DIE FURCHE · 37 20 12. September 2024 Von Manuela Tomic Tanzwut MOZAIK Auf einem Homevideo tanze ich unermüdlich zu jugoslawischer Rockmusik auf unserem weißen Plüschsofa. Während ich wie narrisch hüpfe, hält mich Vater mit einer Hand fest. Hin und wieder nippt er an seinem Rakijaglas. Trunken blicke ich, die Einjährige, in die Kamera, deren Linse noch dunkler als meine Augen ist. Unlängst begegnete ich meinem eigenen Blick wieder, als ich im Oberen Belvedere das Gemälde „Tanzender Derwisch“ von Lovis Corinth sah. Der närrisch-weise Gesichtsausdruck des halbnackten Mannes, der verzückt auf der Leinwand taumelte, warf mich zurück aufs Plüschsofa. Auf dem Balkan drehen sich die Sufi-Derwische seit vielen Jahrhunderten um ihre eigene Achse. Sie gelten als Quelle der Weisheit, Heilkunst und Poesie. Beim Schreiben schwindelt auch mir, wenn ich mich um mich selbst drehe. Vielleicht tobt in meinen Sätzen wie in meiner Kindheit die Tanzwut der alten Derwische fort. Minutenlang starre ich auf das Gemälde. Jugoslawische Rockmusik brummt aus meinen Kopfhörern. Das Videoband dreht sich in meinem Kopf. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Illustration: Rainer Messerklinger Foto: APA / EXPA / Johann Groder Buddha, schau oba! Berg- und Weltensammler Reinhold Messner, sinnierend im Schlossgarten seines Bergmuseums Sigmundskron. Der „Bergpapst“, der sein Kletterleben lang ein „Berg-Anarch“ war, feiert Geburtstag. Reinhold Messner revolutionierte das Höhenbergsteigen – und polarisierte wie kaum ein anderer. 8000er-Sisyphus seit 80 Jahren Von Wolfgang Machreich Entweder vergöttert oder verteufelt – „doch vermenscht“ haben Medien, Öffentlichkeit und Bergsteigerzunft Reinhold Messner nie. Das wird ihn, das kann ihn an seinem 80. Geburtstag am 17. September als Erfolg freuen, wahrscheinlich sogar als größten Erfolg seines Lebens. Denn Messner wollte im Laufe seiner Alpinbiografie bereits früh nicht nur Berggipfel erklimmen; sein eigentliches Ziel war, über die Berge aus dem Menschen, aus seinen körperlichen und geistigen Beschränkungen, ausund hinauszusteigen. Man kann es Messner als ehrliches Selbstverständnis abnehmen, wenn er seine Bergsteigerei „mehr von seelischen Kräften als von körperlicher Fitness getragen“ und „mehr spirituell als „ Messners Freundwie Feindmedien waren froh, dass der ‚Berg-Anarch‘ die damalige Bergsteigerszene in Kniebundhosen in Wallung brachte und die Quoten steigerte. “ sportlich“ beschreibt. Oder man kann das als spirituelle Behübschung und Vermarktungsgirlande dieses „ungeheuer cleveren Körper- Selbstverwerters“ abtun, wie es die deutsche Illustrierte Quick 1980 tat. Doch bereits 1965, Messner war damals 21 Jahre alt, schrieb er in der Zeitschrift Alpinismus: „Wenn ich eine Maschine zwischen mich und den Berg schalte, kann ich keine wesentlichen Erfahrungen machen.“ Messner kritisierte damals den Einsatz von Sauerstoff geräten beim Höhenbergsteigen; genauso wie er beim Felsklettern gegen den Zeitgeist des „Hinaufnagelns“ mit technischen Hilfsmittel polemisierte und die Ideale des Freikletterns propagierte. Was den Bergsteiger Reinhold Messner von allen anderen Bergsteigern seiner Generation unterschied, war seine alpine Kreativität, sein Ideenreichtum in Fels und Eis, seine Fähigkeit, neue Wege zu denken und diese dann zu gehen. So hat er den bis dahin als unmöglich erachteten siebten Schwierigkeitsgrad in den Kletterwänden der Alpen „erfunden“; ebenso hat er das Himalaya-Bergsteigen mit Klein- und Solo-Expeditionen sowie ohne die Zuhilfenahme von künstlichem Sauerstoff revolutioniert. Der italienische Ausnahmebergsteiger Walter Bonatti hat dem jungen Messner 1971 sein alpines Vermächtnis „Die großen Tage“ („I giorni grandi“) gewidmet: „Für Reinhold Messner, der jungen, letzten Hoffnung des großen, klassischen Bergsteigens.“ Das klingt übertrieben, doch der junge Wilde aus St. Peter im Dolomitental Villnöß hat tatsächlich die Richtung des extremen Alpinismus mehr als jeder andere vor und nach ihm geprägt – oder, wie ihm der Spiegel einmal zuschrieb: „Reinhold Messner hat die Entwicklung der Technik gestoppt, auf dass der Mensch sich weiterentwickeln kann.“ So wie ihn die einen (Boulevard-)Medien aufs Podest hoben, so schrieben ihn andere hinunter, siehe das obige Zitat aus der Illustrierten Quick. Aber Messners Freund- wie Feindmedien waren froh, dass dieser „Berg-Anarch“ die damalige Bergsteigerszene in ihren Kniebundhosen und Trenker-Hüten in Wallung brachte und damit die Zeitschriftenauflagen und die Einschaltquoten steigerte. „Für einen guten Ruf zahlt man gewöhnlich zu viel – nämlich sich selber“: Dieser Spruch ist im Eingangsbereich des Messner Mountain Museums Firmian auf Schloss Sigmundskron bei Bozen auf eine Glasscheibe geschrieben. Das Zitat stammt von Friedrich Nietzsche. Der „Philosoph mit dem Hammer“ ist nicht umsonst Messners Lieblingsdenker und liefert ihm als solcher den philosophischen Überbau für sein Lebensmodell – als alle Konventionen und Tabus übersteigender, überkletternder „Übermensch“. Der ist Messners Vorbild: kein Ungeheuer, wie er sagt, sondern die philosophische Vorlage für den Abenteurer als Archetyp eines selbstbestimmten Menschen und souveränen Individuums. Das Nietzsche-Zitat steht am Beginn der Museumsausstellung, in der es um die Auseinandersetzung Mensch/Berg geht. Das ist in Messners Lebenslogik nur konsequent, denn die eigentlichen Auseinandersetzungen führte er immer auf und mit den Bergen – gegen Menschen, die ihn anfeindeten, anschütteten, anzeigten. Brudermord, dieses Verbrechens biblischer Dimension wurde Messner nach seiner ersten 8000er-Expedition beschuldigt. 1970 kehrte er allein von einer Besteigung des Nanga Parbat zurück, sein Bruder Günther starb unter einer Lawine. Für die erste Überschreitung eines Achttausenders habe der ältere das Leben des jüngeren Bruders geopfert, lautete der Vorwurf. Nur eine Ausnahmeerscheinung wie Reinhold Messner hat man so angegriffen. Nur ihm traute man so etwas zu, weil man ihm alles zutraute. Vorwurf Brudermord Jedem anderen Bergsteiger, der unter derartig widrigen Umständen (Nacht, Erschöpfung, kein Seil …) vom Nanga Parbat absteigen musste, hätte man die Abzweigung in die andere, anfangs leichtere Seite des Berges zugestanden. Nicht so Messner. Bei ihm vermutete man einen von alpinem Ehrgeiz getriebenen Plan dahinter. Es half nichts, dass Messner stets beteuerte: „Es war ein Abstieg in die Verzweiflung, nicht ein Einstieg in eine große Wand.“ Trotzdem unterstellte man ihm nicht Not, sondern Kalkül, keinen vom Berg in dieser Situation auferlegten Zwang, sondern einen lange gehegten Plan. In einer Bergdoku, Jahre nach dem Unglück, möchte Regisseur Werner Herzog von Messner über dessen Rückkehr ohne Bruder wissen: „Wie bist du deiner Mutter vors Angesicht getreten, wie war das?“ Stille. Dann schlägt Messner die Hände vorm Gesicht zusammen, schluchzt: „Meine Mutter hat es viel besser verstanden als alle anderen Menschen. Und trotzdem war es so schwierig.“ In seinem 1977 erschienenen Buch „Die großen Wände“ schrieb Messner: „Jedenfalls habe ich mir im Kreuzfeuer der Kritik des Öfteren gewünscht, zusammen mit Günther in der Diamirflanke verschüttet worden zu sein.“ Für den Alpinismus war es ein Glücksfall, dass nicht beide Messners umgekommen sind und Reinhold Messner als Sisyphus, wie er sich selbst einmal nannte, weiter seine Vorstellung eines selbstbestimmten Menschen auf die Berge ausgerollt hat. Auf den Stufen eines Stiegenaufgangs im Messner-Museum steht: „Ich wollte einmal hoch hinaufsteigen, um tief in mich hinabzusehen.“ Sehr oft, sehr hoch ist Messner hinaufgestiegen. Zu seinem 80er bleibt ihm nur zu wünschen, dass er mit seiner Familie die aktuellen Streitigkeiten überwinden und auch auf dieser Tour eine gemeinsame Gipfelstunde feiern kann. Lesen Sie dazu „8848 Meter kalkulierter Irrwitz“ vom 3. Mai 2018 zum 40. Jahrestag der Everest- Besteigung ohne Flaschensauerstoff durch Messner und Peter Habeler auf www.furche.at.
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