DIE FURCHE · 28 18 Lebenskunst 11. Juli 2024 „ Rund um meinen Geburtstag gelingt es mir fast immer, irgendjemanden mit Gedanken zur Endlichkeit des Lebens vor den Kopf zu stoßen. “ Arnold Mettnitzer studierte Theologie in Wien und Rom; nach einer Lehranalyse bei Erwin Ringel absolvierte er die Ausbildung zum Psychotherapeuten (Individualpsychologie). Der gebürtige Kärntner arbeitet in freier Praxis in Wien; zudem hält er Vorträge sowie Seminare und ist Autor zahlreicher Bücher. Foto: Werner Krug Das Gespräch führte Martin Tauss und Altar“: So lautet ein Buchtitel von Arnold Mettnitzer, in dem „Couch der Erfahrungsschatz seiner beiden Berufsfelder zusammengeführt wird: Psychotherapie und Seelsorge. Der gebürtige Kärntner war als Theologe von 1979 bis 2001 Seelsorger in der Diözese Gurk-Klagenfurt; seit 1996 arbeitet er als Psychotherapeut in freier Praxis in Wien. Im eben erschienenen Buch „Die Veredelung der Zeit“ (Kneipp-Verlag) wirft der 71-Jährige einen hoffnungsvollen Blick auf die Potenziale des Älterwerdens – und ermutigt dazu, die Angst vor dieser Lebensphase zu überwinden, um bis zuletzt Glück und Sinn zu suchen. Die FURCHE bat den vielbeschäftigten Therapeuten und Vortragenden deshalb zum Interview. DIE FURCHE: Sie schreiben über die Möglichkeiten eines gelungenen Älterwerdens. Gibt es dafür einfache Ratschläge? Arnold Mettnitzer: Alles hängt im Grunde davon ab, wie wir auf das Alter schauen: Entweder wir sind der Überzeugung Knut Hamsuns und meinen: „Das Alter macht alt, sonst gar nichts.“ Oder aber wir sehen mit den Augen mediterraner Menschen im Alter die „Transparenz des Lichts“, wie ich das neun Jahre während meiner römischen Studientage erleben durfte. Nie sind Menschen so durchsichtig und klar wie im Herbst ihres Lebens, geläutert durch ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Darum genießt der alte Mensch – und sei er noch so sehr von der Last seines Lebens und von Krankheit gezeichnet – in mediterranen Gesellschaften einen viel höheren Stellenwert als bei uns. DIE FURCHE: Älterwerden bedeutet auch, sich die essenzielle Abhängigkeit von anderen Menschen teils schmerzhaft bewusst zu machen … Mettnitzer: Vom ersten Augenblick unseres Lebens bis zum letzten Atemzug lenken uns zwei fundamentale Erfahrungen, die wir bereits aus unserer Zeit als Embryo im Mutterleib kennen: dass wir im Uterus mit unserer Mutter aufs Engste verbunden waren und daraus nach der Geburt die Erwartung wachsen konnte, es möge da draußen in der Welt so weitergehen. Es könnte ja auch dort jemanden geben, der uns Geborgenheit und Schutz gibt – und das Gefühl, dazuzugehören und nicht alleingelassen zu werden. Dazu gesellt sich die zweite bereits im Mutterleib gemachte Erfahrung, dass wir dort nicht nur geschützt und verbunden waren, sondern auch wachsen und uns entfalten konnten. Und auch das haben wir ins Leben mitgebracht als unauslöschliche Hoffnung, wir könnten auch Ihr FURCHE-Abo Als FURCHE-Leser:in schätzen Sie Journalismus mit Sinn: unterschiedliche Standpunkte und neue Perspektiven, am Menschen ausgerichtet, verantwortungsbewusst und tiefgründig. Ihre Abovorteile auf einen Blick Für die entspannte Lektüre am Wochenende die gedruckte FURCHE ab Donnerstag in Ihrem Briefkasten E-Paper für unterwegs und uneingeschränkter Zugang zu allen digitalen Inhalten auf furche.at Mit dem FURCHE-Navigator Zeitgeschichte entdecken – alle Artikel seit 1945 online Tägliche oder wöchentliche FURCHE-Newsletter, jetzt neu: jeden Tag ein Thema in unseren neuen Ressort-Newslettern, 7× pro Woche Viel vor. Viel dahinter. 35 · 31. August 2023 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– „Grüne Arbeit sichert unser Dasein“ Um „Green Jobs“ zu fördern, braucht es ein Zusammenspiel von Politik, Unis und Wirtschaft. Wie die grüne Wende gelingt. · Seiten 7–8 Israel – ein Gottesstaat? „Wissenschaft ist das, was uns retten wird“ Fundamental anders Gastkommentator Ben Segenreich stößt sich an Medizinethikerin Alena Buyx über den aktuellen Die heurige Architekturbiennale in Venedig versteht der Berichterstattung zur israelischen Justizreform. „One Health“-Ansatz, Arbeitszeitreduktion und den sich als Labor für die Zukunft und richtet ihren Blick Eine Positionierung. · Seite 6 Klassenkampf im Klimaschutz. · Seite 12 vor allem auf Afrika. · Seite 17 Jetzt Newsletter bestellen: furche.at/ newsletter Das Thema der Woche Seiten 2–5 Mehr Infos furche.at/abo +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Illustration: Rainer Messerklinger Während Bayerns Vizeministerpräsident von seiner Schulzeit eingeholt wird, offenbart ein Video der freiheitlichen Jugend den – ganz aktuellen – Abgrund der FPÖ. Ein Offenbarungseid. Mehr als Jugendsünden „ Wer auch immer mit Kickls FPÖ koaliert oder sie gar inhaltlich kopiert, Welche Chancen bietet die Digitalisierung für die Demokratie? Und welche Gefahren gehen mit TikTok und Co einher? Antworten vom Europäischen Forum Alpbach. Politik zum Einloggen autoritären Denkens. Man sei „die letzte Generation, die sich das Land zurückholen könne“, raunte eine Stimme – optisch unterlegt von der Regenbogenfahne und der brennenden Kathedrale Notre-Dame. Fackelzug- AUS DEM INHALT Die Wehen des Krieges In der Ukraine ist die Geburtenrate um 28 Prozent eingebrochen. Aber nicht alle legen ihre Lebensplanung auf Eis. Ein Besuch in einer Geburtenklinik in Kiew. Seite 9 Lernen bei AD(H)S Kinder mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten sind keine „Allrounder“, sondern Spezia listen. Eltern haben einen Knochenjob – können aber viel erreichen. Seite 11
DIE FURCHE · 28 11. Juli 2024 Lebenskunst 19 nach der Geburt Gelegenheiten finden, unsere Potenziale zu entfalten. Damit ist das Spannungsfeld beschrieben, in dem ein Mensch sein Leben schon „vor der Wiege“ – und nicht erst „von der Wiege“ – bis zur Bahre verbringt: in der Sehnsucht, wachsen zu dürfen und gleichzeitig verbunden zu sein. Diese beiden Grundbedürfnisse bleiben bis zum letzten Atemzug der innere Motor und die Trieb feder all unserer Tage. DIE FURCHE: Ihr Buch versteht sich als „Liebeserklärung an das Älterwerden“. Wie aber kann man das Leuten vermitteln, die im Alter mit großen Einschränkungen und Schwierigkeiten zu kämpfen haben? Mettnitzer: Ich erzähle von ermutigenden Begegnungen. Eine verdanke ich der in Wien geborenen Psychoanalytikerin Erika Freeman, die mit zwölf Jahren auf der Flucht vor den Nazis allein nach New York reisen musste und in ihrem beeindruckend langen Leben nie das Lachen verlernt zu haben scheint: „Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen“. Das ist der Titel des Buches, das Dirk Stermann über Erika Freeman geschrieben hat – und das Lebensmotto einer der bekanntesten Psychoanalytikerinnen der Welt. In Amerika wurden sie als Therapeutin zahlreicher Stars berühmt; jetzt lebt sie wieder in ihrer Heimatstadt ... In seinem neuen Buch erzählt Psychotherapeut Arnold Mettnitzer von Erlebnissen mit Menschen, die im Älterwerden Glück und Sinn finden. Ein Gespräch über kostbare Begegnungen und transformative Momente. „Der Lebensherbst kann leuchten“ DIE FURCHE: Heuer im Frühjahr wurde Erika Freeman zur Ehrenbürgerin der Stadt Wien ernannt... Mettnitzer: Ja, und in Interviews spricht sie gerne von zwei für sie vorherrschenden Menschentypen: Die einen schauen dich von oben herab an und fragen herablassend: „Wer bist denn du (schon)!?“ Die anderen begegnen dir auf Augenhöhe, lächeln dich bestätigend an und vermitteln dir: „Was bist du nur für ein wunderbarer Mensch!“ Und aus dieser jahrzehntelangen Erfahrung im Umgang mit Menschen sagt sie: „Die größten Menschen sind die bescheidensten. Das sind große Menschen mit großen Seelen.“ Einem Menschen mit einer „großen Seele“ sieht man das von Weitem an. In Österreich, so ihr Eindruck, dürfe man in der Öffentlichkeit anscheinend nicht über das reden, was Freude macht. Dabei habe doch schon Eric Kandel herausgefunden, wie sehr erlebte Freude im Kopf chemische Substanzen freisetzt, die uns guttun und klug machen. Stress hingegen sorgt dafür, dass wir – je länger, umso mehr – verblöden. Unter Stress animieren uns chemische Substanzen im Gehirn, die Flucht zu ergreifen und nur mehr mit Davonlaufen beschäftigt zu sein. Freeman zieht da raus den Schluss: „Freude macht glücklich! Stress macht dumm!“ Um mich persönlich immer wieder vor solchen Arten von Dummheit zu schützen, nehme ich gerne Gedichte zur Hand. Mit ihnen genieße ich nutz- und zwecklose, aber sinnvolle Momente der freudvollen Nachdenklichkeit. DIE FURCHE: Sie schreiben über „die Offenheit, bis zuletzt zu wachsen“. Haben Sie dazu ein Beispiel? Mettnitzer: Das mich im Moment vielleicht berührendste Beispiel aus erlebter Praxis verdanke ich der Schauspielerin Heide linde Weis, die wir Ende 2023 im engsten Kreis ihrer Freunde am Villacher Waldfriedhof verabschiedet haben. 2020 hatte sie nach ihrem 80. Geburtstag ihre Memoiren mit dem schönen Titel „Das Beste kommt noch“ vorgelegt. Ich durfte sie dazu im Rahmen der „Festspiele für die Seele“ 2023 befragen – und war beeindruckt, wie jemand ohne große Worte einfach die Hoffnung in den Raum stellt, dass das Beste noch vor uns liegt. Ein herzenskluges Bekenntnis dafür, wie wenig wir, was unsere Zukunft betrifft, wissen können – aber gleichzeitig, wie viel wir im Blick darauf hoffen dürfen, und zwar bis zuletzt. DIE FURCHE: Was kann unsere krisengebeutelte Gesellschaft derzeit hoffen? Plakativ gefragt: Was brauchen wir als Kollektiv derzeit am meisten? Mettnitzer: Was unsere Gesellschaft im Moment am bittersten nötig zu haben scheint, ist Zuversicht, Offenheit, die man ja auch „Hoffenheit“ nennen könnte. In der Überzeugung, dass die Zukunft „prinzipiell offen“ ist und uns bis zuletzt hoffen lässt. Deshalb ist auch für den französischen Schriftsteller und Philosophen Charles Péguy die größte der göttlichen Tugenden nicht die Liebe, sondern die Hoffnung. Wie er sagt, „diese winzig kleine Hoffnung, die fast nach gar nichts aussieht“. DIE FURCHE: Die ökosoziale Transformation der Gesellschaft könnte sicherlich vom Wissensschatz der Psychotherapie profitieren. Gibt es Wandel nur nach einem großen Aha-Erlebnis, oder geht das auch ganz leise im Alltag? Mettnitzer: Der Volksmund weiß: „Drei Blicke tu zu Deinem Glück: Vorwärts! Aufwärts! Und zurück!“ Diesen drei Blicken entsprechen im Leben eines Menschen die drei „Grundmelodien“ eines heilenden Miteinanders: im Blick voraus die Bitte um Hilfe. Im Blick zurück ein aus tiefstem Herzen geschuldetes Danke. Und im Blick nach oben das Eingeständnis, trotz allen Stolzes auf die eigene Leistung das Entscheidende im Leben sich schenken lassen zu müssen. Die nobelste Art, auf das, was ich nicht fassen kann, zu reagieren, ist das Staunen. Das wäre die vornehmste Kunst, die Menschen einander an- und auszurichten vermöchten. In solchen Momenten stehen Menschen auch am allerwenigsten in der Versuchung, sich mit Gott zu verwechseln. Sprachlos, mit großen Augen und offenem Mund sitzen oder stehen sie da und staunen. Und wenn sie nach Hause kommen, müssen sie davon erzählen, was ihnen unterwegs an Unvorstellbarem widerfahren ist. Genau darin besteht ja auch der Zauber dessen, was wir meinen, wenn wir von der „Heilkraft spiritueller Erfahrungen“ reden. „ Alles hängt im Grunde davon ab, wie wir auf das Alter schauen. Mit den Augen mediterraner Menschen sehen wir darin die ‚Transparenz des Lichts‘, wie ich das neun Jahre lang in Rom erleben durfte. “ DIE FURCHE: Was verstehen Sie unter „spirituellen Erfahrungen“? Mettnitzer: Die tiefste Erfahrung aller Spiritualität liegt darin, mehr zu „wissen“ und zu spüren, als man sagen kann. Beim Versuch, auszusprechen, was im Innersten vor sich geht, ringt man vergebens ums Wort. Alles, was uns in dieses Kraftfeld bringt, ist kostbar. DIE FURCHE: Wie gehen Sie eigentlich persönlich mit dem Älterwerden um? Gab es einen einschneidenden Zeitpunkt, wo Ihr Bewusstsein für die Kostbarkeit von Lebenszeit gewachsen ist? Mettnitzer: Zur Feier meines 70. Geburtstags im November 2022 habe ich im kleinen Kreis mir vertrauter Menschen laut darüber nachgedacht, dass die Zeit vor mir weit kürzer sein wird als jene, die Die Veredelung der Zeit Eine Liebeserklärung ans Älterwerden Von Arnold Mettnitzer Kneipp 2024 112 S., geb., € 22,95 bereits hinter mir liegt. Dabei erinnerte ich mich an ein Gespräch mit meiner Großmutter, die ich 1968 als 16-jähriger Gymnasiast in Wien von der Kürze des Lebens mit folgender Milchmädchenrechnung überzeugen wollte: „Es dauert nicht lange, und ich bin 30. Und auch dann dauert es nicht mehr lange, und ich werde 60 Jahre alt sein.“ Von der Tiefe meiner Überlegungen nicht sonderlich beeindruckt, meinte damals Oma lächelnd zu mir: „Ich bin schon lange, bevor du auf die Welt gekommen bist, 60 Jahre alt gewesen.“ Rückblicke und Ausblicke rund um den eigenen Geburtstag sind seither geblieben, haben sich im Grunde zu einem eigenartigen Ritual persönlicher Nachdenklichkeit entwickelt. Dabei ist es mir beinahe in jedem Jahr gelungen, mit Gedanken zur Endlichkeit des Lebens irgendjemanden vor den Kopf zu stoßen. So haben auch bei meinem Siebziger nicht alle verstanden, dass ich mich bei ihnen für das gemeinsame Feiern mit dem folgenden Gedicht von Rose Ausländer eigentlich bedanken wollte. Jemand meinte sogar, ein solcher Text müsse von einem älteren Menschen als Provokation verstanden werden. DIE FURCHE: Was war daran so verstörend? Mettnitzer: Ich darf abschließend zitieren: Noch bist du da // Wirf deine Angst / in die Luft // Bald / ist deine Zeit um / bald / wächst der Himmel / unter dem Gras / fallen deine Träume / ins Nirgends // Noch duftet die Nelke / singt die Drossel / noch darfst du lieben / Worte verschenken / noch bist du da // Sei was du bist / Gib was du hast. KREUZ UND QUER KÄTHE LEICHTER – EINE FRAU IM WIDERSTAND DI 16. JULI 22:35 Käthe Leichter, Ikone der Frauenbewegung, war Zeit ihres Lebens als Politikerin und Wissenschafterin eine große Pionierin. Die intellektuelle Frauenrechtlerin und Jüdin im aktiven Widerstand wurde im Februar 1942 von den Nazis in der Gaskammer ermordet. Die Doku von Helene Maimann zeichnet ein Bild Käthe Leichters, das auch ihre Beziehung zum jüdischen Glauben thematisiert, zu dem sie ein ambivalentes Verhältnis hatte. religion.ORF.at Furche24_KW28.indd 1 03.07.24 15:50
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