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DIE FURCHE 11.07.2024

DIE

DIE FURCHE · 28 20 11. Juli 2024 Sie war 16 Jahre lang deutsche Bundeskanzlerin und 18 Jahre CDU-Chefin. Von vielen wurde sie als „Mutti“ der Nation bezeichnet. Am 17. Juli feiert Angela Merkel ihren Siebziger. Ein Porträt. Illu: Rainer Messerklinger „Im entscheidenden Moment bin ich mutig“ Von Manuela Tomic MOZAIK Patschenteufel Seit Menschengedenken wütet auf dem Balkan der Patschenteufel. Auch Mutter war von ihm besessen. Jedes Jahr zu Weihnachten vergeudete sie hart verdientes Geld für unsere verweichlichten Füße. Bunte Plüschpatschen leuchteten uns beim Öffnen der Geschenke entgegen. „Zieht sie über, sonst bekommt ihr eine Eierstockentzündung“, befahl Mutter mir und meiner Schwester. Als ich zum ersten Mal bei meiner Kindheitsfreundin in der Kärntner Bauernstube zu Gast war, verlangte ich verängstigt nach warmen Patschen. Wirre Augen sahen mich an, denn hier trug niemand außer Großmutter dicke Wollschuhe. Als Einzige sprach sie noch „Windisch“, wie man Slowenisch in Südkärnten nannte. Bestimmt war auch sie mit dem Patschenteufel bekannt. In der Baščaršija, der Altstadt von Sarajevo, lungert er noch heute zwischen den alten Ständen des Basars, die über und über mit priglavci, traditionell gestrickten Patschen, behängt sind. Als meine Großmutter starb, ging Mutter auf den Dachboden und legte mir Großmutters blau gemusterte priglavci in die Hände. Manchmal hole ich sie aus dem Schrank, denke an Großmutters rosarot lackierte Fußnägel, an ihre maronifarbene Haut und ihre von Ödemen aufgedunsenen Knöchel. Schon sie war überzeugt, dass Eierstöcke ohne Patschen nicht fruchten. „Ich will keine Kinder“, trotze ich dem Patschenwahn. Nur gut, dass Großmutter und der strickende Teufel kein Wort Deutsch verstehen, sonst säße ich längst in der Patschenhölle. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Foto: dpa / Georg Wendt Von Christian Jostmann Aus der Kindheit von Angela Merkel gibt es die Anekdote mit dem Dreimeterbrett. Eine ganze Schulstunde lang stand das junge Mädchen oben und traute sich nicht zu springen. Am Ende fasste es sich doch ein Herz. Jahrzehnte später – bereits auf dem Sprung, die mächtigste Frau der Welt zu werden – kommentierte die Politikerin ihr Verhalten: „Ich bin, glaube ich, im entscheidenden Moment mutig. Aber ich brauche beachtliche Anlaufzeiten und versuche, möglichst viel vorher zu bedenken. Spontan mutig bin ich nicht.“ Auch als der Berliner Landesvorsitzende des „Demokratischen Aufbruchs“ sie Anfang 1990 fragte, ob sie seine Pressesprecherin werden wolle, bat Angela Merkel sich zunächst Bedenkzeit aus. Der „Demokratische Aufbruch“ war eine jener Bürgerbewegungen, die sich während der Wende in der DDR gründeten, und die Mittdreißigerin einer von vielen Menschen, die sich damals politisch engagieren wollten. Erfahrung brachte die Physikerin keine mit, weder als Mitglied einer DDR-Partei noch als Dissidentin. Äußerlich fiel sie nicht auf, durch praktische Intelligenz und Belastbarkeit umso mehr. Ein Jahr später saß Angela Merkel in Helmut Kohls vierter Regierung. Dessen Politik einer raschen Wiedervereinigung hatte sie – zuletzt als Sprecherin des DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière – vorbehaltlos unterstützt. Der Kanzler der Einheit wollte „ein weiches Ressort mit einer ostdeutschen Frau“ besetzen. Maizière empfahl ihm die „gescheite“ Quereinsteigerin, die bei den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen ein Direktmandat für die CDU errungen hatte und als Bundesministerin für Frauen und Jugend nun die Neuregelung des umstrittenen Abtreibungsrechts aushandeln durfte. Es wurde für Merkel zum Lehrstück wie auch für ihre konservativen Gegner in der eigenen Partei. Deren Sprachregelungen schien sie zwar zu übernehmen, in Wirklichkeit ließ sie aber ein liberaleres Gesetz entwerfen, das mit den Stimmen der Opposition den Bundestag passierte. Die Ministerin selbst enthielt sich ostentativ – so wie sie es 25 Jahre später als Kanzlerin tat, als sie 2017 die Entscheidung über die Ehe für Homosexuelle dem Gewissen der Abgeordneten anheimstellte. Manche erkannten früh das politische Aus nahmetalent, andere taten sich noch Jahre später schwer mit dieser Anerkennung. Gerhard Schröder zum Beispiel, der in der Elefantenrun de nach der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 nicht „im Ernst“ glauben wollte, dass seine Partei „auf Lesen Sie dazu auch den Artikel „Angela Merkels Vermächtnis“ von Stefan Schocher vom 7. Juli 2021 auf furche.at. 2021 besuchte Angela Merkel den Vogelpark Marlow in Mecklenburg-Vorpommern. Die dabei entstandenen Fotos wurden zum Internethit. Die sonst so kontrollierte Politikerin zeigte an diesem Tag viele Gesichter. ein Gesprächsangebot von Frau Merkel (...) einginge, in dem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden? Ich meine, wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen.“ Immerhin war Schröder nicht der Einzige, der eines Besseren belehrt wurde: „Wer hätte noch vor einigen Wochen und Monaten gedacht, dass heute eine große Koalition antritt, um unser Land gemeinsam in die Zukunft zu führen?“, fragte bald darauf eine gutgelaunte Angela Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung, und: „Wer hätte gedacht, dass das höchste Regierungsamt schon in diesem Jahr einer Frau übertragen wird? Wer hätte das alles gedacht?“ Auch die erste Bundeskanzlerin Deutschlands hat damals kaum gedacht, dass sie dieses Amt 16 Jahre lang ausüben würde, durch vier Wahlperioden, drei davon in einer großen Koalition mit der SPD. Ebenso wenig konnte sie ahnen, welche Krisen Europa in diesen „ Wer Frau Merkel unterschätzt, der hat schon verloren. “ Horst Seehofer, CSU 16 Jahren heimsuchen würden. Bankenkrise, Eurokrise, Ukraine-Krise, Flüchtlingskrise, Brexit, Klimakrise und am Ende ihrer Amtszeit auch noch eine Pandemie – Angela Merkel wurde zur Krisenkanzlerin, die sich abmühte, das große politische Erbe ihrer Vorgänger, den deutschen Sozialstaat und die Europäische Union, zu bewahren. Dazu musste sie die gesellschaftliche Mitte gegen wachsende zentrifugale Kräfte um sich scharen und für die CDU an die Wahlurnen holen. „Asymmetrische Demobilisierung“ nennen Politologen die Strategie, den politischen Gegner durch Konfliktvermeidung lahmzulegen. In der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit hatte Merkel damit zusehends weniger Erfolg. Andere Anführer von Mitte- rechts-Parteien in Europa waren indessen kaum erfolgreicher. Als Frau, die große Macht an exponierter Stelle ausübte, musste sie zum Objekt der tief in unserer Kultur verwurzelten Misogynie werden. Die äußert sich bekanntlich oft als Geringschätzung. Doch selbst daraus wusste sie Nutzen zu ziehen: „Wer Frau Merkel unterschätzt, der hat schon verloren“, warnte Horst Seehofer. Er wusste, wovon er sprach. Und ein Journalist analysierte: „Es ist nicht Gift, sondern Geduld, mit der Merkel die Herren erledigt.“ Dass sie vielen männlichen Kollegen an physischer Konstitution überlegen war, gab ihr in endlosen Verhandlungsnächten die Oberhand. „Ich habe gewisse kamelartige Fähigkeiten“, erklärte die Kanzlerin ihr Schlafverhalten. Zwischen Anpassung und Unabhängigkeit Vor allem aber ließ sich die Politikerin in ihren Entscheidungen weniger von Emotionen leiten als viele Männer. Ihr Handeln war stets von rationalem Kalkül bestimmt – selbst da, wo ihr Kritiker naives Gutmenschentum vorwarfen. Was nicht heißt, dass sie sich nie verkalkulierte. Wie sehr sie mit ihrer Entscheidung, die Grenzen für Flüchtende offen zu halten, den Hass ihrer ostdeutschen Landsleute auf sich zog, hat Angela Merkel wohl selbst überrascht. Das bezeugt ihre Äußerung auf einer Pressekonferenz Mitte September 2015 in Berlin: „Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Eine typische Ostdeutsche war sie ohnehin nie. Am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren, wuchs sie im brandenburgischen Templin auf, wo ihr Vater Horst Kasner ein kirchliches Ausbildungsseminar leitete: ein Mann von hohem intellektuellem Anspruch, der zeitlebens den schmalen Grat zwischen äußerer Anpassung und innerer Unabhängigkeit beschritt. Einen ähnlichen Weg ging auch Kasners älteste Tochter. Ihre schulische Leistungen, vor allem in Russisch und Mathematik, waren so exzellent, dass sie trotz kirchlicher Herkunft Naturwissenschaften studieren durfte. Ende der 1970er Jahre kam Angela, die durch Heirat mittlerweile Merkel hieß, ans Ostberliner Zentralinstitut für Physikalische Chemie. Zwischen männlichen Kollegen, von denen viele wie sie der DDR distanziert gegenüberstanden, ohne sich aufzulehnen, hätte sie hier wohl ihre Nische fürs Leben gefunden – wäre ihr nicht Ende 1989 widerfahren, was sie bei ihrem Amtsantritt als Kanzlerin „die größte Überraschung“ und nach ihrem Rücktritt den „Glücksumstand“ ihres Lebens nannte: „die Freiheit“.

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