DIE FURCHE · 28 10 Diskurs 11. Juli 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Ich möchte ihm dankbar ein Denkmal setzen Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Die Vorstellung, an Ihrer Übung im Alleinsein – im Beisein Ihrer Hündin – virtuell teilnehmen zu dürfen, ist mir nicht unangenehm. Alleinsein-Training brauche ich aber nicht, das kann ich ganz gut – eben allein. Allerdings sagt sich das leicht, wenn fast immer jemand in Rufnähe ist. Oder mit Geschirrklappern oder Klavierklimpern (Pardon: -üben) mitteilt: Ich bin eh da. Zu dem Thema „Politische Bildung in der Schule“ möchte ich noch einmal auf den etwas abstrakten Begriff „Unterrichtsprinzip“ eingehen. Nun bin ich kein Schulpädagoge, aber er bedeutet für mich, dass der gesamte Unterricht gleichsam durchtränkt ist von all dem, „ Wissen um Religion muss nicht gleich ein dogmatisches Lehrgebäude sein, aber vielleicht eine Tür, von der man zumindest weiß, wie sie in der Angel hängt. “ was für ein lebendiges demokratisches Zusammenleben sinnvoll, ja notwendig ist. Es ist ein roter Faden, der in allen Fächern entdeckt und sichtbargemacht werden kann. So die Idee – und hoffentlich nicht nur meine! Natürlich wäre dies eine enorme und vor allem eine kreative Herausforderung für Lehrer, Schüler und ja, auch Eltern. In einem hoffentlich nicht vergessenen Grundsatzerlass dafür war ja einmal zu lesen: „Für das Unterrichtsprinzip Politische Bildung ist die Vorstellung maßgebend, dass Lernen auf Erfahrung und Einsicht beruht und Erkennen und Wissen in Beziehung zu einer möglichen Aktivität stehen.“ Ideen sind also gefragt, nicht Ideologien! Ähnlich ist es ja auch beim Religionsunterricht. Ihrer Erfahrung damit, liebe Frau Hirzberger, von der Sie berichtet haben, möchte ich meine gegenüberstellen. Ich hatte das Glück, acht Jahre lang einen Religionsprofessor zu haben, der uns keine Sekunde gelangweilt oder gutmeinend indoktriniert hätte. Er war die Verkörperung (wohl etwas rundlich!) der Verträglichkeit von Vernunft und Glauben. Drum möchte ich ihm dankbar ein kleines Denkmal setzen. Und ausnahmsweise sogar seinen Namen nennen. Er hieß Dr. Karl Böcklinger, war Priester und Mitglied des Domkapitels in Linz. Gerne hätte ich ihn heute um seine Meinung zur Idee der heftig angefeindeten Skulptur der gebärenden Maria im Linzer Dom gebeten. Ich bin sicher, sie würde theologisch reflektiert sein. Die fundamentalistisch brutale Attacke würde er natürlich entschieden verurteilen. Apro pos Denkmal: Für die meisten Religionslehrer unserer Kinder und Enkelkinder fällt mir leider kein Denkmal ein. Ich bin ja der Meinung, dass ein gelungener Religionsunterricht in der Methode sehr verwandt mit dem ist, was mir als politische Bildung vorschwebt. Er könnte ebenso von einem Selbstverständnis ausgehen, dass Lernen an sich schon wertvoll ist. Besonders dann, wenn es Orientierungshilfen bietet in einem vielleicht weglosen Gelände, wenn man den eigenen Standort im Leben erkunden oder ein Ziel ins Auge fassen möchte. Vor nicht allzu langer Zeit hat ja auch ein gewisses Wissen um religiöse Zusammenhänge noch zur sogenannten Allgemeinbildung gehört. Ich finde es beschämend, wenn heute religiöse Symbole und Zeichen, Ausdruck abendländischer Kulturepochen, nicht mehr erkannt und dechiffriert werden können. Wissen um Religion muss ja nicht gleich ein dogmatisches Lehrgebäude sein, aber vielleicht eine Tür, von der man zumindest weiß, wie sie in der Angel hängt. Ob man nun hindurchgeht oder nicht. Ich wünsche Ihnen sonnige und nicht zu heiße Sommertage! KOMMENTAR Keine falsche Scham Die Holzskulptur von Esther Strauß im Linzer Dom irritiert. Sie zeigt überraschend naturalistisch eine Gebärende unmittelbar vor der Entbindung. Mit Recht fragen viele nach der Intention dieser offensichtlichen Zurschaustellung. Möchte doch kaum eine Frau derartige Bilder von sich veröffentlicht wissen. Ist nicht der Vorgang der Geburt ein Moment größter Lebensbekundung und zugleich ein Moment schmerzvoller Ohnmacht? Liegt nicht in dieser Spannung etwas Heiliges? Eine Zurückhaltung in der Darstellung hat zumindest nichts mit falscher Scham zu tun, ebenso wenig mit der Dominanz patriarchaler Strukturen oder anderen Einschränkungen von Freiheit. Das Leben in seinen stärksten und zugleich verletzlichsten Momenten verlangt nach einer behutsamen Wahrnehmung. Nicht alles muss gezeigt werden. Trotz dieser legitimen Vorbehalte hat mich der barbarische Anschlag auf die „gebärende Maria“ erschüttert. Der Figur, die nicht an einem expliziten Andachtsort, sondern in der sonst ungenützten, durch zwei Glastüren erreichbaren Turmkammer aufgestellt war, wurde von einem unbekannten Täter schlichtweg der Kopf abgesägt: Abartig! Auch wenn tatsächlich religiöse Gefühle von Gläubigen verletzt worden sein mögen, ist dieser Akt durch nichts zu rechtfertigen. Er lässt auf eine bösartige Energie schließen, die bedrohlich wirkt. Ist nicht der Schritt von der mutwilligen Zerstörung einer weiblichen Skulptur bis hin zur realen Gewaltanwendung gegenüber Frauen relativ klein? Der Vorfall gibt auch Auskunft über die Diskursunfähigkeit unserer Zeit. Es muss offenbar vernichtet werden, was nicht der eigenen Vorstellung entspricht, was stört oder einfach anders ist. Das ist bedenklich. Braucht es eine dritte Maria? Strauß hat als Ergänzung zu zwei Marienfiguren aus der Linzer Domkrippe (1913) eine dritte Maria entworfen, gleich groß und ähnlich bekleidet. Die erste Figur kniet am Heiligabend vor dem Neugeborenen, die zweite, die zu Dreikönig aufgestellt wird, sitzt auf einem Felsen. Auf ihrem Schoß thront der kleine Jesus als König. Die Künstlerin fragt mit Recht nach der offensichtlichen Fehlstelle: Warum wurde das zentrale Geheimnis der Geburt bisher nicht dargestellt? Weil Mann (!) es nicht wollte? Die Gebärende ist ihr persönlicher Versuch einer Antwort. Auf einem Felsen sitzend, mit muskulösen Armen und Beinen ausgestattet, richtet sie einen leidenschaftlichen Blick nach oben. Auf Gott hin? Freude über ihr Frausein und der Schmerz der Wehen spiegeln sich darin. Nach hinten gestützt – und vom Betrachter abgewandt – öffnet sie ihre angehockten Beine. Der erdkugelrund angeschwollene Bauch und das entblößte Geschlecht sind sichtbar. Es ist stilisiert kreisförmig dargestellt – ein Kraftzen trum, das seine Energie freigibt. Ist das wirklich so schockierend oder theologisch bedenklich? Christus Jesus wurde „geboren von einer Frau“ (Gal 4,4), hielt der Apostel Paulus fest. Im Prolog des Johannesevangeliums ist sogar von einer „Fleischwerdung“ die Rede, um jede gnostische Versuchung abzuwehren, die das allzu Menschliche unter Verdacht stellt. Leibhaftig und verletzlich hat sich Gott in unser irdisches Dasein eingeschrieben. Diese klare Abgrenzung gegen das Missverständnis, dass Jesus nur auf Erden „erschienen“ sei, hat nichts an Bedeutung verloren. Durch das volle Menschsein Jesu sind wir von Gott mit unserer ganzen Existenz angenommen – und erlöst. Dennoch: Es bleiben mehr Fragen, als beantwortet werden können. Darin sind sich Kunst und Glaube einig. Maria als Gebärende ist zweifelsohne ein fragwürdiges Bild. Vor allem kommt es ins Gehege der theologischen Schutzzone, die von der Kirche mit dem Dogma von der immerwährenden Jungfräulichkeit Mariens aufgestellt wurde. Damit wird jedoch keine biologische Auskunft gegeben, sondern auf den Ursprung des unfassbaren Geheimnisses verwiesen – auf Gott selbst, der sich seiner Welt zum Geschenk macht. Die Kirche hält fest, dass Maria der uneingeschränkt offene Raum für Gottes Eintritt Foto: Siljarosa Schletterer Das Kunstwerk zeigt, was unter dem Anspruch bürgerlicher Frömmigkeit oft bewusst ausgespart wird. in unser Menschsein war. Ausgehend davon wäre es viel eher blasphemisch, sich Gott vom Leibe halten zu wollen und ihn hinauf in seine himmlische Turmkammer zu entsorgen. Esther Strauß bietet uns ein radikales Korrektiv. Ihre dritte Maria, die „Gottesmutter“, wie wir sie in gewagter Sprache seit dem Konzil von Ephesus (431) nennen, bringt den Heiland zur Welt – mit Fleisch und Blut. (Hermann Glettler) Der Autor ist Theologe und Kunsthistoriker, seit 2017 ist er katholischer Bischof von Innsbruck. Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (CvD), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Mag. Till Schönwälder, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. 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DIE FURCHE · 28 11. Juli 2024 Diskurs 11 Die Debatten über den Flugverkehr und ein Verbot von Kurzstreckenflügen werden nicht emotionsfrei geführt – und haben mit der Reiserealität oft wenig gemein. Ein Gastkommentar auf Erfahrungsbasis. Faktencheck für Flugschämer In vielen Medien wird verstärkt dafür geworben, statt kurzer Flüge am Tagesrand Nachtverbindungen per Bahn zu nützen. Die enorme Preisdifferenz zwischen Flug und Schlafwagen sei hier einmal außer Acht gelassen (fairerweise sollte man beim Vergleich immer mit dem Preis des Single-Schlafwagens kalkulieren; schließlich übernachtet man ja auch sonst nicht mit einem fremden Mitbürger im Hotelzimmer). Ein genauer Blick zeigt aber, dass die Ankunftszeiten der Züge für den Geschäftsreisenden und für den im Kulturbetrieb Stehenden nur beschränkt praktisch sind (von Wien nach Amsterdam 11.01 Uhr, Hamburg 8.47 Uhr, Warschau 8.52 Uhr; besser: Köln 7.03 Uhr, Mailand 7.20 Uhr). Den Vogel schießt Brüssel ab mit 10.35 Uhr. Es ist eine Umsteigeverbindung! Aber welches Hotel ist vor zehn Uhr bereit zum Check-in? Direkt aus dem Schlafwagen zur Konferenz, zum Vortrag, zur Probe? Schon möglich, aber äußerst unbequem. Es gehört auch nicht viel dazu, Flüge zwischen Wien und München als unnötig einzustufen. Allerdings lässt man dabei außer Acht, dass es sich hier überwiegend um Zubringerverkehr handelt (2021: 80 Prozent). Da wird dann rasch eingewendet, dass auch für diesen Zubringerverkehr die Bahn vorzuziehen wäre. Aber selbst wer in Wien sehr früh in den Zug steigt, erreicht eine ganze Reihe von Langstreckenflügen in München nicht. Für Frankfurt und Zürich ist die Lage noch ungünstiger. Und wie sich die Dinge in der anderen Richtung darstellen, wird erst recht kaum wahrgenommen. Wer etwa am Vormittag von Kalifornien in Frankfurt ankommt, hat ja nicht nur den langen Nachtflug hinter sich, sondern auch noch fast den ganzen Tag davor am Abflugsort. Man ist seit 20 Stunden in den Kleidern, und es ist nicht nur „ein bisschen unbequemer“, ob man dann noch acht Stunden nach Wien braucht statt zwei. Mit hundert Schlafwagen nach Brüssel In diesem Kontext erinnert man sich an die Diskussionen über das Geschick der AUA und ihr Überleben in der Pandemie. Da wurde als Bedingung für frisches Geld die Einstellung von Kurzstrecken gefordert. Oft forderten aber dieselben Ratgeber, dass „der Hub Foto: Privat Wien erhalten bleiben muss“. Hier wird übersehen, dass ein Hub definitionsgemäß der Verschränkung von Kurz- und Mittelstrecken mit Langstrecken dient. Die Langstrecke braucht die Zubringer, um rentabel zu sein, und umgekehrt. 2018 sind 73 Prozent der Passagiere eines AUA-Kurzstreckenfluges bis zu 400 Kilometer in Wien umgestiegen. Die Langstrecke wird zu 55 Prozent von Umsteigepassagieren genutzt, bei Osteuropa-Verbindungen sogar zu 65 Prozent. DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Peter Planyavsky „ Direkt aus dem Schlafwagen zur Konferenz, zum Vortrag, zur Probe? Schon möglich, aber äußerst unbequem. “ Konfrontiert man einen Flugschämer mit diesen Beobachtungen, wird die Geschäftsreise schlau zur Reise verbogen. „Da nehme ich mir einfach mehr Zeit und fahre eben am Tag davor hin.“ Auch den medialen Vorschlägen für Bahnreisen merkt man an, dass terminliche Enge nicht im Blick ist. „Es war gar nicht einfach, einen Termin mit günstigem Tarif / einen Schlafwagenplatz zu finden“, liest man da etwa. Das ist aber nicht die Situation eines beruflich Reisenden; meistens kann er die Reise auch nicht einfach „irgendwann“ antreten. Über Urlaubs- und Vergnügungsreisen sollte man tunlichst gesondert diskutieren! Nochmals Brüssel: Angesichts der Reisedichte jedweden EU-Personals ist es absurd, dass es ausgerechnet dorthin keinen durchgehenden Schlafwagen gibt. Aber wie viele Schlafwagen müssten denn verkehren, um wenigstens einen Großteil jener rund 840 Menschen zu befördern, die jeden Tag in den sieben Flugzeugen nach Brüssel reisen? In wie vielen Zügen? Und nach Köln, Zürich oder Hamburg? Gewiss, man kann Ankauf und Einsatz von hunderten Schlafwagen planen, und man kann sich europaweit darauf einigen, dass Konferenzen, Interviews und Proben immer erst zu Mittag beginnen. Vorläufig würde ein Verbot von Kurzstreckenflügen an der Praxis scheitern. Ein Mittel, sie zumindest einzudämmen, wäre die Tarifgestaltung: Ein Punkt-zu-Punkt-Flug von unter 600 Kilometern müsste extrem verteuert werden; wird hingegen ein Anschlussflug dazugebucht, mögen die heute üblichen – ohnehin weit aufgefächerten – Preise gelten. Vermeintliche Verkehrsexperten Auch aus anderen Gründen kommt ein Verbot der Kurzstreckenflüge kaum infrage. Für Reisen vom Typ Neapel–Göteborg oder Sevilla– Danzig wird es – allein schon aus kommerzieller Sicht – nie Nonstop-Flüge geben; man wird immer zwei Kurz- bzw. Mittelstreckenflüge über einen Hub brauchen. (Übrigens: 134 der europäischen Flughäfen, das sind 25 Prozent, befinden sich auf Inseln.) Mehr Sicht auf die Realität der beruflich Reisenden wäre wünschenswert – wie auch ein wenig Zurückhaltung jener, die sich gar nicht auskennen. Schrieb da einer: „13 Stunden von Buenos Aires nach Frankfurt? Das kann man doch sicher schneller machen.“ Und ein anderer: „Muss man wirklich von Schwechat über Frankfurt nach Hamburg fliegen, um nach Bremen zu kommen?“ Zum Schluss noch die Antwort eines vermeintlichen Verkehrsexperten auf die Frage, wie oft man seiner Meinung nach fliegen „dürfe“: „Dreimal pro Jahr.“ Ob da Innsbruck oder Singapur gemeint war, wurde jenen, die sich bereitwillig flugschämen würden, leider vorenthalten. Der Autor ist weitgereister Organist, Dirigent und Komponist. ZUGESPITZT Schweigefuchs 14.000 Menschen schauen auf dem Wiener Rathausplatz das EM-Spiel von Österreich und der Türkei. Nachdem sich die Fans beider Länder in Rot kleiden, kann man die Zugehörigkeiten zuerst nur daran erkennen, wer ein Bier in der Hand hält. Und schon nach einer Spielminute daran, wer das 1:0 der Türken bejubelt. Vor dem Zuspitzer stehen zwei türkische Fans, die ihre Freude unterdrücken. Einer scheint dem anderen zu deuten: „Leise sein!“ Ein Zeichen des Respekts oder der Vorsicht, umzingelt von tausenden Österreich-Fans. Passend dazu formt er die Hand zum pädagogisch bekannten Schweigefuchs. Als der türkische Nationalspieler Merih Demiral sein zweites Tor ebenfalls mit einem lehrerhaften Schweigefuchs bejubelt, dämmert dem Zuspitzer: Das ist ein Wolf im Fuchspelz! Der Schweigefuchs war eigentlich der rechtsextreme, türkische Wolfsgruß. Auch beim letzten Türkei- Spiel vergangenen Samstag grüßte so mancher im Stadion mit dem Wolf – vielleicht ja den anwesenden türkischen Präsidenten Erdoğan. Grotesk das Bild: Türkische Fans huldigen ihrem Beinahe-Autokraten mit einem rechtsradikalen Gruß – auf deutschem Boden. Der nächste Skandal ist freilich, dass sich irgendwelche Nationalisten UNSEREN Schweigefuchs kulturell aneignen. Was kommt als Nächstes? Erdoğan in Lederhose? Philipp Axmann PORTRÄTIERT Frankreichs polternder Linkspopulist Vor der Parlamentswahl 2022 raufte sich Frankreichs zuvor lange zerstrittene Linke zum Bündnis Nupes (dt.: Neue ökologische und soziale Volksunion) zusammen und wurde stärkstes Oppositions lager. Der Zusammenschluss war ein Coup des Gründers der Linkspartei La France insoumise (dt.: Unbeugsames Frankreich), Jean-Luc Mélenchon. Das Nupes-Bündnis zerstritt sich in den letzten Monaten allerdings gründlich, insbesondere wegen des propalästinensischen Kurses der Linkspartei und des Auftretens von Mélenchon. Trotz alldem wurde das neue Linksbündnis Nupes bei der Stichwahl für das Parlament vergangenen Sonntag überraschend stärkste Kraft. Und das ist nicht zuletzt auch der umstrittenen Figur Mélenchon zu verdanken. Der 72-Jährige ist seit Jahrzehnten eine feste Größe in der französischen Politik. Zunächst war er Mitglied der Sozialistischen Partei (PS) und hatte vorübergehend auch einen Ministerposten inne. Dreimal kandidierte er für das Präsidentenamt und verbesserte jedes Mal sein Ergebnis. Im Jahr 2022 belegte er Platz drei, knapp hinter Marine Le Pen vom rechtsnationalen Rassemblement National (RN). Mélenchon, erklärter Bewunderer des kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro, ist eine der am stärksten polarisierenden Figuren in der französischen Politik. Er plädiert etwa für eine Reichensteuer und den Austritt aus der NATO. Kritiker beschuldigen ihn des Antisemitismus. Er bestreitet diese Vorwürfe. Der in Marokko geborene Mélenchon war im Alter von elf Jahren nach Frankreich gekommen. Seine Familie zählt zu den Pieds-noirs, den europäischen Siedlern in Nordafrika. Schon als Literatur- und Philosophiestudent engagierte er sich in einer trotzkistischen Organisation. Mit der Gründung seiner eigenen Partei La France insoumise 2017 schuf Mélenchon sich eine Bühne. Während er mit Blick auf Frankreich eine ausgabenfreudige Sozialpolitik vertritt, zeigt er sich außenpolitisch vor allem EU- und NATO-skeptisch. Er erregte zudem immer wieder Aufsehen durch seine unkritische Haltung zu südamerikanischen Machthabern wie dem früheren venezolanischen Staatschef Hugo Chavez und zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der Sozialist Raphaël Glucksmann und Marine Tondelier von den Grünen gelten deshalb längst als aussichtsreichere Kandidaten, um den Führungsposten des linken Bündnisses zu übernehmen. Sie könnten Mélenchon bald den Rang ablaufen. (Manuela Tomic, APA) Foto: AFP / Sameer Al-Doumy Der 72-jährige Jean-Luc Mélenchon ist Chef der Linken und eine der am stärksten polarisierenden Figuren in der französischen Politik.
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