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DIE FURCHE 12.01.2023

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DIE FURCHE · 2 8 Religion 12. Jänner 2023 Von Wolfgang Treitler Seit dem Jahr 2000 begehen in Österreich die christlichen Kirchen am 17. Jänner den Tag des Judentums. An ihm soll ein Zweifaches besonders bewusst werden, wie Martin Jäggle, Präsident des Koordinierungsausschusses für jüdisch-christliche Zusammenarbeit, auf katholisch.at schreibt: Dabei sollen sich die Christen in besonderer Weise ihrer Wurzeln im Judentum und ihrer Weggemeinschaft mit dem Judentum bewusst werden. Zugleich soll auch das Unrecht an jüdischen Menschen und ihrem Glauben in der Geschichte thematisiert werden. Die Metapher der Wurzel stammt aus dem Römerbrief (Röm 11,18) und folgt auf den Hinweis, dass die auf den Ölbaum aufgepfropften Zweige, die hinzugekommenen neuen, nichtjüdischen Gemeinschaften, nicht auf die organisch am Ölbaum gewachsenen Zweige herabschauen sollen. Was Paulus anspricht, ist ein Zweifaches: • Erstens: Der Ölbaum, das heißt Israel, ist ein vollständiger, ganzer Baum, ein organischer Verband von Wurzel, Stamm, Ästen und Zweigen. Die jüdische Gemeinschaft ist für Paulus kein Wurzelstumpf, aus dem ein anderen Ast treibt, der sich zum Stamm auswächst. Solche Deutungen wurden in der Kirchenväterzeit entwickelt, brechen jedoch das Gleichnis des Paulus ab und setzen etwas anderes an seine Stelle. Dass diese Deutungen wirksam geworden sind, war tragisch für das Judentum und – in ganz anderer Form, weil sich die Kirche ab dem vierten Jahrhundert erfolgreich mit der politischen Herrschaft verbunden hatte – für das Christentum, das seinen eigenen Grund verdrängte, vergaß und die Erinnerungen daran rhetorisch und mit Gewalt bekämpfte. • Zweitens: Dass überhaupt eine sich vom Judentum loslösende Religion entstehen würde, deutet das Gleichnis nicht an. Der Ölbaum steht, und was die neuen Gemeinschaften, die messianische Gemeinschaften sind, kennzeichnet, ist, dass sie jüdische messianische Gemeinschaften sind. Sie mögen andere Schwerpunkte setzen, die strittig sind; doch sie gehören mit allem GLAUBENSFRAGE Von seiner Fülle … Aharon Appelfeld Der in Czernowitz geborene israelische Literaturprofessor und Schriftsteller verstarb am 4.1. vor fünf Jahren. „Sagen Sie ihnen: Wir sind Juden“ Von Ines Charlotte Knoll seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade“, schreibt Johannes in seinem Prolog. Es ist eindeutig: „Von Wir haben das Alphabet und die Sprachlehre von der Erde. Alles ist uns ja eingeschrieben als unser geheimes Wissen von uns und unserem Leben. Wir wüssten genau, wie Leben geht, doch wir haben neue Sakramente erfunden und die entsprechenden Ikonen, sich selbst repräsentierend und Gegensinn als Sinn an uns verteilend. Die Propagandamaschine funktioniert wie eh und je. Im Takt der Liturgien einer angesagten Zeitstruktur klicken und ticken wir falsch. Dass die Geschichte sich wiederholt, irritiert uns in einer alle Generationen verstörenden Gewissheit. „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.“ Ein Nienoch-Glück könnte aufsteigen, hinein in unsere Zeit und ihre Höllen; denn das Lichtwunder eines Menschenlebens bekundet mit Haut und Haar und Blick und Schritt die ewigtiefe Sehnsucht Gottes nach der Weltwirksamkeit des Lichtsinns. Wenn alle wollen, drehen die Panzer wieder um. Findet die Kugel einen Weg zurück in die Fabrik, in der die Herstellungskonzepte neu überarbeitet werden unter der Rücksprache mit der zwanzigjährigen Greta Thunberg, nach dem Motto eines schon alten beliebten Zitates: „Alles muss sich ändern, und zwar heute.“ Ähnlich unterwegs in ihrem Schaffen und Leben war die am 10. Jänner 1923 in Berlin geborene Schriftstellerin Ingeborg Drewitz: „Engagiert schreiben war kein Programm, sondern Notwendigkeit“, schrieb sie, die Zeit des Nationalsozialismus aufarbeitend. Die Menschen, mit denen sie lebte, „der Ort, die Jahrzehnte haben mich Erfahrungsschüben ausgesetzt“. Sie hätten ihr „Ideologien ebenso fragwürdig gemacht wie Dogmen“. Das ist auch eine ganz eigene Fülle der Gottheit! Von dieser Fülle können wir desgleichen nehmen Gnade um Gnade. Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i. R. Markus Hildenbrand rezensierte am 2.2.2012 Aharon Appelfelds Roman „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“, siehe „Vielfacher Verlust“ auf furche.at. Mit dem jüdischen Literaten Aharon Appelfeld (1932–2018) das Verhältnis Juden und Christen reflektieren: Überlegungen zum Tag des Judentums am 17. Jänner. zum Judentum. Den Messias finden sie nur im Judentum, Paulus finden sie nur im Judentum, die Beziehung von Tora und Evangelium geht nur angesichts des Judentums auf als eine messianische Variation, die Paulus entfaltet. So gesehen resultieren die nachfolgenden und sich manchmal katastrophal zuspitzenden Probleme aus dem, was der jüdische Religionsphilosoph Daniel Boyarin das „Hijacking“ jüdischer Texte durch die Heidenchristen genannt hat: Sie wollten den jüdischen Ton dieser Texte nicht mehr hören, konnten ihn irgendwann auch nicht mehr verstehen und schlugen sich diese Texte als eigene Texte der nun entstehenden christlichen Religion zu. Die Schärfe, die diese Texte in der Folge gegen die jüdischen Gemeinschaften annahmen, gründen in diesem „Hijacking“. Was innerjüdische Fragen waren mitsamt der Polemik, die sie kennen, nimmt die Form von Gerichts- und mitunter Vernichtungsbotschaften an, die von außen gegen die jüdischen Gemeinschaften mobilisiert werden – ein Verfahren, das den Großteil der Kirchenväterzeit kennzeichnet: Der Übersetzer der Bibel ins Lateinische, Hieronymus, empfand es in seiner Zeit bereits als notwendig, vor Kontakt mit Juden zu warnen, weil diese dadurch nicht christlich, doch die Christen jüdisch werden, und warnte davor als dem entscheidenden Abfall vom Glauben. „ Christ(inn)en, die sich ihrer wirklichen und nicht herbeigeredeten Grundlagen vergewissern wollen, finden diese im Judentum, nicht im Christentum. “ Am Tag des Judentums trägt deshalb die Erinnerung an einen Propheten etwas zur Revidierung dieses missratenen Verhältnisses bei, an den Propheten Sacharja, der in den frühen messianischen Schriften des Christentums, dem Neuen Testament, wichtig war. Bei ihm liest man von den messianischen Tagen: „So spricht der HERR der Heerscharen: In jenen Tagen werden zehn Männer aus Nationen aller Sprachen einen Foto: picturedesk.com / dpa / Sara Lemel Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch.“ (Sach 8,23) Im Markusevangelium wird das in die Geschichte der Heilung der blutflüssigen Frau gefügt, die Jesus am Gewand berührt hat, und damit Jesus als Messias gedeutet. Das passt zu Paulus’ Gleichnis. Der Prophet, Paulus und das Evangelium nach Markus benennen Israel als Substanz der messianischen, das heißt der christlichen, Gemeinschaften und den Weg mit Israel als die große, tragende Zugehörigkeit. Messianische Glaubende, also Christinnen und Christen, werden mit dem Judentum mitziehen. Warum sollte das nicht integrierbar sein auf beiden religiösen Seiten, auf der des Judentums und auf der des Christentums? Dagegen stehen jedoch wohl alle genormten Selbstdeutungen kirchlicher Lehren und Praxis, und das bildet einen konfessionsübergreifenden Konsens, der seit dem dritten und vierten Jahrhundert christentumsbegründend geworden ist. Ein versäumter Augenblick Und dennoch: Möglich ist es und zu Zeiten notwendig, diese Zugehörigkeit herauszustellen und zu leben. Als Israel im Sechstagekrieg 1967 knapp daran war, von der Landkarte gelöscht zu werden, brachen in Israel nicht nur die Traumata der Schoa-Überlebenden und mit ihnen die Diskurse über die Schoa plötzlich auf, sondern machten sich ein paar deutsche Bischöfe nach Israel auf, um dem Land ihre Solidarität zu bezeugen. Ratlos darüber, wie sie den Israelis das am deutlichsten zeigen könnten, riet ihnen Aharon Appelfeld, den man zu einem Gespräch mit ihnen hinzugezogen hatte: „Sagen Sie ihnen: Wir sind jüdisch.“ Das könnten sie nicht, gaben sie todernst zur Antwort, sie seien doch keine Juden … Ein Fehler in dieser Stunde. Ein versäumter, entscheidender Augenblick. Nachwirkung einer verkehrten christlichen Selbstdeutung, deren Anfänge ganz anders standen. Mit dem großen Literaten Aharon Appelfeld, dessen fünfter Todestag auf den 4. Jänner 2023 fiel, war ich auf einen Menschen getroffen, der mich eingeladen hatte, fast zehn Jahre mit ihm zu gehen, nicht unähnlich dem, wovon Sacharja geschrieben hatte. Die Botschaft dieser Jahre gemeinsamen Gehens wurde immer entschiedener und klarer und fasst sich in zwei Brennpunkten zusammen: • Erstens: Die christlich so tief imprägnierte antijüdische Lebenskultur Europas lässt sich nicht theoretisch und rhetorisch aufbrechen; sie wird bearbeitet und überwindbar, wenn man jüdische Menschen kennenlernt und mit ihnen geht. Mehr als sonst gilt hier Martin Bubers These: Alles Leben ist Begegnung. • Zweitens: Christ(inn)en, die sich ihrer wirklichen und nicht herbeigeredeten Grundlagen vergewissern wollen, finden diese im Judentum, nicht im Christentum. Und dann können sie in entscheidender Stunde zu dem Bekenntnis finden, dass sie jüdisch sind, anders als Jesus und Paulus, aber doch ähnlich wie sie und nicht ohne sie. Dann ist der Tag des Judentums kein Anlass nur für eine Mahnung, sondern Erinnerung an einen gemeinsamen Weg, den einzigen, der christlich zieht. Der Autor ist Prof. f. Fundamentaltheologie an der Kath.-Theol. Fakultät der Uni Wien. Tag des Judentums 2023 Eine Übersicht über die Veranstaltungen rund um den 17. Jänner 2023 findet sich unter: tagdesjudentums.christenundjuden.org

DIE FURCHE · 2 12. Jänner 2023 Gesellschaft/Philosophie 9 Alles ist von allem abhängig und wirkt aufeinander ein: Das ist das Verständnis des in den Anden verbreiteten Weltbildes des Buen vivir. Ein Gespräch mit dem Theologen und Philosophen Josef Estermann darüber, welche Lehren der Westen daraus ziehen kann. „Ein Teil der Lösung sein“ Das Gespräch führte Victoria Schwendenwein Das Jahr 2023 ist noch jung, aber viele punktuelle Neujahrsvorsätze sind bereits wieder verworfen. Ein dauerhaftes Streben nach gutem Leben bietet das in den Anden verbreitete Konzept des Buen vivir. Der Missionswissenschafter Josef Esterman hat 17 Jahre lang in den Anden gelebt und an Universitäten in Bolivien unter anderen Religionswissenschaften und Philosophie gelehrt. Als Experte für den lateinamerikanisch-europäischen Dialog im Kontext von Kultur und Religion spricht er im FURCHE-Interview über den gemeinsamen Nenner bei der Suche nach den Ursachen aktueller Krisen und darüber, dass es mehr als Schwarz und Weiß gibt. DIE FURCHE: Wir leben in einer Zeit multipler Krisen. Plakativ gefragt: Was stimmt denn mit dieser Welt nicht? Josef Estermann: Ich glaube, man muss unterscheiden zwischen der einen und der anderen Welt. Der Globale Norden hat sich in den letzten 50 Jahren immer mehr Ressourcen gesichert und diese selbst auch für sich selbst aufgewendet, während der Globale Süden zu kämpfen hat mit etwas, das man „Rohstofffluch“ nennt: Er hat Rohstoffe, aber kann sie nicht selbst verarbeiten. Er ist darauf angewiesen, diese zu exportieren – in den Globalen Norden. Dann kommt die Klimakatastrophe dazu, die auch wieder alle ungleich trifft. Es gibt viele Phänomene, Symptome von Krisen verschiedenster Art; aber es gibt, und das ist meine These, einen gemeinsamen Nenner, wenn es darum geht, nach den Ursachen zu suchen. Es findet seit der Industrialisierung eine einseitige Entwicklung statt: Die Frankfurter Schule hat das den „eindimensionalen Menschen“ genannt. Der Mensch ist immer mehr darauf aus, seinen Reichtum zu vermehren, seinen Wohlstand zu vergrößern, sei es auf Kosten anderer, im Globalen Süden – sei es auf Kosten dessen, was wir Natur nennen. DIE FURCHE: Als Reaktion auf diese extremen Entwicklungen bilden sich zum Teil radikalisierende Bewegungen heraus. Wie soll man damit umgehen? Estermann: Man muss verschiedene Ebenen unterscheiden, auf denen man reagieren oder agieren kann. Es gibt die politische Ebene, die mittlere Ebene der zivilgesellschaftlichen Kräfte, wo auch einiges an Bewusstseinsveränderung vorhanden ist und sich allmählich durchsetzt. Zum Beispiel im Globalen Norden die Erkenntnis: Wir sollten doch unseren Lebensstil ändern! Die dritte und unsichtbare Ebene ist die Frage der Mentalitäten. Was passiert mit unserem Bewusstsein weltweit? Da gibt es viele Ansätze, die versuchen, an ihren Orten, in ihren Kontexten etwas zu bewegen. Manchmal machen wir es uns etwas zu leicht. Es drängt alles, und dann ist man sehr schnell beim Aktivismus. Gleichzeitig sollte man sich bewusst sein, woher das Ganze kommt. Stimmt etwas nicht mit unserer Philosophie, die das Ganze antreibt? Für mich ist es erstaunlich, dass die Errungenschaften der Aufklärung und der Französischen Revolution zu Foto: Privat Illustration: iStock/Annandistock (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Ein Forschungsschwerpunkt des Schweizer Theologen und Philosophen J. Esterman ist der lateinamerikanisch-europäische Dialog. Menschenrechten und Demokratie geführt, aber zeitgleich Kolonialismus, Imperialismus und Sklaverei gebracht haben. An diesem Widerspruch kranken wir noch immer. DIE FURCHE: Worin unterscheidet sich nun die Lebensphilosophie der Anden von europäischen Ansätzen? Estermann: Hier im Westen sind wir erstens gewohnt, in Oppositionen zu denken: wahr oder falsch, schwarz oder weiß, männlich oder weiblich – und zwar immer in einem ausschließenden Sinn. Das ist ja auch die Grundlage für die Informatik: Es gibt nur null und eins. Das hat einen großartigen Fortschritt nach sich gezogen, diese Reduktion auf Opposition. Zweitens sind wir gewohnt, diskursiv zu denken, wie ein Weg, in einer Kette logischer Abfolgen: erst A, dann B, dann C. Wenn ich das in den Anden in Südamerika betrachte, dann sind beide Voraussetzungen nicht gegeben. Es wird erstens nicht in ausschließenden Oppositionen gedacht, sondern in einschließenden Polaritäten. Es gibt natürlich Unterschiede, aber sie dynamisieren einander. Sie entsprechen einander und bringen deshalb etwas Neues hervor. Zweitens ist die andine Zeitauffassung eine nicht lineare: Man geht nicht einfach von A nach B – sondern vielleicht auch wieder von B nach A. Das ist eine Art Wiederaufnahme dessen, was noch nicht zu Ende gebracht worden ist. Im Westen verläuft die Zeit in einer Linie, vielleicht im Zickzack, im andinen Denken in einer Spirale – etwa durch ein Zurückkommen auf das, was schon da ist, aber auf einer höheren Ebene. Das zyklische Denken ist typisch für die andine Welt. Das ist natürlich näher bei organischen Prozessen – meteorologisch, astrologisch, agronomisch und auch lebenszyklisch – und dementsprechend näher bei solchen Prozessen, die wir im Westen durch die Technologie etwas aus den Augen verloren haben. DIE FURCHE: Bedeutet das, wir sollten ein „Recht“ haben, analog zu leben? Estermann: Ja, in einem gewissen Sinne geht es schon um das Recht, analog zu sein. Das heißt, diese Rückführung künstlicher Prozesse auf „natürliche“. Es geht um eine Zurückführung auf das Bewusstsein, dass der Mensch Teil dieser Prozesse ist, und nicht Beobachter, Objekt oder nur Gestalter. Das Bewusstsein, dass wir Teil des Ganzen sind, haben wir jetzt auch mit der Pandemie und der Klimakrise neu geschärft. Wir stehen nicht einfach über der Natur und können nicht darüber verfügen, was im großen Ganzen, nicht nur auf dem Planeten, geschieht. Dieses Bewusstsein der Allverbundenheit ist verlorengegangen durch die unglaublichen technologischen Fortschritte der letzten 50 Jahre. „ Wir stehen nicht einfach darüber und können nicht verfügen, was im großen Ganzen auf unserem Planeten passiert. Dieses Bewusstsein ist durch den Fortschritt verlorengegangen. “ Paradigmen Das gemeinschaftliche Weltbild des Buen vivir stellt Zusammenhänge vor Trennendes. Eine deutliche Alternative zu egozentrisch geprägten Paradigmen des westlichen Weltbildes. Die ungekürzte Version des Gesprächs finden Sie online auf furche.at. DIE FURCHE: Verlorengegangen ist auch das Verständnis für Menschen, die anders denken. Ist die Lebenswelt der Anden ein Vorbild in puncto Interkulturalität? Estermann: Da wäre ich vorsichtig. In den Anden gibt es durchaus große Unterschiede. Man muss die andine Welt natürlich auch als Resultat einer langen Kolonialgeschichte von 500 Jahren verstehen. Es gibt nicht einfach eine romantische Idee von Menschen, die noch eine gewisse Unschuld bewahrt haben, wie es war, bevor die Europäer auf dieses für sie unbekannte Land gestoßen sind. Der Kolonialismus hat im Sinne von Entfremdung von den eigenen Wurzeln und den Lebensweisheiten eine große Bedeutung; auch Durchmischung gibt es – man spricht nicht zufällig in Lateinamerika vom „Mestizentum“, also der Mischbevölkerung aus Indigenen, zum Teil mit afrikanischen Wurzeln, und der weißen Bevölkerung der Kolonisatoren. Das geht auch nicht immer ohne Konflikte ab. Politisch gesehen ist die indigene Bewegung noch relativ jung. Es gab zwar während der Kolonialzeit immer wieder Aufstände, aber nicht als politischer Player in einem demokratischen Prozess. Man darf sich daher nicht vormachen, dass die vorhin genannten Ideen andiner Philosophie vorherrschend seien. Nein, das sind Minderheitspositionen. Die große Mehrheit der lateinamerikanischen Bevölkerung ist auf den neoliberalen konsumorientierten Zug aufgesprungen. DIE FURCHE: Wie verbreitet ist dann die Philosophie des „Buen vivir“ überhaupt? Estermann: In den letzten Jahrzehnten hat sich sehr viel getan. Lateinamerika war lange Zeit der katholische und von Europa geprägte Kontinent schlechthin. Die katholische Kirche ist ganz klar auf dem Rückzug. Das hat mit Säkularisierungsprozessen und mit dem Aufkommen neuer religiöser Bewegungen zu tun. Man kann aber feststellen, dass das Bewusstsein für die indigene Bevölkerung zunimmt, denn politisch, kulturell und gesellschaftlich gibt es immer mehr indigene Bewegungen, die zum Teil sogar Regierungsverantwortung übernehmen, etwa in Bolivien, Peru oder Ecuador. Das ist eine Neuerung, heißt aber nicht, dass sich diese indigenen Bewegungen von Christentum und Mestizen tum abgrenzen. Vielmehr sind sie synkretistisch verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. DIE FURCHE: Welche Lehren für die Gestaltung eines globalen „guten Lebens“ lassen sich nun aus diesen Erkenntnissen ziehen? Estermann: Wir sollten uns einfach inspirieren lassen vom Anderen und von anderen Möglichkeiten, wie man Welt auch noch gestalten kann. Etwas mehr Bewusstsein schaffen für große Zusammenhänge und gegenseitige Abhängigkeit, von Interdependenz, dass wir als Menschen nicht die Krone der Schöpfung sind und deshalb über die Welt herrschen können. Wir sind Teil des Ganzen und haben als solcher unsere Rolle, durch die wir zu einem größeren Gleichgewicht beitragen können und sollen. Der Begriff der Balance, der Komplementarität von Polaritäten von verschiedenen Elementen ist entscheidend in den Anden. Leben und Wirklichkeit müssen immer wieder ins Gleichgewicht kommen. Ist dies nicht der Fall, gerät die Welt aus den Fugen. Dann entstehen solche Folgen wie Pandemien, Klimakatastrophen und Krieg. Unsere Aufgabe ist nicht, die Welt aus den Fugen zu bringen durch einen Ressourcenverbrauch im Globalen Norden, sondern zu versuchen, auf das Gleichgewicht hinzuarbeiten. In den Anden würde man sagen: im Verbund mit anderen Wesen unseres Planeten, unter Einbezug der Vergangenheit und der Zukunft ein harmonisches Gleichgewicht von Polaritäten schaffen. Das wäre ein Ansatz. Ein entscheidender Schritt dahin wäre: Abstand zu nehmen vom täglichen Hamsterrad. Entschleunigung ist hier ein wichtiger Begriff. Wir müssen uns bewusst machen, dass Zeit eine Qualität hat und nicht nur eine Quantität. Es geht wirklich um eine Zeit, wo man sich Zeit nimmt, wo man Zeit hat, wo es Zeit ist, um einen Schritt zurück zutreten, durchzu atmen und zu sagen: „Wo stehe ich eigentlich? Bin ich Teil des Pro blems oder Teil der Lösung?“

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