1 · 5. Jänner 2023 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– wie kirchenpolitisch kaum nach seinem Gusto, konnte sich nicht darauf verlassen, dass der Emeritus stillblieb, wie dieser bei seinem Rücktritt angekündigt hatte. Es waren leise Töne, aber klare Botschaften, die aus Benedikts Alterssitz, Mater Ecclesiae, ins Gästehaus St. Marta, wo Franziskus Von Otto Friedrich residiert, drangen: ein klares Bekenntnis zum Priesterzölibat etwa, als sich eine Bischofssynode anschickte, die Aufweichung enn an diesem 5. Jänner Joseph Ratzinger/Benedikt in den Eckpunkten Jerusalem-Athen-Rom eine pointierte Äußerung wider die Infrage- für die Gestalt seiner Kirche, wie sie eben desselben zumindest zu diskutieren; oder XVI. in der Krypta des Petersdoms seine letzte Ru- Europa präsentiert sich heute dennoch wiederverheirateten Geschiedenen – auch skizziert ist, eingesetzt. stellung des Kommunionverbots gegenüber hestätte gefunden hat, ist als Weltgegend mit immer institutionsfernerer Religiosität, auch das Christentum der umschreiben musste, den er als Professor wenn der Papa emeritus da einen Aufsatz zweifelsohne ein Kapitel der römischen Kirchengeschichte zu Ende gegangen. Mit dem katholischen Spielart – global weiterhin die Ratzinger publiziert hatte. Nur als Beispiele am Silvestertag Verstorbenen wird auch ein größte Denomination – zeigt sich in Afrika für eine doch sichtbare Präsenz als Schatten - Stück europäischen Christentums zu Grabe getragen, für das der emeritierte Papst so wie die Verbreitung in andere Kulturkreise Wobei das (ultra)konservative Kirchen- oder Asien viel mehr im Wachstum. Und papst hinter dem eigentlichen Amtsträger. stand wie kaum ein zeitgenössischer Theologe und Kirchenmann. Die Verbindung von auch. Dass sie dabei ihren Kern verliert, war XVI. als „eigentlichen“ Pontifex anzusehen – fortschreitet, so verändert sich diese Kirche lager keinen Hehl daraus machte, Benedikt Jerusalem, Athen und Rom, die dieses Christentum gekennzeichnet hat, die Verbindung gers – nicht nur als Papst. nem Häresie-Verdikt, das ebendiese besorg- eine der beständigen Sorgen Joseph Ratzin- auch wenn das dogmatisch erst recht mit je- von jüdischer Wurzel, griechischer Philosophie im Verbund mit einer Herrschaftsform, Leise Töne, aber klare Botschaften im Mund führen, zu qualifizieren war. Aber ten Katholiken wider die Liberalen so gerne der sich diese Religion seit dem Aufstieg Benedikt XVI., dessen Pontifikat man was schert dieses Lager das Dogma, wenn es unter Kaiser Konstantin verbunden weiß, wohl kritisch wie würdigend analysieren den eigenen Interessen zuwider läuft? ist längst nicht mehr fraglos intakt. kann (vgl. Seite 9/10 dieser FURCHE), hat Der Tod von Benedikt XVI./Joseph Ratzinger mag für Franziskus auch eine Atempau- Europa glänzt, wenn man das positiv gleichzeitig klar erkannt, dass er auch als sieht, durch Pluralität und Säkularität. Der Oberhaupt seiner Kirche diese Entwicklungen nicht hintanhalten wird. Er hat sich des- nicht beständig Worte und Zeugnisse seise bedeuten, in der ihm seine Widersacher Verfechter eines Christentums, das den Menschen eine letztgültige Heilsbotschaft halb vor knapp zehn Jahren in geradezu moderner Hellsichtigkeit von seinem Amt als Dennoch wird die Auseinandersetzung um nes Vorgängers um die Ohren schmeißen. verkünden will, wird sich da gegen diese Entwicklung stemmen. Joseph Ratzinger Papst zurückgezogen. Die Größe, die ihm den rechten Glauben und die rechte Gestalt hat sich als Präfekt der Glaubenskongregation (1982–2005) auch mit Disziplinierunlinie bis zuletzt angekreidet haben, konnte insbesondere die Anhänger seiner Kirchen- von Kirche noch lang nicht zu Ende sein. gen, als Papst (2005–13) wieder viel mehr er im Lauf der Jahre dennoch nicht durchhalten: Nachfolger Franziskus, theologisch otto.friedrich@furche.at werbend und als Theologe argumentierend @ofri_ofriedrich Er kam keineswegs überraschend – und markiert doch eine Zäsur: der Tod des 95-jährigen Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. Seine Theologie hat die katholische Kirche des 20. Jahrhunderts wie kaum eine andere geprägt. Wie sie – und sein Pontifikat – einzuordnen sind, analysieren Otto Friedrich, Roman Siebenrock und Gregor Maria Hoff in dieser ersten FURCHE anno 2023. Einen Blick zurück – nämlich genau hundert Jahre – wirft Manuela Tomic in ihrem Fokus „Wiederholt sich die Geschichte?“: Dieser bietet nicht nur einen bemerkenswerten literarischen Text aus Tomic’ Feder, sondern auch ein Interview mit dem Historiker Peter Longerich sowie einen Ausblick von Manfred Prisching. Peter Strasser widmet sich indes einer Grundsatzfrage im Ukraine-Konflikt, Hubert Gaisbauer würdigt die Kirchenlehrerin Thérèse von Lisieux zum 150. Geburtstag und Bildungsminister Martin Polaschek steht im Interview Rede und Antwort. Ein absoluter Höhepunkt erwartet Sie zum Jahresbeginn im Feuilleton – nämlich ein exklusiver Text von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek anlässlich des 60- jährigen Bestehens der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, ergänzt um einen Beitrag von dessen Leiter Manfred Müller. Von Ratzinger bis Jelinek – ein würdiger Auftakt in ein neues Jahr. (dh) Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 DIE FURCHE · 2 12 Forum 12. Jänner 2023 DIE FURCHE EMPFIEHLT Erstes Land mit Pressefreiheit MEDIENMAGAZIN „CONTINENT“ In der nächsten Ausgabe des in Kooperation mit der FURCHE gestalteten Medienmagazins „Continent“ geht es um die Medien in Schweden. Dazu spricht Golli Marboe mit dem österreichisch-schwedischen Regisseur, Filmemacher, Produzenten Erich Hörtnagl über ein Land, wo Pressefreiheit – weltweit erstmalig! – seit 1766 in der Verfassung steht. Continent – Zur Lage der Medien in Schweden Sa, 14.1., 17 Uhr & Mi, 18.1., 21 Uhr Radio Klassik Stephansdom www.radioklassik.at Optimismus trotz allem? SCIENCE-TALK Wie können Wissenschaft und Forschung dabei helfen, trotz aller Krisen die Zuversicht zu bewahren? Mit dieser Frage beschäftigt sich der „Science Talk“ des Bildungsministeriums. Es diskutieren die Psychologin Veronika Job, der Historiker Alexander Jost und der Philosoph Lukas H. Meyer. Moderation: Christian Zillner (Falter). Science Talk: Optimismus trotz allem? Mo, 23.1., 19 Uhr, Aula der Wissenschaften, Wollzeile 27a, 1010 Wien Anm./Info: www.science-talk.at Wer war Charles de Foucauld? VORTRAG Erst im Mai des Vorjahres heiliggesprochen, gilt der Franzose Charles de Foucauld als noch unbekannter Heiliger; als ein Gottsuchender und ein Gescheiterter. Der Theologe Erwin Neumayer will sich der Biografie des Lebemanns, Wüstennarrs und Ordensgründers annähern und dem Vermächtnis seiner Spiritualität auf die Spur kommen. Charles de Foucauld Tagungshaus Wörgl 17.1.2023, 19 bis 21 Uhr info@tagungshaus.at IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Treffende Ausführungen Kämpfe(r) um Glauben Von Otto Friedrich Nr. 1, Seite 1 Es drängt mich, Otto Friedrich für seine in meinen Augen höchst treffenden Ausführungen zum Tod von Papst em. Benedikt XVI. zu danken. Insbesondere die Aussage zur beinahe schon häretischen Haltung mancher Mitglieder der katholischen Kirche hat es mir angetan ... Danke! Johannes-Maria Lex via Mail Prophetischer Ratzinger wie oben sowie Größe und Grenze des christlichen Platonismus Von Roman Siebenrock sowie Pontifikat im Widerspruch Von Gregor Maria Hoff Nr. 1, Seiten 9–10 Anlässlich des Todes von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. habe ich nochmals die berühmt gewordene Predigt studiert, die Kardinal Ratzinger 2005 vor dem Konklave gehalten hat, aus dem er als Papst hervorgegangen ist. Der in der Öffentlichkeit am häufigsten und auch in den beiden letztwöchigen FURCHE-Kommentaren von Roman Siebenrock und Gregor Maria Hoff daraus herausgegriffene Satz lautete: „Es konstituiert sich eine Diktatur des Relativismus, die nichts als definitiv anerkennt und die als letztes Maß nur das Ich und seine Bedürfnisse lässt.“ Heute, 17 Jahre später, muss man anerkennen, dass sich diese Aussage leider als prophetisch erweist. Man denke nur an die „alternativen Fakten“, die Donald Trump in den Raum gestellt hat, als er mit einer vergleichsweise geringeren Zahl an Besuchern seiner Amtseinführung konfrontiert wurde. Als ihm schließlich das Ergebnis der Wahl von 2020 nicht gepasst hat, hat er wörtlich der zitierten Aussage Ratzingers entsprochen: Er hat das amtliche Wahlergebnis nicht als definitiv anerkannt und als letztes Maß nur sein Ich und seine Bedürfnisse gelten lassen. Auch in der Pandemie haben wir leider allzu oft gesehen, dass es nicht um Wissenschaftlichkeit und rationale Erkenntnisse ging, sondern um Befindlichkeiten. Ein Posting eines medizinischen Laien hatte mitunter in den Diskussionen das gleiche Gewicht wie ein Befund eines Virologen. 2005 hat man Ratzingers Aussage als unhaltbaren Pessimismus eines unverbesserlichen Fundamentalisten abgetan. 2023 muss man leider sagen, dass er damals schon gesehen hat, was heute in vielerlei Erscheinungen Realität geworden ist. Mag. Hermann Major, MSc 8302 Nestelbach bei Graz Männliche Kirche wie oben sowie Ein Brief Von Elfriede Jelinek Nr. 1, Seite 17 Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. stirbt – und es schreiben nur Männer darüber. Dass sich keine Theologin zur Analyse gefunden hätte, fällt schwer zu glauben. So wird wieder einmal mehr eine Männerkirche präsentiert. Ukraine-Krieg: Das Opfer in der „Pflicht“? Der Philosoph Peter Strasser über die Debatte um ein Ius ex bello und die Gefahr, die Würde eines Volkes dauerhaft zu verletzen. · Seite 6 Foto: APA / AFP / Lennart Preiss W „ Dass die Kirche ihren Kern verliert, war eine der beständigen Sorgen Joseph Ratzingers – nicht nur als Papst. “ Foto: APA/Schlager Benedikt XVI. Ein Abschied Zum Tod von Joseph Ratzinger: Roman Siebenrock über Größe und Grenze des christlichen Platonismus. Gregor Maria Hoff über ein Pontifikat im Widerspruch. Seiten 9–10 Benedikts XVI. Rücktritt vor fast zehn Jahren war ein Akt geradezu moderner Hellsichtigkeit. Seither wurde der nun verstorbene Papa emeritus aber auch als „Schattenpapst“ missbraucht. Kämpfe(r) um Glauben Elfriede Jelinek: Ein Brief „Daß ich mit Sprache also aus mir heraustreten würde können, das hatte er mir zugetraut. Ich verdanke ihm also alles.“ Elfriede Jelinek über Otto Breicha und die Anfänge ihres Schreibens. · Seite 17 Illustration: Rainer Messerklinger „Das Schlechtreden der Schule ist gefährlich“ Bildungsminister Martin Polaschek über Lehrkräftemangel, Qualität in Kindergärten und Wissenschaftsskepsis. · Seiten 12–13 Das Thema der Woche Seiten 2–5 Wiederholt sich die Geschichte? 1923 stürzten rechte Ideologen und Verschwörungstheoretiker Europa ins Chaos. Ein Jahr später schrieb Max Jacob seine „Höllenvisionen“. Ein Zufall? Wie wir mit dem Wissen der Vergangenheit entschlossen ins neue Jahr starten. INTRO furche.at Einerseits schade um eine vertane Chance – und andererseits zeigt auch DIE FURCHE, dass Kirche(nlehre) noch immer vorwiegend männlich ist. Wie wohltuend und herausragend dann der Text von Elfriede Jelinek. Ein literarischer Genuss ist es, diesen ihren Brief zu lesen. Wieder einmal bin ich fasziniert davon, was Sprache kann. Und nach der Lektüre bin ich wieder überzeugte Leserin der FURCHE. Anneliese Pieber Graz Verhandeln mit Putin „Ein Skandal, ein Ärger, ein Drama“ Interview mit Jean-Claude Juncker Nr. 51/52, Seiten 6–7 sowie Wo bleibt Europas Stimme im Ukrainekrieg? Von Wilfried Stadler Nr. 1, Seite 14 Enttäuscht gab sich der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Interview mit Brigitte Quint über Wladimir Putin, dem er 2005 noch als Freund vertraut hatte – 2007 aber nicht mehr, als dieser dem Westen auf der Münchner Sicherheitskonferenz vorgeworfen habe, keinen korrekten Zugang zu Russland gefunden zu haben. Warum lässt er unkommentiert, dass Putin Juncker gegenüber auch beklagt hat, dass der Westen Russland wegen nicht eingehaltener Versprechungen verraten habe? Doch damit täuscht Juncker über die Kritik Putins an der Osterweiterung der NATO als militärische Einkreisung Russlands hinweg, die von amerikanischen Präsidenten seit Clinton Land um Land vorangetrieben wurde. Der politisch schlaue Fuchs Juncker kann zudem nicht vom russischen Angriff auf die Ukraine überrascht gewesen sein. Selbst politisch interessierten Beobachtern war bewusst, dass die monatelangen russischen Manöver zum Angriff auf die Ukraine führen würden. Ich selbst habe gehofft (und in einem Leserbrief in FURCHE Nr. 4/2022 formuliert), dass der Westen doch die Osterweiterung der NATO stoppen würde und eine militärisch neutrale Pufferzone zwischen der NATO und Russland als neue, von allen garantierte Friedensordnung entstehen könnte. Gut, dass Juncker nun einsieht, dass man mit Russland auch unter Putin Friedensverhandlungen beginnen muss. Vielleicht sieht angesichts bisheriger Opfer und Zerstörungen auch Wolodymyr Selenskyj ein, dass man die Atommacht Russland nicht wie einst David mit Tapferkeit und List besiegen kann – und hoffentlich erkennen die Staatenlenker Amerikas und Europas, dass es an ihnen liegt, der Ukraine und anderen beitrittswilligen Ländern klarzumachen, dass man mit weiteren NATO-Beitritten nicht den dritten, zugleich atomaren Weltkrieg riskieren darf – auch um den Preis, dass rund 20 Prozent der Ukraine, also die Krim und der Donbass, Russland zugeteilt werden und erst später unter einem neuen Gorbatschow frei werden können. Karl Semmler Bad Blumau Erratum Bei der Bearbeitung des Textes „Die Welt ist ein Durcheinander“ von Manfred Prisching (FURCHE Nr. 1, Seite 5) sind durch Absatzumbrüche Unklarheiten in Bezug auf den Kontext entstanden. Wir bedauern! Auf furche.at ist der Artikel mit den korrekten, vom Autor vorge sehenen Absätzen kostenlos nach zulesen. (red) Das war 2022: Mehr als 8 Hochgewinner pro Woche und 42 neue Millionäre dank Lotto, EuroMillionen und Klassenlotterie 42 Neue im Club der Glücksspiel- Millionäre Insgesamt 441 Spielteilnehmern bzw. Spielteilnehmerinnen gelang es im Vorjahr, bei den diversen Spielen der Österreichischen Lotterien einen Gewinn von 100.000 Euro oder mehr zu erzielen. Damit gab es pro Woche im Schnitt mehr als acht Hochgewinner. Gleich 42 von ihnen durften sich über einen Millionengewinn freuen, wobei sich Oberösterreich mit 13 neuen Millionären bzw. Millionärinnen ganz besonders hervortat und unangefochten auf Platz eins liegt, vor Niederösterreich mit sieben und Wien und der Steiermark mit je sechs. Je drei Millionengewinne gab es in Salzburg und Vorarlberg, zwei in Kärnten sowie je einen in Tirol und im Burgenland. Oberösterreich verzeichnete auch den höchsten Gewinn im Jahr 2022: Ein Linzer knackte im April einen Lotto Siebenfachjackpot im Alleingang und gewann mehr als 9,8 Millionen Euro, was den zweithöchsten Sechser in der Geschichte von Lotto „6 aus 45“ bedeutete. Aufgeteilt auf die diversen Spiele, gab es die meisten Millionäre mit 36 bei Lotto, fünf bei EuroMillionen und einen in der Klassenlotterie. Thomas May moderierte jenen 9,8 Millionen Euro schweren Siebenfachjackpot, den ein Oberösterreicher im Alleingang knackten konnte © Günther Pichlkostner/ORF IN KÜRZE RELIGION ■ Irmtraud Fischer: Kein „Santo Subito“ für Benedikt XVI. Gegen die „Santo Subito“-Rufe nach Benedikts XVI. Tod hat sich die emeritierte Grazer Alttestamentlerin Irmtraud Fischer ausgesprochen. Mit einer Seligsprechung würde sich ein System selbst die Absolution erteilen und damit seine Opfer verhöhnen, schrieb Fischer in einem Beitrag für die Herbert-Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche: „Viele Theologinnen und Theologen, auch sehr kirchlich gesonnene, hatten unter der Ägide von Joseph Ratzinger vor Erteilung des sog. römischen Nihil obstat Artikel zu veröffentlichen, in denen sie beanstandete Thesen, die häufig die Amtsfähigkeit von Frauen betrafen, widerrufen mussten.“ Für Fischer ist dies „eine Leidensgeschichte und ein Braindrain für die Theologie, die Ratzinger hier zu verantworten“ habe. „Santo Subito“ sei auch „ein Schlag ins Gesicht der Missbrauchten“. Die feministische Theologin weiter: „Wenn die Gläubigen das Einleiten des Seligsprechungsprozesses widerspruchslos tolerieren, dann ist ihnen wirklich nicht mehr zu helfen. Dann sind sie wirklich Schafe von Hirten, die sich selber weiden (vgl. Ez 34,2).“ Eine Selig- oder gar Heiligsprechung des verstorbenen Papstes, der selbst die Weitsicht hatte, dass ihn die Leitung der Kirche in seinem Alter überforderte, würde nach Fischers Worten „eine moralische Bankrotterklärung des absolutistischen Systems Katholische Kirche bedeuten“. RELIGION ■ George Pell (1941–2023) Er war eine mächtige konservative Stimme der katholischen Kirche – als Erzbischof von Melbourne (1996–2001), Sydney (2001–14) und Leiter des vatikanischen Wirtschaftssekretariats (ab 2014). Kardinal Pell wurde dann ab 2018 in Australien des sexuellen Missbrauchs angeklagt – der bislang ranghöchste katholische Würdenträger in einer derartigen Causa: Pell wurde verurteilt und inhaftiert, 2020 dann in letzter Instanz freigesprochen – bis heute polarisiert sein Fall die australische Gesellschaft. Am 5. Jänner hatte der Kardinal am Requiem für Benedikt XVI. teilgenommen. Am 10. Jänner verstarb er in Rom nach einem chirurgischen Eingriff. WISSEN ■ „Wissenschafter des Jahres“ Der Ökologe Franz Essl ist vom „Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten“ zum „Wissenschafter des Jahres 2022“ gekürt worden. Knapp vor seinem 50. Geburtstag am 14. Jänner hat der Biodiversitätsforscher die Auszeichnung entgegengenommen. Der studierte Biologe ist seit Jahren regelmäßig in der Liste der meistzitierten Forscher weltweit – und eine der prononciertesten Stimmen des Landes in Sachen Arten- und Klimaschutz. Mit der Wahl will der Journalistenklub vor allem das Bemühen von Forscherinnen und Forschern auszeichnen, ihre Arbeit und ihr Fach einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen.
DIE FURCHE · 2 12. Jänner 2023 Kultur 13 Sie war eine Schönheit, sie war ein Star. Vor allem aber war Susan Sontag eine ausgezeichnete Essayistin. Am 16. Jänner würde die Schriftstellerin und Regisseurin ihren 90. Geburtstag feiern. Von Brigitte Schwens-Harrant Geboren wurde Susan Lee Rosenblatt, „zwei Wochen bevor Hitler zur Macht gelangte“, in New York City „als eine Amerikanerin der dritten Generation von polnisch-litauisch-jüdischer Herkunft“, wie die Schriftstellerin selbst einmal sagte. Sie wuchs im Süden der USA auf, in Arizona, in Kalifornien, erhielt nach dem frühen Tod ihres Vaters den Namen ihres Stiefvaters, Sontag, und wuchs mit europäischer Kultur auf, mit deutscher Literatur, die sie schon als Kind verschlang. Sie stieß früh auf Franz Kafka und auf Thomas Manns „Zauberberg“, „der ja von nichts anderem als dem Zusammenstoß unterschiedlicher Ideale im Innersten der europäischen Zivilisation handelt“. Der Besuch der 16-Jährigen bei Thomas Mann fand nicht nur Eingang in ihr Tagebuch, sondern auch in spätere Texte. Im Vorwort der 2012 posthum herausgegebenen Tagebücher aus den Jahren 1964 bis 1980 („Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“) meint Sontags Sohn David Rieff, die stärksten Momente fänden sich dort, wo sich seine Mutter in Bewunderung übe. Man verstehe dann auch jene Essays besser, „die in erster Linie Hommagen sind“, etwa an Walter Benjamin, Roland Barthes, Elias Canetti. „In meinen Augen kann man diesen Band mit Fug und Recht auch als politischen Bildungsroman betrachten – eben in dem Sinne, dass hier jemand zur Reife gelangt.“ Foto: Imago/Allstar „Warum ist das Böse nicht überall?“ Wissbegier und Bildung Dass man zur Reife gelangt, dazu ist eine ständige Bewegung nötig, getrieben von Wissbegier, von Interesse, von Offenheit. Und von Bildung, würde Susan Sontag wohl ergänzen. Es braucht aber auch die Fähigkeit, eigene Thesen immer wieder kritisch zu hinterfragen, um das Denken weiterzuentwickeln. Auch davon zeugen Sontags Essays, die – heute gelesen – einerseits Zeitgeschichte erzählen, andererseits aber immer noch faszinierend aktuell sind. In ihrem Buch „Das Leiden anderer betrachten“, das 2003 erschien, unterzieht sie die 1977 erschienenen Essays „Über Fotografie“ einer kritischen Relecture. Stimmt es denn, dass wir abstumpfen, wenn wir Bilder von Grausamkeit und Gewalt, von Verletzten oder Toten immer wieder sehen? Sie war sich nicht mehr sicher. „Die These, das moderne Leben bestehe aus einer Abfolge von Schrecknissen, die uns verderben und an die wir uns nach und nach gewöhnen, gehört zum Grundbestand der Kritik an der Moderne – und sie ist fast so alt wie die Moderne selbst.“ Aber sollte denn ein Wächterrat die Schrecken rationieren? Wohl kaum. Zudem würden die Schrecken nicht abnehmen, gäbe es weniger Bilder davon. „Auch wenn sie nur Markierungen sind und den größeren Teil der Realität, auf die sie sich beziehen, gar nicht erfassen können, kommt ihnen eine wichtige Funktion zu. Die Bilder sagen: Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergeßt das nicht.“ Doch wichtig sind die Fragen dazu: „Solche Bilder können nicht mehr sein als eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit, zum Nachdenken, zum Lernen – dazu, die Rationalisierungen für massenhaftes Leiden, die von den etablierten Mächten angeboten werden, kritisch zu prüfen. Wer hat das, was auf dem Bild zu sehen ist, verursacht? Wer ist verantwortlich? Ist es entschuldbar? War es unvermeidlich? Haben wir eine bestimmte Situation bisher fraglos akzeptiert, die in Frage gestellt werden sollte? Dies alles – und obendrein die Einsicht, daß weder moralische Empörung noch Mitgefühl das Handeln bestimmen können.“ Ihre Essays mögen vielleicht manchen zu wenig stringent argumentiert scheinen, aber sie sind Essays im besten Sinn, Tiefenbohrungen, in denen sie, wie Herfried Münkler einmal schrieb, die Themen umkreist, einkreist, umstellt. Der Wissensvorrat, auf den Sontag zugreifen und durch Susan Sontag Die Autorin (1933– 2004) erhielt unter anderem den Jerusalem Book Prize 2001, den National Book Award und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. „ Von der Literatur, die sie selbst schrieb und die sie so leidenschaftlich gerne las, erwartete Susan Sontag viel, sehr viel. “ den sie vieles miteinander in Verbindung bringen konnte, sucht seinesgleichen. In „Krankheit als Metapher“ (1978) – sie führte das Thema 1989 mit „Aids und seine Metaphern“ weiter – wirft Sontag einen kulturgeschichtlichen Blick auf den Umgang mit Tuberkulose und Krebs und darauf, wie man darüber sprach und spricht. Sie, die selbst an Krebs erkrankt war, kam zum Schluss, „daß Krankheit keine Metapher ist und daß die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen – und die gesündeste Weise, krank zu sein – darin besteht, sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen, ihm größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen.“ Sie wollte dazu bewegen, Krebs als Krankheit ohne „Bedeutung“ zu betrachten, als eine ernste Krankheit, aber nicht zwangsläufig eine „zum Tode“. Mit den USA ging Sontag stets hart ins Gericht. „Amerika ist auf Völkermord gegründet“, „Amerika hatte nicht nur das brutalste System von Sklaverei der Neuzeit, sondern […] auch ein einzigartiges Rechtssystem, das Sklaven in keinerlei Hinsicht als Menschen anerkannte“, schrieb sie 1966 in „Was in Amerika geschieht“. Ihre Heimat sah sie von „leidenschaftlichem Rassismus geprägt“ und vermutete – während der Vietnamkrieg ein Menschenleben nach dem anderen verschlang und Martin Luther King mit vielen gegen Rassismus auftrat: „das wird in absehbarer Zukunft auch so bleiben“. Zutrauen in die Jugend Den rebellischen Jungen der 1960er Jahre traute Susan Sontag viel zu, sie setzte sich in ihren zahlreichen Essays mit „Camp“ und Pop auseinander und sprengte damit die Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur, zeigte sich andererseits doch tief verwurzelt in der europäischen Tradition. So beklagte die leidenschaftliche Kinogängerin kulturpessimistisch das Fernsehen und den „Wust von Endlosgeschichten“ der Medien. Bei aller Kritik gab sie den Glauben an den Menschen nicht auf. „Wer wären wir, wenn wir kein Mitgefühl für jene aufbringen könnten, die nicht wir selbst sind und die nicht zu uns gehören?“, fragte sie rhetorisch ein Jahr vor ihrem Tod in ihrer Dankrede, als sie 2003 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. „Wer wären wir, wenn wir uns selbst nicht – wenigstens zeitweise – vergessen könnten? Wer wären wir, wenn wir nicht lernen könnten? Wenn wir nicht verzeihen könnten? Wenn wir nicht etwas anderes werden könnten, als wir sind?“ Von der Literatur, die sie selbst schrieb und die sie so leidenschaftlich gerne las, erwartete Susan Sontag viel, sehr viel. Sie erinnere an die „Gleichzeitigkeit dessen, was auf der Welt vor sich geht“. Wir brauchen die Literatur, so Susan Sontag, „um unsere Welt zu erweitern“. Allerdings ging es Sontag, die 1993 im belagerten Sarajevo Samuel Becketts „Warten auf Godot“ inszenierte, nicht nur darum, das Denken zu erweitern. Damit verbunden ist nämlich der Blick auf das eigene Handeln. Die Literatur, so Susan Sontag, gehe der Frage nach: „Warum gibt es das Böse?“ Und Sontag meinte: „Vielleicht sollte man dieses Problem andersherum formulieren: Warum ist das Böse nicht überall? [...] Und was sollen wir tun, wenn es nicht uns widerfährt? Wenn das Leiden, das erduldet wird, das Leiden anderer ist?“ TIPP: Susan Sontag Gedanken für den Tag Von Brigitte Schwens-Harrant 16.–21. Jänner 2023, jeweils 6.56, Ö1 oe1.orf.at
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