DIE FURCHE · 2 6 International 12. Jänner 2023 Von Philipp Fritz • Prag Lange galt Tschechien als Wackelkandidat im EU-Osten: nicht so kritisch gegenüber Russland wie Polen und die Balten, aber auch nicht so Moskau-freundlich wie Orbáns Ungarn (vgl. Seite 5). Mit dem Beginn der kalten Jahreszeit und prorussischen Protesten gegen hohe Energiepreise sah es zunächst so aus, als könnte Prag auf den Kurs Budapests einschwenken. Doch die deutlich größeren Solidaritätsdemonstrationen für die Ukraine sprechen eine andere Sprache. Sie stehen dafür, dass Tschechien sich klar nach Westen orientiert hat. Das Land hat mehr als 400.000 Vertriebene aufgenommen und zählt zu den wichtigsten Waffenlieferanten Kiews. Zustimmung erfährt dieser Zugang mit Slogans wie „Tschechien gegen die Angst“, was sich so manche Gruppierung auf die Fahnen geschrieben hat. Ein Konterpart zu jenen Demonstranten, die unter dem Banner „Tschechien zuerst“ gegen steigende Energiepreise marschieren. Viele von ihnen wettern dabei gegen die EU und die NATO und gegen die Ukraine-freundliche Regierung von Premierminister Petr Fiala. Von Letzterer fordern sie eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland und ein Zurückfahren der Militärhilfe für die Ukraine. Vorahnung und Propaganda Von „russischer Propaganda und Desinformation“ und davon, dass einige dem einfach „erliegen“, sprach Regierungschef Fiala, als im September etwa 70.000 Menschen durch die Straßen Prags zogen. Der Protest erregte Aufmerksamkeit über die Grenzen Tschechiens hinaus. In Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten sorgten sich Beobachter, dass der Unmut über steigende Heizkosten in den Wintermonaten europaweit zunehmen könnte – und Tschechien, das lange in besonderem Maß auf russische Rohstofflieferungen gesetzt hatte, eine Vorahnung darauf gibt. Viele stellten sich die Frage, ob die tschechische Regierung unter dem Druck des Protests nicht vielleicht sogar ihre proukrainische Politik zurückfahren könnte. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Auch die prorussische Stimmung scheint lediglich ein kurzes Aufflackern gewesen zu sein. Über die Monate Oktober und November ist die Zahl der Demonstranten drastisch zurückgegangen; die Gegenproteste sind deutlich größer. Das Bild, das im Ausland entstanden ist, dass Tschechien in Sachen Sanktionen und Ukraine-Hilfe kippen könnte, sei grundfalsch. So sieht KLARTEXT Prognosen Zum Jahresbeginn möchte jeder Prognosen hören, obwohl es sich dabei um höchst verdächtige Phänomene handelt. Zum späteren Prognosezeitpunkt erinnert man sich normalerweise ohnehin nicht mehr an die seinerzeitige Voraussage. Und hinterdrein, wenn die Sache gelaufen ist, treten ohnehin die Besserwisser auf, die angeblich schon immer das Richtige angekündigt haben, etwa in der Epidemie. Es gibt einen weitverbreiteten Irrtum: Je weiter Prognosen in die Zukunft reichten, desto unsicherer seien sie. Das ist falsch. Es hängt vielmehr vom Thema ab. Als recht unzuverlässig haben sich Wirtschaftsprognosen erwiesen: Die Voraussage der Inflation wäre in Anbetracht der Zentralbankpolitik der letzten zehn Jahre nicht allzu gewagt gewesen. Unzählige Simulationen, manchmal in dramatischem Tonfall, hat es zur ökologischen Problematik gegeben. Nach einem halben Jahrhundert treten die vorausgesagten Folgen halt wirklich auf – und alle tun überrascht. Überrascht darf man bei den „schwarzen Schwänen“ sein: extrem Foto: APA / AFP / Michal Cizek Zusammenhalt Auf dem Prager Wenzelsplatz breiten Demonstrierende eine ukrainische Fahne als Zeichen ihrer anhaltenden Unterstützung aus. Vieles deutete zu Beginn des Winters darauf hin, dass in Tschechien die Solidarität mit der Ukraine angesichts der gestiegenen Heizkosten zu bröckeln beginnt. Ein Trugschluss. Ein kurzes Aufflackern es Hana Strasakova: „Es gibt aber prorussische Gruppen in Tschechien, die die Angst der Menschen ausnutzen. Eine berechtigte Sorge wird in einen prorussischen Protest umgemünzt“, erklärt die 24-Jährige im Gespräch mit der FURCHE. Strasakova ist Mitglied von „Eine Million Momente für die Demokratie“, der Gruppe hinter den pro-ukrainischen Demonstrationen. Gegründet wurde sie bereits 2018. Damals allerdings richtete sie sich gegen den Von Manfred Prisching seltenen Ereignissen, mit denen niemand rechnet. Dazu gehören wohl die Kategorien Epidemie und Krieg. Eine Reihe von langfristigen Prognosen war hingegen zuverlässig. Dass angesichts der seit Jahrzehnten niedrigen Geburtenraten und der Pensionswellen geburtenstarker Jahrgänge in den 2020er Jahren Arbeitskräfteknappheit eintreten wird, wurde schon vor zwei Jahrzehnten festgestellt. Dass es bei Ärztinnen und Lehrerinnen Knappheiten geben wird, war ebenfalls seit der Jahrtausendwende klar – dazu haben Grundrechnungsarten genügt. Dass es mit den Pflegekräften bei der alternden Bevölkerung Probleme gibt, war schon lange selbstverständlich. Wenn man sich hinsichtlich solcher Phänomene überrascht zeigt, fällt dies unter Ignoranz. Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz. „ Tatsächlich zählt das 10,5-Millionen-Einwohner-Land zu den wichtigsten Verbündeten Kiews. Früh nach Kriegsbeginn hat es begonnen, Waffen und schweres Gerät zu liefern. “ Lesen Sie im Navigator den Text „Sehnsucht nach Böhmen“ (18.11.1999) von Peter Soukup auf furche.at. umstrittenen ehemaligen Premierminister Andrej Babiš. Wegen mehrerer Korruptionsskandale und Geschichten um seine Tätigkeit für den kommunistischen Geheimdienst in der Tschechoslowakei versuchte eine Gruppe um den Theologiestudenten Mikulas Minar eine Millionen Unterschriften für Babiš’ Rücktritt zu sammeln – woraus der Name „Eine Millionen Momente für die Demokratie“ entstand. Babiš wurde 2021 abgewählt, die Gruppe jedoch besteht weiter und engagiert sich seit dem 24. Februar 2022 für die von Russland überfallene Ukraine. Vorn mit dabei ist Hana Strasakova. „Viele Menschen haben Angst oder sind erschöpft. Zuerst gab es die Pandemie, dann kamen der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise hinzu“, erklärt sie. In so einer Lage seien sie anfällig für einfache Lösungen, Aussagen von demokratiefeindlichen Gruppen, so Strasakova weiter. „Die extremistischen Stimmen sind lauter. „Wir aber sind mehr, wir, die Solidarität mit der Ukraine zeigen, prodemokratisch sind“ , sagt die Aktivistin. Das Beispiel Tschechien zeigt: Auch wenn Einschnitte spürbar werden, Preise für Strom und Lebensmittel steigen, ist eine Mehrheit der Menschen davon überzeugt, dass die Ukraine weiter unterstützt werden muss. Und tatsächlich zählt das 10,5-Millionen-Einwohner-Land zu den wichtigsten Verbündeten Kiews: Früh hat es begonnen, Waffen an die ukrainische Armee zu liefern, auch schweres Gerät; Fiala reiste als erster Regierungschef schon im März nach Kriegsausbruch mit seinen Amtskollegen aus Polen und Slowenien nach Kiew. Es war ein wichtiges Zeichen der Solidarität. Seitdem sind mehr als 400.000 ukrainische Flüchtlinge nach Tschechien gekommen. Die Stimmung in der Bevölkerung dazu hat sich in den vergangenen Monaten nur geringfügig geändert. So sprechen sich 53 Prozent der Tschechen weiterhin für Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Es ist ein Rückgang von lediglich sieben Prozent seit März 2022. Die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, steigt sogar kontinuierlich. Dabei waren die Tschechen mit Blick auf die Ukraine und Russland nicht immer so entschieden. In der Gruppe der Visegrád-Staaten (V4), der neben Tschechien die Slowakei, Polen und Ungarn angehören, positionierte sich das Land oft zwischen Warschau, das seit jeher einen dezidiert Russland-kritischen Kurs fährt, und Budapest, das sich über die Jahre bewusst immer abhängiger von Moskau gemacht hat; die ungarische Regierung spricht sich seit Kriegsausbruch gar gegen die europäischen Sanktionen gegen Russland aus oder verweigert den westlichen Partnern Waffenlieferungen über ungarisches Territorium. Ungarn ist dadurch inzwischen in der V4-Gruppe isoliert. Das liegt nicht zuletzt an Tschechien, das sich seit der Übernahme der liberalkonservativen Fünfparteienkoalition von Petr Fiala in der Sache deutlicher an die Seite Polens stellt. Der Bruch mit Russland liegt weiter zurück Der Bruch mit Russland indes liegt weiter zurück. Am augenfälligsten wurde er im April 2021. Damals wies die Regierung von Andrej Babiš 18 russische Diplomaten aus. Damit reagierte sie auf einen Geheimdienstbericht, demzufolge Russland für die Explosion eines Munitionsdepots in Vrbětice im Osten des Landes im Jahr 2014 verantwortlich sei. Zwei Menschen kamen damals ums Leben. Der Fall Vrbětice führte zu einer massiven Verschlechterung des tschechisch-russischen Verhältnisses. Die politische Klasse in Prag stand unter Schock, einige Politiker bemühten Vergleiche mit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Babiš, der sich gerne als interessengeleiteter Geschäftsmann inszenierte und nicht für Kritik an Russland bekannt war, ging auf Distanz zu Moskau, und sogar Präsident Milos Zeman, eigentlich ein Putin-Freund, schwieg zu dem Vorfall. Zeman sei prorussisch und auch prochinesisch, so Ondrej Kundra, der sich als Investigativjournalist mit russischen Einflusskampagnen in Tschechien beschäftigt. Der Fall Vrbětice und schließlich Russlands Überfall auf die Ukraine führten so zu einer klaren Westorientierung der maßgebenden politischen Kräfte in Prag. Die Beziehungen zwischen Tschechien und Russland bezeichnet Kundra heute als „zero“ – es gibt sie praktisch nicht. Auch Kundra sieht, dass eine Mehrheit der Bevölkerung den Kurs der Regierung unterstützt. „Die Menschen haben Angst vor der Zukunft, vor allem wenn wir über die wirtschaftliche Lage sprechen“ meint Kundra. „Aber die Gesellschaft versteht die russische Bedrohung und weiß, warum es wichtig ist, der Ukraine zu helfen, auch wenn die Situation schwieriger werden kann.“
DIE FURCHE · 2 12. Jänner 2023 Religion 7 Am Sarg des Papa emeritus Erzbischof Georg Gänswein (Bild), Privatsekretär des Verstorbenen und nominell weiter Präfekt des päpstlichen Hauses, sorgt mit kontroversen „Enthüllungen“ für Aufregung in Rom. Von Jan-Heiner Tück Kaum war der tote Körper des emeritierten Papstes in der Krypta des Petersdoms begraben, da begann der Streit um sein Erbe. Die einen forderten „Santo subito!“ oder regten an, Benedikt XVI. zum Kirchenlehrer zu ernennen. Die anderen warnten vor vorschnellen Heiligsprechungen und mahnten die kirchenrechtlich vorgesehenen Fristen an. Durch eine Ernennung zum doctor ecclesiae würde das theologische Werk Joseph Ratzingers der Kritik enthoben, dabei ist konstruktive Kritik ein Modus der theologischen Würdigung. Für Schlagzeilen sorgten unterdessen Auszüge aus einem Buch von Georg Gänswein, dem Privatsekretär des emeritierten Papstes. Franziskus habe ihn „gedemütigt“ und ohne Angabe von Gründen als Präfekt des päpstlichen Hauses suspendiert. Auch habe es Benedikt „geschmerzt“, dass sein Nachfolger die Wiederzulassung der alten Messe zurückgenommen hat. Mit dieser Lizenz hatte Benedikt den Streit zwischen Anhängern der Liturgiereform und den Liebhabern der alten Messe versöhnen wollen. Das Buch von Gänswein, das unter dem Titel „Nichts als die Wahrheit“ heute in Italien erscheint, könnte offenlegen, dass es neben Unterschieden im Stil auch inhaltliche Differenzen, ja Verstimmungen gegeben hat. Dennoch sprachen die öffentlichen Gesten der wechselseitigen Wertschätzung der beiden Männer in weißer Soutane eine andere Sprache. Auch hat sich Franziskus am Sarg Benedikts mit innerer Anteilnahme verabschiedet. Wie aber geht es jetzt weiter? Drei Szenarien sind vorstellbar. Foto: APA / AFP / Tiziana Fabi Unmittelbar nach Benedikts XVI. Tod begann der Streit um sein Erbe. Anhänger wie Kritiker haben sich längst in Stellung gebracht. Aber auch zur Zukunft des Pontifikats von Franziskus stellen sich Fragen. Drei Szenarien. Wohin geht die Kirche weiter? I. Reformen in Angriff nehmen Das erste wäre, dass Franziskus die Reformen, die er aus Rücksicht auf seinen Vorgänger bislang zurückgehalten hat, nun entschieden in Angriff nimmt und über das Bisherige hinausgeht. Lockerung des Zölibats, Einführung des Diakonats der Frauen, Revision der kirchlichen Sexualethik und Mitspracherechte für Laien lauten die bekannten Forderungen. Ratzinger, der Interviewbücher zur Lage des Chris tentums mit programmatischen Titeln wie „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ überschrieben hat, war dagegen, diese Reformagenda umzusetzen. Er setzte auf spirituelle Erneuerung und theologische Orientierung. Eine Kirche, die sich den gesellschaftlichen Imperativen füge, drohe zur Doublette der Zeit zu werden und habe der Gesellschaft am Ende nichts mehr zu sagen. Als Avantgardist der Erinnerung, der den weiten Horizont der kirchlichen Tradition ins Heute einbringen wollte, war er früh reserviert gegenüber dem modernen Beschleunigungskonformismus, den es auch in der Kirche gibt. In seinen „letzten Gesprächen“ hat sich der Emeritus klar hinter das Programm der Barmherzigkeit von Franziskus gestellt und auf Loyalität stets Wert gelegt. Versuchen konservativer Bischöfe, ihn kirchenpolitisch zu instru mentalisieren, hat er sich widersetzt. Die Ankündigung, sich einem kontemplativen Lebensstil zu widmen, hat ihn dennoch nicht davon abgehalten, sich immer wieder öffentlich zu äußern. Manche dieser Äußerungen wurden als theologiepolitische Interventionen eines „Schattenpapstes“ verstanden. So hat Benedikt während der Familiensynode 2014/15, die über einen pastoral flexiblen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen beriet, einen retuschierten Artikel zur Theologie der Ehe publiziert, der die Einheit und Unauflöslichkeit des Ehebundes betonte. Analoges wiederholte sich, als die Amazonien-Synode 2019 über die Möglichkeit diskutierte, verheiratete Männer zum Priesteramt zuzulassen. Obwohl 1970 selbst für eine Lockerung des Zölibats und neue Formen des Amtes offen, verteidigte Benedikt in einem Aufsatz das Charisma der Ehelosigkeit. Hat dieses Votum des Theologenpapstes Franziskus ausgebremst? Immerhin hat bei der Amazonien-Synode erstmals eine Mehrheit von Bischöfen für viri probati votiert, um die pastorale Not in der Region zu lindern. Seine Ankündigung, den römischen Zentralismus durch eine „heilsame Dezentralisierung“ therapieren zu wollen, hätte Franziskus hier einlösen können. Er hat es nicht getan und kein grünes Licht für viri probati gegeben. Damit hat er das Votum der Synode durch eine autoritative Punktsetzung ausgesetzt – und für massive Enttäuschung gesorgt. Falls er sein Veto mit Rücksicht auf Benedikt gesprochen haben sollte, könnte Franziskus nach dessen Tod nun freier und forscher agieren. Progressive Theologen und Bischöfe, die Franziskus zur Projektionsfläche ihrer Reformerwartungen gemacht haben, neigen zu dieser Sicht. Der konservative Blockierer ist weg, nun kann ungehemmt reformiert werden. Das Narrativ ist auch in den Medien beliebt. Aber wird Franziskus ihm entsprechen? Wohl kaum. Der Bergoglio-Papst hat zwar einen anderen Stil, das Papstamt auszuüben, eingeführt, für eine missionarische Kirche geworben und die weibliche Präsenz in Funktionen der Kirche erhöht, aber die gewünschten Reformen hat er nicht in Angriff genommen. Im „Primat der Evangelisierung“ kommt er mit Benedikts Absicht einer Erneuerung der spirituellen Ressourcen überein. Am 5.1.2023 analysierte Gregor Maria Hoff die Ära Benedikts XVI., nachzulesen unter: „Ein Pontifikat im Widerspruch“ auf furche.at. „ Das Buch von Gänswein könnte offenlegen, dass es neben Unterschieden im Stil auch inhaltliche Differenzen, ja Verstimmungen gab. “ II. Projekte zu Ende führen Das zweite, realistischere Szenario ist daher, dass Franziskus die begonnenen Projekte zu Ende führt. Er hat der Weltkirche einen mehrstufigen, ambitionierten Synodalen Prozess verschrieben. Die Spannungen in der polyzentrischen Weltkirche sind enorm. Eine Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Haltungen bestimmt die Lage. Was in Deutschland mehrheitlich gefordert wird, ist schon in Polen und Ungarn äußerst umstritten. Die Weltsynode aber will die Stimmen von Laien und Klerikern aus allen Ortskirchen hören und zusammenführen. Wie aber soll dieses dissonanzträchtige Stimmengewirr zu einer wohlkomponierten Symphonie werden? Sind hier geheime Aprioris der Harmonisierung leitend, die von der Zentrale gesetzt werden? Während nicht wenige US Bischöfe mit dem Kurs von Franziskus fremdeln, geht es der Avantgarde des Synodalen Weges in Deutschland nicht schnell genug. Es bedarf hier geschickter Navigationskunst, um den Ruf nach nachholender Selbstmodernisierung des Katholizismus mit den Moderne-skeptischen Stimmen zu versöhnen. Die blühenden Kirchen in Afrika und Asien wollen sich von den eher glaubensmüden, aber finanziell potenten Kirchen Westeuropas die Reformen kaum diktieren lassen. Franziskus wird all seine Kräfte bündeln müssen, um dieses Projekt zu Ende zu bringen. Zugleich wird er noch Impulse für das Jubiläumsjahr 2025 setzen wollen. Dieses wird mit der 1700-Jahr-Feier des ersten ökumenischen Konzils von Nizäa zusammenfallen, das für das kollektive Gedächtnis aller christlichen Kirchen bedeutsam ist. Es hat das Bekenntnis zur Gottheit Jesu Christi gegen den Arianismus definiert und könnte heute Anstöße gegen ein abgeflachtes „Christentum ohne Christus“ (Ulrich Körtner) geben. III. Rücktritt vorstellbar Das dritte Szenario ist, dass Franziskus nach einer Schonfrist ebenfalls demissioniert. Das scheint zwar im Blick auf den Synodalen Prozess unwahrscheinlich. Aber bei den Trauerzeremonien für Benedikt XVI. ist ein gesundheitlich angeschlagener und ausgezehrter Pontifex sichtbar geworden. Er selbst hat von der „Zermürbung durch Salbung“ gesprochen – und damit die Last des Amtes angedeutet. Gewiss, man regiert nicht mit den Beinen, sondern mit dem Kopf. Aber die Strahlkraft des Anfangs ist verblasst, und mit 86 Jahren dürfte es selbst für Franziskus schwierig sein, der krisengeschüttelten Kirche neuen Schwung zu geben. Sollte sich die Gesundheit verschlechtern, ist ein Rücktritt vorstellbar. Dem Einwand, Franziskus müsse den Synodalen Prozess, den er angestoßen hat, um jeden Preis zu Ende führen, lässt sich erwidern, dass auch der hochbetagte Johannes XXIII. die Agenden des II. Vatikanums seinem Nachfolger überlassen hat, ohne dass das Konzil deshalb Schiffbruch erlitten hätte. Der Autor ist Prof. f. Dogmatik an der Kath.-Theol. Fakultät/Uni Wien.
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