DIE FURCHE · 2 20 Ausstellung 12. Jänner 2023 Von Wenzel Müller So ein Angebot bekommt man nicht jeden Tag. Er würde, sagte der Chefredakteur des Life-Magazins zu Ernst Haas, ihn gerne als Fotografen fix anstellen. Was das hieße, wusste der Angesprochene nur zu gut: hohes Einkommen, soziale Absicherung, hervorragende Reputation. Doch er lehnte dankend ab, mit der Begründung: Die Aufträge, die er dann bekäme, wären gewiss nicht so spannend wie die, die er sich selbst erteile. Unabhängigkeit statt Sicherheit. Als Ernst Haas im Jahr 1949 diese Entscheidung traf, war er gerade einmal 28 Jahre alt. Sie kündet von einer ordentlichen Portion Selbstbewusstsein, von Optimismus und Freiheitsliebe. Tatsächlich sollte er seinen Weg als selbstständiger Fotoautor machen. Umso erstaunlicher, dass Haas (1921– 1986) in seiner Geburtsstadt Wien recht unbekannt ist. Das will nun das Fotomuseum Westlicht mit einer umfassenden Retrospektive ändern: „Ernst Haas: The Art of Seeing“ (Kurator: Fabian Knierin). Foto: © Ernst Haas / Getty Images Er war Mitglied und später Präsident der Fotoagentur Magnum. Bedeutend ist sein Wirken als Pionier der Farbfotografie. Trotz dieser Leistungen ist Ernst Haas (1921–1986) in seiner Geburtsstadt Wien weithin unbekannt. Das Westlicht widmet dem Fotografen eine umfassende Retrospektive. Dinge neu fotografieren Blick fürs Ungewöhnliche Am Anfang waren zehn Kilo Butter. Die tauschte Ernst Haas 1946 auf dem Wiener Schwarzmarkt gegen eine Rolleiflex ein. Seine erste Kamera. Und mit der begann der Autodidakt zu fotografieren. Learning by doing, wie das heute heißt. Das eine ist die Ausrüstung, das andere und sehr viel Entscheidendere der spezifische Blick. Dass er über ein besonderes Sensorium für bildkräftige Momente verfügt, bewies Haas 1947 auf dem Wiener Südbahnhof, als dort die ersten Kriegsheimkehrer aus Russland eintrafen. Viele von ihnen verwundet und ausgemergelt, doch auf sie richtete Haas seine Kamera weniger. Spannender fand er, die Gesichter der sie Empfangenden ins Bild zu nehmen. Erleichterung und Enttäuschung, Angst und Hoffnung drückten sie aus. Die ganze Dramatik der Situation sah er in diesen Gesichtern gespiegelt. Haas dokumentierte die Kriegszerstörung in seiner Geburtsstadt, entdeckte in dem Elend aber auch immer wieder besondere, ja skurrile Augenblicke. Auf einem Foto, „Sonnenbadende“ (1946–1948), sehen wir Hausruinen im Hintergrund – und davor eine Mutter (im Bikini) mit ihren Kindern (nackt) im Gras liegen. Welch ein wunderbarer Kontrast! Diese außergewöhnlichen Bilder machten Haas schnell bekannt, und für die eben gegründete Fotoagentur Magnum konnte er nach New York gehen. Aus der grauen Stadt in die pulsierende Metropole. Man kann sich gut vorstellen, dass Haas in der ersten Zeit einfach überwältigt war. Diese Wol- „ Nur in Farbe ließe sich die Dynamik von New York einfangen. Für uns heute leicht nachvollziehbar, doch damals ein Tabubruch. “ kenkratzer, diese glitzernden Fassaden, dieser Verkehr. Ein Kulturschock der inspirierenden Art. Bald griff der Fotograf zu dem neu auf den Markt gekommenen Kodachrome-Film. Nur in Farbe, so seine Überzeugung, ließe sich die Dynamik von New York einfangen. Für uns heute leicht nachvollziehbar, doch damals ein Tabubruch. Farbe galt als ein vulgäres Ausdrucksmittel, die großen Fotografen jener Zeit wie Capa, Weston und Streichen machten ausschließlich Schwarz-Weiß- Aufnahmen. Haas scherte sich nicht darum. Unbeirrt ging er seinen Weg. Mit Erfolg. Seine Arbeiten waren die ersten Farbfotos, die das Life-Magazin in seinem redaktionellen Teil veröffentlichte – das war 1953. Etwas später, 1962, präsentierte das MoMA mit einer Haas-Einzelausstellung ebenfalls erstmals Farbfotografien in seinen Räumen. Als Mitglied von Magnum war Haas stets der dokumentarischen Fotografie verpflichtet. Doch begnügte er sich nicht mit der Abbildung der Wirklichkeit, er schuf stattdessen Werke, die zugleich ins Abstrakte tendierten; Kompositionen von zeitloser Faszinationskraft. „Ich bin nicht daran interessiert, neue Dinge zu fotografieren – ich will vielmehr Dinge neu fotografieren“, sagte er einmal. Was für ein Unterschied zur vorigen Ausstellung im Westlicht: Pionier in Farbe Ab den 1950er Jahren bildete Ernst Haas die Welt in Farbe ab. In Abkehr zur gängigen Praxis wurde er damit zu einem Pionier der Farbfotografie. Reflexion auf der Third Avenue, New York City, 1952. „World Press Photo“ zeigte einmal mehr das Übliche: grelle Farben, große Dramatik. Ein einziges Geschrei, möchte man fast sagen. Nun sind Bilder von wahrer Tiefe zu sehen, die berühren und staunen machen. „World Press Photo“ soll ein Publikumserfolg gewesen sein. Großen, um nicht zu sagen: viel größeren, Besucherandrang hat sich die Haas-Schau verdient. Ernst Haas The Art of Seeing Westlicht. Schauplatz für Fotografie Di–Fr: 14–19 Uhr (Do bis 21 Uhr) Sa, So: 11–19 Uhr Bis 12. Februar www.westlicht.com 1923: Im Vorhof der Krise Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ ließen eine Gesellschaft auf dem Höhepunkt der Geldentwertung in mystische Parallelwelten der Lust und des Drogenkonsums schlittern. Verschwörungs theoretiker und rechte Ideologen hatten Hochkonjunktur. Der Historiker Peter Longerich erklärt, was wir heute, hundert Jahre später, aus der Geschichte lernen können. furche.at/chancen
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