gegenüber den Eliten – Politikern, Wissenschaftlern und Wirtschaftskapitänen. Doch das, was im Osten geschieht, kann auch im Westen passieren: In Hessen etwa ist die AfD zweitstärkste Partei. DIE FURCHE: Nun stehen in beiden Bundesländern Koalitionsgespräche an – auch mit dem BSW, das deutlich unterstreicht, im Ukrainekrieg auf Verhandlungen zu setzen. Wie kann hier mit der CDU eine Koalition entstehen, die für weitere Waffenlieferungen ist? Dörre: Der thüringische CDU- Spitzenkandidat Mario Voigt würde alles tun, um Ministerpräsident zu werden. Aber es ist klar, dass er das nicht auf einer Basis erreichen kann, die, wie es Sahra Wagenknecht fordert, etwa die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen in Deutschland ausschließt. Wenn Wagenknecht bei dieser Forderung bleibt, wird es keine Regierungsbildung mit dem BSW geben. Denn die CDU kann von der Länderebene aus nicht die bundesdeutsche oder die NATO-Politik gegenüber der Ukraine und Russland infrage stellen. Doch es gibt auch in der CDU andere Stimmen. Nach den Landtagswahlen hat der CDU- Kanzlerkandidat von 2021, Armin Laschet, sich dagegen ausgesprochen, dass seine Partei eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei und dem BSW vorab ausschließen sollte. Laschet sagte auch, dass man über die Stärkung diplomatischer Initiativen im Ukrainekrieg offen sprechen und zugleich eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschließen müsse. Das zeigt, dass es auch in der CDU Pragmatiker gibt. DIE FURCHE: Angenommen, die Anti- AfD-Koalitionen kommen zustande, bringen aber keine signifikanten Änderungen und der Krieg geht weiter – landet die AfD irgendwann bei über 40 Prozent? Dörre: Die Gefahr ist groß. Deshalb sage ich: Ich sehe die AfD auf dem Weg zur Macht, auch wenn sie jetzt noch nicht regiert. Umgekehrt gibt es auch ein Risiko: Würde man jetzt die AfD in die Regierung lassen, dann würde sich eine Zusammenarbeit zwischen radikalen Rechten und Mitte-rechts etablieren. Dass eben erst Dänemark mit einer Initiative zur Zusammenarbeit mit afrikanischen Staaten auf sich aufmerksam machte, ist kein Zufall: Offensichtlich sieht Ministerpräsidentin Mette Frederiksen in dieser Aufbauhilfe eine notwendige wie kluge Ergänzung zu ihrer konsequenten Migrationspolitik. Eine ganz andere Front tut sich inzwischen handelspolitisch auf. Unter Ausnutzung einer längst überholten Bestimmung, die neben stark gesenkten Postgebühren Zollfreiheit für Pakete aus China mit Waren unter dem Wert von 150 Euro vorsieht, erreichen uns allein in Österreich derzeit täglich 30.000 Pakete chinesischer Billiganbieter. Da gäbe es akuten Handlungsbedarf, um die Insolvenzquote im heimischen Handel nicht noch weiter ansteigen zu lassen. Sich darum zu kümmern: Dafür sollte auch neben all der Wahlkämpferei Zeit sein! Der Autor ist Ökonom und Publizist. Von Wilfried Stadler
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