DIE FURCHE · 19 8 Politik 11. Mai 2023 2018 folgte Michael Ludwig – nach einer Kampfabstimmung gegen Andreas Schieder – Michael Häupl als Wiener SPÖ-Chef und Bürgermeister nach (im Bild mit FURCHE- Chefredakteurin Doris Helmberger und Politik-Ressortleiterin Brigitte Quint). FORTSETZUNG VON SEITE 7 teilichen Diskussionen ist das weniger geworden – was auch verständlich ist. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass es ihr gelingt, bei Nationalratswahlen die SPÖ an die Spitze zu führen. DIE FURCHE: Viele bezweifeln das und attestieren ihr, kein „political animal“ zu sein und nicht über das nötige Ausmaß an Leadership zu verfügen. Ein Beispiel dafür war jüngst die Abwesenheit des halben SP-Parlamentklubs bei der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ludwig: Sie hat das selber schon kritisiert. Aber was hätte sie Ihrer Meinung nach tun sollen bei dieser Rede, die ja keine Nationalratssitzung war? DIE FURCHE: Dafür sorgen, dass sich alle sozialdemokratischen Abgeordneten diese Rede anhören und damit ihre Solidarität mit der überfallenen Ukraine zeigen. Ludwig: Die uneingeschränkte Solidarität gegenüber der ukrainischen Bevölkerung wurde mehrfach dokumentiert. Die ist ganz wichtig! Wenn sich dann einzelne, frei gewählte Abgeordnete – aus welchen Gründen immer – eine Rede nicht anhören, dann sind die Möglichkeiten einer Parteivorsitzenden überschaubar. Die Vorstellung, man könnte in einer Partei oder in einem Klub auf Knopfdruck ein einhelliges Stimmungsbild herbeiführen, ist befremdlich. Schon allein deshalb, weil ja sonst ein angeblicher Klubzwang medial gern kritisiert wird. Was ich aber noch ergänzen kann: Die Wiener Nationalratsabgeordneten waren alle anwesend. DIE FURCHE: Klubzwang ist das eine, aber die Symbolkraft eines halb abwesenden roten Parlamentsklubs samt verstörender nachträglicher „Entschuldigungen“ sind schon noch etwas anderes. Ludwig: Wenn es offensichtlich Teile der SPÖ gibt, die die Autorität der Parteivorsitzenden untergraben wollen – ist das dann die Verantwortung der Parteivorsitzenden oder jener, die das machen? Dieses Verhalten kennt man vom Bundesparteitag 2021. Zuerst wird die eigene Kandidatin einstimmig nominiert und dann versucht man, das KLARTEXT Foto: Inés Bacher Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Trautl Brandstaller: „SPÖ: Neuer Kurs oder neue Partei?“ (3.3.2023) auf furche.at. Toxische Polarisierung Am Rande der 1. Mai-Rede von Herbert Kickl wurden ORF-Reporter von Zuschauern als „Lügenpresse“ beschimpft und aus dem Urfahraner Festzelt hinausgebrüllt. Solche Szenen sind für Österreich ungewohnt, aber wir kennen sie aus anderen Kontexten. Etwa als in den USA und Brasilien Donald Trump und Jair Bolsonaro regierten, zwei Corona-Leugner, die die Bevölkerung gegen alle aufhetzten, die ihnen politisch nicht nahestanden. Politische Gegner wurden zu Feinden; Gesundheitsexperten zu Verbreitern von Fake News; demokratische Institutionen zu Hindernissen auf dem Weg zu einer „Volksherrschaft“. Im politikwissenschaftlichen Jargon bezeichnen wir dieses Phänomen als „toxische Polarisierung“. Ein gewisses Maß an Polarisierung ist wichtig, ja sogar notwendig für die Demokratie. Polarisierung bedeutet im Grunde nur, dass es in einem Land unterschiedliche Meinungen gibt. Toxisch wird die Polarisierung erst dann, wenn es anstatt einer Vielfalt von Anschauungen nur noch zwei entgegengesetz- in einer geheimen Abstimmung zu unterminieren. Ich bin ein treuer Mensch und habe von daher damals Frau Doktorin Rendi-Wagner gewählt. Aus Überzeugung, so wie viele andere auch. DIE FURCHE: Aber gibt es nicht doch ein Führungs-Problem, wenn von Beginn an quergetrieben wird? Oder was wäre Ihre Alternative – alle Quertreiber ausschließen? Ludwig: Wenn ich mir selbst etwas vorzuwerfen habe, dann dies, dass ich in den vergangenen Jahren zu sehr auf Harmonie gesetzt habe. Der Versuch, Diskussionen zu inhaltlichen Themen aus der Öffentlichkeit herauszuhalten, ist gescheitert. Das klappt nicht, wenn sich in der Partei Gruppen bilden, die nur auf ihre eigenen Ziele fokussiert sind. DIE FURCHE: Warum sind eigentlich Sie selbst nicht bereit, die Partei aus der Krise zu führen? Schließlich werden Sie regelmäßig als mächtigster Faktor in der Partei genannt. Ludwig: Man sollte sich immer realistisch einschätzen können. Ich sehe mich als hoffentlich guten und aktiven Kommunalpolitiker. Die Bundespolitik ist eine andere Ebene und eine ganz andere Liga. Umso mehr bewundere ich das Selbstvertrauen mancher Kollegen. Von Julia Mourão Permoser te Pole zu geben scheint – und Menschen negative, ja Hass-Gefühle gegenüber Andersdenkenden entwickeln. In dieser Situation entsteht Gefahr für die Demokratie. Denn um die so gehassten politisch Andersdenkenden zu verhindern, sind viele Menschen bereit, autoritäre Tendenzen in Kauf zu nehmen. Ein Demokratieabbau von innen ist die Folge. In den USA und in Brasilien führte die Spaltung am Ende gar zu Putschversuchen. Die aktuelle Situation in Österreich kann nicht mit diesen Ländern verglichen werden. Aber die Beispiele sollten als Warnung dienen. Wir brauchen seriöse inhaltliche Diskussionen – und Wertschätzung gegenüber Andersdenkenden. Um die Gräben schließen zu können, muss man vorher tief hineingeblickt und sie als das erkannt haben, was sie sind: Fallen für die Demokratie. Die Autorin ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien. DIE FURCHE: Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass Doskozil oder Babler als Stimmenstärkste aus der Mitgliederbefragung hervorgehen. Was passiert dann in der SPÖ? Ludwig: Das Stimmungsbild der Befragung wird in die Entscheidung am Bundesparteitag vom 3. Juni ganz stark mit einfließen. Die endgültige Entscheidung wird laut Statut jedoch dort getroffen. Die Mitgliederbefragung war ein Zugeständnis an Hans Peter Doskozil, der beim letzten Bundesparteitag nicht kandidieren wollte. Von daher ist die eigentlich Frage: Gibt es eine Person, die dann am Bundesparteitag zur Wahl steht, oder gibt es dort eine Stichwahl? Das wird abhängig sein vom Ergebnis der Mitgliederbefragung und wie sich die einzelnen Akteure dazu verhalten. DIE FURCHE: Einer der Unterstützer Doskozils ist der ehemalige Kanzler Christian Kern, dem Rendi-Wagner jüngst in der „Presse“ mangelnde „Charakterstärke“ vorgeworfen hat. Teilen Sie ihre Ansicht? Ludwig: Für mich ist es unvorstellbar, dass man nach der Nationalratswahl den Parteivorsitz an eine Frau delegiert, die man selbst als Nachfolgerin ausgesucht hat, ihr die Mühen der Opposition überlässt, sich dann – Zitat Kern – „endgültig aus der Politik verabschiedet“ und dann doch wieder zurückkehrt. „ Mehr als 62 Prozent der Wiener Bevölkerung leben in geförderten Wohnungen. Von daher glaube ich nicht an die Notwendigkeit, dass sich in Wien eine kommunistische Partei entwickelt. “ DIE FURCHE: Kommen wir von den Personen zur Programmatik. Während einerseits ehemalige Arbeiter(innen) zur FPÖ gewandert sind, erstarken am linken Rand kommunistische Parteien, nach Graz zuletzt in Salzburg. Nicht wenige, darunter Trautl Brandstaller in der letzten FURCHE, machen den „Dritten Weg“ dafür verantwortlich und fordern eine Linkswende der SPÖ. Ludwig: Ich will mir nicht anmaßen zu erklären, wie das in anderen Bundesländern oder Städten läuft. Ich kann nur sagen, dass wir sehr konsequent unseren Wiener Weg gehen. Und der orientiert sich an den Sorgen der Menschen. Wir haben 220.000 Gemeindewohnungen und 200.000 von der Stadt Wien geförderte Genossenschaftswohnungen. Das heißt, mehr als 62 Prozent der Wiener Bevölkerung leben in einer geförderten und damit leistbaren Wohnung. Von daher glaube ich nicht an die Notwendigkeit, dass sich in Wien eine kommunistische Partei entwickelt. DIE FURCHE: Wobei die Tatsache, dass auch die Stadt Wien im April die Mieten in Gemeindewohnungen um 8,6 Prozent erhöht hat, heftige Kritik einbringt. Ludwig: Wir haben im Bund eine Mietpreisbremse gefordert, doch dafür gibt es keine Mehrheit im Parlament und auch keine Entscheidungen der Bundesregierung. Was wir hätten tun können, wäre, die Erhöhungen der Richtwertmieten im Gemeindebau auszusetzen. Aber damit hätten wir den vielen anderen Mieterinnen und Mietern in geförderten oder privaten Wohnungen nicht helfen können. Deshalb haben wir uns entschieden, mit rund 200 Millionen Euro gezielt jenen zu helfen, die wirtschaftlich unter Druck sind, unabhängig von Gemeindebau – der ja sozial durchmischt ist –, Genossenschafts- oder Privatwohnung. Das ist zwar schwerer zu erklären, aber sozial gerechter. Und mir ist ja wichtig, dass wir uns nicht an Überschriften orientieren. Ich bin ja kein Populist. DIE FURCHE: Der Begriff „Überschriften“ führt uns zum Thema Medien. Im Vorjahr hat Wien 25,3 Millionen Euro für Inserate ausgegeben – mehr als alle anderen Bundesländer zusammen und nur um 3,6 Millionen weniger als die türkis-grüne Bundesregierung. Vieles davon fließt in den Boulevard. Legendär war, dass der Wiener Ex-Wohnbaustadtrat und spätere Kanzler, Werner Faymann, Trauzeuge des Lokal-Chefs der „Kronen Zeitung“ war. Was sagen Sie zu dieser Nähe und zum „Anzeigenkaiser“ Wien? Ludwig: Also ich habe weder zu Herausgebern noch zu Chefredakteuren eine besondere Nähe. Was ich aber sagen kann, ist, dass es seit 2018 in Wien sehr transparente Kriterien für die Inseratenvergabe gibt. Zu welchem Thema inseriert wird, entscheide auch nicht ich, sondern der Leiter des Presse- und Informationsdienstes der Stadt Wien auf Basis der Mediendiskursstudie, wo abgefragt wird, wer welche Medien konsumiert. DIE FURCHE: Kommen wir am Schluss zu einem Thema, bei dem sowohl Medien wie Politik heftig kritisiert wurden – nämlich zum Umgang mit der Pandemie. Haben Sie bei Ihrem besonders strengen „Wiener Weg“ aus heutiger Sicht Fehler gemacht? Und was halten Sie vom neuen „Versöhnungs-“ bzw. Aufarbeitungsprozess der Regierung? (vgl. Seite 23). Ludwig: In einem so langen, schwierigen Prozess wird man immer Entscheidungen finden, die man aus heutiger Sicht so nicht mehr treffen würde. Das ist auch der Sinn einer Evaluierung. Und das machen wir auch in Wien. Wir wollen daraus ja auch Konsequenzen für künftige Pandemien ableiten, die es sicher geben wird. Wovon ich aber nicht abgehe, ist, dass man stets wissensbasierte politische Entscheidungen trifft – gemeinsam mit Expertinnen und Experten, die in ihrem Bereich auf dem letzten Stand der Dinge sind. Von daher wende ich mich offensiv gegen jene, die versuchen, aus einer Verunsicherung der Bevölkerung politische Vorteile zu ziehen, Stichwort Pferdeentwurmungsmittel. Ich glaube, dass man dieser Wissenschaftsfeindlichkeit, die entstanden ist und politisch forciert wird, offensiv entgegentreten muss. Gerade in einer Pandemie geht es nämlich nicht nur um das individuelle Wohlbefinden, sondern auch um die Verantwortung gegenüber den Anderen.
DIE FURCHE · 19 11. Mai 2023 Bildung 9 Rund 42.000 junge Menschen befinden sich in Woche zwei der diesjährigen standardisierten Reifeprüfung. Wird sie als Schulabschluss überbewertet? Eine Einordnung. Reife Leistung Die Reifeprüfung als Regelabschluss höherer Bildung ist Frucht einer bürgerlichen Gesellschaft. (im Bild: Die Schule von Athen, historischer Holzschnitt nach einem Gemälde von Raphael, ca.1888) Von Stefan T. Hopmann Einer der bekanntesten Selbstmörder in der österreichischen Literaturgeschichte ist wohl Friedrich Torbergs Schüler Gerber, der kurz vor Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse aus dem Fenster springt und so nicht mehr erfährt, dass er die Matura bestanden hätte. Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es zahllose, wenn auch meist weniger drastische Beispiele, in denen das Leiden in und an der Reifeprüfung beschrieben wurde. Gleichzeitig wurde wie von Thomas Mann der Sinn einer „tagelange(n) Schraubmarter“ infrage gestellt, „in der junge Leute, unter Anwendung schlafvertreibender Mittel, sich als wandelnde Enzyklopädien erweisen müssen“. Erfunden hatten diese Tortur die Preußen. 1788 wurde dort die Reifeprüfung als Antwort auf den vermeintlichen Zustrom ungeeigneter Studierender eingeführt: „Es ist bisher vielfältig bemerkt worden, dass so viele zum Studieren bestimmte Jünglinge ohne gründliche Vorbereitung unreif und unwissend zur Universität eilen, wodurch selbige nicht nur sich selbst schaden, und sich selbst die gehörige Benutzung des akademischen Unterrichts schwer, ja oft unmöglich machen.“ Das würde zudem „… verursachen, dass viele Ämter, zu denen gründliche Kenntnisse erforderlich sind, wo nicht mit unwissenden, doch mit seichten und unzweckmäßigen Subjekten besetzt werden.“ Von da ab dauerte es noch gut einhundert Jahre, bis sich eigenständige Reifeprüfungen in weiten Teilen Europas als Regelabschluss höherer Bildung durchgesetzt hatten. Prüfung zur Konkurrenz-Abwehr Dieser Erfolg wäre ohne den schrittweisen Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft nicht denkbar gewesen. In ihr soll ja zumindest offiziell Leistung statt – wie bis dahin – Abstammung ausschlaggebend für gesellschaftlichen Erfolg sein. Nicht nur der Hochschulzugang, sondern auch andere Ausbildungsgänge, Beamtenlaufbahnen und Berufskarrieren wurden dementsprechend an die Ablegung „meritierender“ Prüfungen gebunden, die zur jeweils nächsten Etappe berechtigten. Dadurch ließ sich unliebsame Konkurrenz abwehren und zugleich der Anschein erwecken, der Zugang zu höheren Weihen stünde allen gleichermaßen offen, so sie nur die Zugangsvoraussetzungen erfüllten. Die Matura als falscher Schein Deshalb hat seit Mitte des 19. Jahrhunderts jede Verschärfung der Konkurrenz am Arbeitsmarkt umgehend Zweifel ausgelöst, ob denn die Anforderungen in den Berechtigungsprüfungen hoch genug wären. Noch intensiver wurde diese Debatte mit der Massenexpansion des höheren Schulwesens seit den 1960er Jahren. Wenn mehr als die Hälfte eines Jahrgangs die Reifeprüfung meistert: Was ist sie dann noch wert? Seitdem vergeht zumindest in Österreich keine Legislaturperiode, ohne dass an den Einzelheiten dieses Übergangsmechanismus herumgeschraubt wird, mal um vorgeblich Qualität zu sichern, mal um Chancen auszugleichen. Dabei gab und gibt es keinerlei Forschung, die belegen könnte, dass das bei diesen Prüfungen eingeforderte „enzyklopädische“ Wissen tatsächlich für die nachfolgenden Aufgaben erforderlich wäre. Implizit wird diese Annahme auch davon widerlegt, dass eine bestandene Matura hierzulande, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Zugang zu allen Studienangeboten gewährt, also auch zu solchen Inhalten, die man in der Schule nicht sonderlich gut bewältigt hatte. Auf den Studienerfolg hat das wenig Einfluss. Berücksichtigt man zudem, dass heutzutage in Österreich fast alle, die zur Matura antreten, die auch irgendwie bestehen, erscheint die Angst eines Schüler Gerber oder der Spott eines Thomas Mann übertrieben. In den meisten Bildungssystemen dieser Welt gestaltet sich der Übergang ungleich schwieriger. Die größten Hürden errichten die Länder, in denen der erfolgreiche Schulabschluss nur Voraussetzung zur Zulassung zu weiteren Prüfungen oder Wettbewerben ist. In weiten Teilen Asiens entscheidet der relative Erfolg in streng normierten landesweiten Tests über die Zugangschancen zu Hochschulen und Berufslaufbahnen. Wer bei diesen Tests schlecht abschneidet, hat kaum eine Chance, einen der begehrteren Studien- oder Ausbildungsplätze zu ergattern. Da wird tatsächlich über Lebenswege entschieden. Ähnlich ist die Situation in den Systemen, in denen der Schulabschluss nur die Voraussetzung ist, um an einschlägigen Zulassungswettbewerben teilzunehmen (wie in Frankreich) oder die letzte Entscheidung bei den aufnehmenden Instanzen liegt, die zusätzliche „ Das Ritual findet seiner symbolischen Wirkung wegen statt. Was genau geprüft wird, ist letztendlich egal. “ Nachweise in Form standardisierter Tests oder individueller Leistungen verlangen können (wie in den meisten angelsächsischen Ländern). Da kann der Schulabschluss zwar mit weniger Stress, oft sogar etappenweise erworben werden, dafür ist damit aber noch nichts gewonnen. Entscheidend sind stattdessen Aufnahmeverfahren. Anders als bei der allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung sind bei Auswahlverfahren zudem meist fachspezifische Erwartungen eingebaut, die besondere Leistungen in vermeintlich studien- oder berufsrelevanten Bereichen verlangen. Österreichische Zugangstests in Foto: IMAGO / imagebroker Lesen Sie auf furche.at Stefan Hopmanns „Aufstieg und Fall der Reifeprüfung“ (16.4.2015) zur Studierfähigkeit des Nachwuchses. zulassungsbeschränkten Studienrichtungen folgen einer ähnlichen Logik. Aber auch für diese Systeme gilt: Der Forschungslage nach gibt es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen dem, was jeweils als Zulassungsvoraussetzung geprüft wird, und dem späteren Studien- oder Berufserfolg. Der prognostische Wert der Prüfungsergebnisse ist gering, selbst wenn bisherige Lernergebnisse zutreffend abgebildet sein sollten. Leistungsvorsprünge können dahin schmelzen. Umgekehrt können Schülerinnen und Schüler wie zum Beispiel Thomas Mann und Albert Einstein später Nobelpreise in Fachgebieten erringen, die ihnen in der Schule ungelegen kamen. Es gibt auch keine treffgenaueren Tests. Zentral vorgegebene Prüfungen sind nicht aussagekräftiger als lokal entworfene. Anders ausgedrückt: Offensichtlich ist es unsereins möglich, in neuen Lebensabschnitten Leistungen zu erbringen, die vorher nicht absehbar waren. Eine schmerzhafte Prozedur Dieser geringe Aussagewert der Reifeprüfungen ist nur dann problematisch, wenn man den Zweck solcher Prüfungen tatsächlich in der Sicherung individueller Voraussetzungen sieht. Das war 1788 nicht der Fall: Es gab keine ernstzunehmende Überfüllungskrisen oder chronisches Studienversagen an den damaligen Hochschulen. Und das ist auch heute nicht der Fall. Der Zweck dieser Prüfungen war und ist denn auch kein individueller, sondern ein sozialer: Es geht darum, den Schein von Chancengerechtigkeit und vorgeblich leistungsbasierten gesellschaftlichen Unterschieden unter Bedingungen zu wahren, bei denen gleichwohl hauptsächlich und heutzutage wieder zunehmend die soziale Herkunft entscheidet, was für wen zugänglich werden wird. Die Abschlussprüfungen werden mit Geboten, Geheimhaltungen und Drohgebärden ausgeschmückt, um den falschen Schein echter Auslese aufzupolieren. Darin unterscheiden sie sich nicht von den schmerzhaften Prozeduren vormoderner Initiationsriten, gleichen unsere heutigen Schulverantwortlichen den Schamanen, die bei Naturvölkern solches inszenierten. Das Ritual findet seiner symbolischen Wirkung wegen statt. Was genau geprüft wird, ist letztlich egal. Der Sache nach könnten wir unseren Schülerinnen und Schülern also genauso gut viel vergnüglichere Abenteuer als Schulabschluss gönnen. Der Autor war Prof. für Bildungswissenschaft an der Uni Wien und ist nun Professor an der Universität von Südost-Norwegen.
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE