DIE FURCHE · 19 4 Das Thema der Woche Türkisches Trugbild 11. Mai 2023 Hakki Tas vom „German Institute for Global and Area Studies“ (Giga) in Hamburg forscht unter anderem zur Rolle der Türkei im geopolitischen Kontext. FORTSETZUNG VON SEITE 3 vier Millionen – geäußert. Die Praktik, für die Europäer Flüchtlinge zurückzuhalten, könnte in Frage gestellt werden. DIE FURCHE: Die Türkei hat sich in der Vergangenheit mitunter als unzuverlässiger Vertragspartner erwiesen. Dabei startete Erdogan als EU-freundlicher Reformer. Als dieser gilt er heute nicht mehr. Was ist passiert? Tas: Erdoğan ist nicht das einzige Beispiel für so eine Entwicklung. Auch Ungarns Viktor Orbán startete als liberaler Reformer und wurde zu einem populistischen, autoritären Politiker. Was im Fall Erdoğans wichtig ist: Es gibt nicht den einen Erdoğan. Er ändert seine Positionen, wenn er glaubt, dass es seiner Machtkonsolidierung dient. Am Anfang beschwor er eine konservative Demokratie, mit der er die europäische Christdemokratie zu Teilen imitierte und liberale Werte mit konservativen türkischen kombinierte. Als er seine Macht ausdehnte und Möglichkeiten während des Arabischen Frühlings erkannte, wandte er sich stärker dem Islam zu. Als das wenig erfolgreich war, propagierte er einen türkischen Nationalismus, um seine Wähler an sich zu binden. Erdoğan nimmt Stimmungen auf und verändert sich. Das funktionierte bisher, weil die wirtschaftliche Entwicklung nicht krisenhaft war. Die Wirtschaft wurde durch externe Kreditaufnahme und Stimuluspakete am Laufen gehalten. Im Westen wird Erdoğan gerne als jemand porträtiert, der bei den Wählern ankommt, weil er islamisch ist. Das ist aber nicht vorrangig. Die Hoffnung auf eine stabile Wirtschaft und Wohlstand sichern Erdoğans Macht. Doch die Wirtschaft ist ins Schlingern geraten – und damit Erdoğan. WECHSELSTIMMUNG „ Traditionell wählen etwa sechzig Prozent der Auslandstürken in Österreich und Deutschland die AKP. Das entspricht einer kompletten Großstadt. “ DIE FURCHE: In Österreich leben mehr als 100.000 türkische Staatsbürger, in Deutschland 1,5 Millionen. Für sie dürfte die wirtschaftliche Lage in der Türkei weniger entscheidend sein. Wie wichtig sind deren Stimmen? Tas: Sehr wichtig. Traditionell wählen etwa sechzig Prozent der Auslandstürken in diesen Ländern die AKP. Das entspricht einer kompletten Großstadt. Für die AKP ist das umso wichtiger, da Erdoğan 2022 eine Reform des Wahlsystem durchgeführt hat. Es gilt nun das sogenannte D’Hondt-Verfahren, das Höchstzahlverfahren, das die größte Partei, also die AKP, bei der Sitzverteilung im Parlament begünstigt. DIE FURCHE: Welche Rolle spielt der Islam für Erdoğan und seine Partei, die AKP? Tas: Für die AKP, wie wir sie heute beobachten, ist türkischer Nationalismus wichtiger als der Islam. Auch wenn sich das nicht klar trennen lässt und Erdoğan wichtige Symbolentscheidungen getroffen hat – etwa die Umwidmung der Hagia Sophia von einem Museum zu einer Lesen Sie hierzu den Text „Hagia Sophia: Erdoğans fatale Retro-Politik“ (23.7.2020) von Dietmar W. Winkler auf furche.at. Moschee. Der türkische Nationalismus war nicht immer derart mit dem Islam verknüpft, schon gar nicht zu kemalistischen Zeiten. Ein Unterschied ist, dass der Säkularismus heute nicht zentral ist, wie in den 90er-Jahren, dafür aber anti-westliche Stimmungen. Seit dem Scheitern des Friedensprozesses mit den Kurden sehen wir, wie wichtig der Nationalismus für die AKP wird und Religion nur hineinspielt. Das geht so weit, dass Erdoğan sich rhetorisch extremen, islamistischen Gruppen annähert. DIE FURCHE: Spiegelt sich dieser Nationalismus in der türkischen Außenpolitik wider? Tas: Nach dem Arabischen Frühling haben wir eine überambitionierte türkische Außenpolitik gesehen. Die Türkei hat in Lateinamerika, Afrika und natürlich im Nahen Osten versucht, an Einfluss dazu zu gewinnen. Jetzt erleben wir einen Rückzug von dieser Politik; die Türkei kann so was nicht durchhalten, weil sie nicht über die nötigen Machtressourcen verfügt. Die Wirtschaft kollabiert praktisch, die Lira stürzt ab, die Inflation liegt immer noch bei 43 Prozent. Erdoğan versucht sich einfach über Wasser zu halten. Es gibt keinen großen Würde ein Machtwechsel friedlich vonstatten gehen? Foto: Privat Plan für die Außenpolitik. Die Verweigerungshaltung gegenüber Schweden und Finnland ist ein Beispiel dafür: Es geht darum, Gewinne gegen den Westen zu holen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Das ist transaktionale Politik. Erdoğan will sich für seine Zustimmung etwas geben lassen. Gleichzeitig gibt es im Nahen Osten eine Annäherung zwischen verschiedenen Akteuren, etwa zwischen der Türkei und Ägypten oder der Türkei und Israel. Das ist alte türkische Außenpolitik: Frieden und Sicherheit mit den Nachbarn müssen hergestellt sein. Sollte die Opposition gewinnen, dürfte sich dieser Prozess beschleunigen. In der EU hoffen hingegen nicht notwendigerweise alle auf einen Sieg der Opposition, da die Europäer trotz der Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gelernt haben, mit Erdoğans Politik umzugehen. DIE FURCHE: Dass die Türkei gewisse Beziehungen zu Russland aufrecht erhält, verstört hingegen viele Europäer. Tas: Erdoğan treibt ein Spiel mit Russland und der Ukraine; hält seine Kanäle nach Moskau und Kiew offen. Im Nahen Osten ist das keine Ausnahmeposition: In der Tat sind viele Regierungen gegen scharfe Russlandsanktionen oder eine diplomatische Isolierung Moskaus. Erdoğan wird so lange so weiter machen, wie er kann. Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu würde sich hier vermutlich dem Westen annähern. Nächste Woche im Fokus: Seit der Corona-Pandemie ist die psychische Gesundheit zum Mega-Thema unserer Gesellschaft geworden. Umso wichtiger die große Frage: Was bringt das neue Psychotherapie-Gesetz? Über neue Ausbildungswege, die heikle Dimension der „Körperarbeit“ und Gesellschaftskritik auf der Couch. Werbung für den türkischen Nationalschnaps ist nur Teil von Wahlkampagnen im Ausland – in der Türkei selbst ist Reklame für Alkohol verboten. Bild: Rainer Messerklingerr (Unter Verwendung eines Fotos von iStock/serts Manchmal, gerade wenn politische Kommunikation nicht eindeutig ist, vermag sie ihre Adressaten besonders zu beeindrucken. Das zumindest gilt für die jüngste Kampagne eines türkischen Spirituosenherstellers, die vor allem bei Kritikern von Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf Zuspruch stößt. „Wie wirst du feiern, wenn der Tag kommt?“ Diese Frage stellen sich in einem in sozialen Netzwerken veröffentlichten Video junge und alte Menschen. Sie fangen an zu tanzen, schwenken türkische Fahnen – und trinken Raki, den türkischen Nationalschnaps. Der Clip richtet sich zuvorderst an die türkische Auslandsgemeinde. Werbung für Alkohol ist in der Türkei verboten. Zu sehen sind etwa Bilder aus Deutschland, wo die meisten Auslandstürken leben. Eine Frau antwortet denn auch auf obige Frage hin mit den Worten: „Ich werde nach Hause gehen.“ Ist es eine Anspielung auf die vielen jungen Türken, die in den vergangenen Jahren wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation und ei- ner konservativen Gesellschaft, die sie als immer einenge der empfinden, ihre Heimat verlassen haben? Dass ein solches Video unmittelbar vor den türkischen Parlamentsund Präsidentschaftswahlen am 14. Mai veröffentlicht wird, legt den Verdacht nah, dass seine Macher eben jene Wahlen im Sinn hatten, obwohl weder Politiker- noch Parteinamen in ihm auftauchen. Erst zum Ende des zweiminütigen Films heißt es, es gehe um den türkischen Nationalfeiertag, den Tag der Republik vom 28. auf den 29. Mai – an dem schließlich auch gefeiert werden soll. Günstlinge als Unwägbarkeit Was die Verantwortlichen im Sinn hatten, lässt sich nicht eindeutig sagen. Dass das Alkohol-Video von vielen türkischen Oppositionellen für sich interpretiert wird, ist indes unbestritten. Denn es transportiert eine Wechselstimmung, die es so in der Türkei tatsächlich gibt. Nie zuvor war der Dauerherrscher Erdoğan derart angezählt. Ein Machtwechsel ist auf einmal denkbar. Sechs Oppositionsparteien haben sich gegen ihn zusammengetan. Ihr gemeinsamer Kandidat ist Kemal Kilicdaroglu von der kemalistischen CHP. Umfragen zufolge dürften er und Erdoğan in einer zweiten Wahlrunde am 28. Mai aufeinander treffen. Der Ausgang ist vollkommen ungewiss. Dass Erdoğan, der über zwanzig Jahre als Ministerpräsident und später als Präsident mehr und mehr Macht auf sich vereinen konnte, speziell nach einem Verfassungsreferendum 2017, ausgerechnet durch einigermaßen demokratische Wahlen in Bedrängnis kommen könnte, hätten vor einiger Zeit wohl nur die wenigsten Beobachter gedacht. Zwar ist nicht mit Fälschungen im großen Stil zu rechnen, dennoch sind die Wahlen doch nur einigermaßen demokratisch. Denn fair sind sie nicht, nicht in einem Staat, dessen Institutionen dermaßen vom 69-jährigen Erdoğan und seiner AKP dominiert werden. Deswegen ist es unklar, ob die Opposition sich auch so freuen kann, wie die Menschen in dem Raki-Video. Die große Frage ist, ob eine Wahlniederlage Erdoğans auch zu einem Sieg der Opposition führen würde. Die schlechte wirtschaftliche Lage der Türkei, die schockierend hohe Inflation, die im vergangenen Jahr teils höher als achtzig Prozent lag und derzeit immer noch knapp unterhalb von 44 Prozent liegt, Repressionen gegen Andersdenkende, der Frust vieler junger Türken darüber und nicht zuletzt das Erdbeben Anfang des Jahres, das Zehntausende von Toten forderte; viele Türken machen die Regierung für Baumängel verantwortlich: All das spricht gegen den Staatschef. Dass es bei einer Wahlniederlage jedoch zu einer friedlichen, geordneten Machtübergabe kommen wird, ist nicht ausgemacht. Nicht nur dürfte sich Erdoğan an sein Amt klammern, Gerichte, Sicherheitsdienste: Überall finden sich AKP-Leute und Erdoğan-Günstlinge. Auch sie, nicht nur Erdoğan, müssten eine Wahlniederlage anerkennen. Sonst drohte der Türkei Chaos. Der Ausgang ist offen . (Philipp Fritz)
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