DIE FURCHE · 19 20 Film 11. Mai 2023 SPIELFILM Coming Out und Coming-of-Age Gut zehn Jahre sind vergangene, seit Adèle Exarchopoulos (gemeinsam mit Léa Sedoux) mit „Blau ist eine warme Farbe“ Furore machte. Nun ist die französische Schauspielerein wieder als in eine Liebe zwischen zwei Frauen Verstrickte zu sehen – und zwar in Léa Mysius furiosem „The Five Devils“. Dabei ist das Mystery-Drama um vieles vielschichtiger als eine bloße Coming-Out Geschichte. Joanne (Exarchopoulos) lebt mit ihrem aus dem Senegal stammenden Mann Jimmy (Moustapha Mbengue) und ihrer Tochter Vicky (Sally Dramé) in einer Ortschaft in den Alpen. Vicky hat die Gabe, Düfte zu konservieren und daran Menschen und ihre Geschichten zu erkennen. Auch die Zeitebenen lassen sich für das Mädchen olfaktorisch überwinden. Als Jimmys Schwester Julia (Swati Emati), eben aus dem Gefängnis entlassen, bei der Familie andockt, gerät diese aus den Fugen: Zwischen Jimmy und Joanne läuft es schon länger unrund, aber mit Julia wird für Joanne das Gefühlswirrwarr übermächtig – für Vicky ebenso. Die magischen Kräfte des Mädchens führen einerseits zur Frauwerdung dieser Protagonistin, gleichzeitig entschlüsseln sie auch die dunklen Geheimnisse des Ortes, der Vergangenheit und der Beziehungen. Eine komplexe, Geschichte. Ebenso spannend wie rätselhaft. Gleichzeitig ein grandioses Spiegel- und Vexierbild dieser Gesellschaft. (Otto Friedrich) The Five Devils (Les cinq diables) F 2022. Regie: Léa Mysius. Mit Adèle Exarchopoulos, Swala Emati, Sally Dramé, Moustapha Mbengue. Stadtkino. 103 Min. Adèle Exarchopoulos als Joanne in Léa Mysius‘ „The Five Devils“. Von Otto Friedrich Er ist ganz gewiss ein Solitär unter Österreichs Filmemachern: Der gebürtige Bayer Ludwig Wüst hat hierzulande natürlich auch schon als Schauspieler Theaterregisseur – und Tischler reüssiert. Letzteres ist, „was ich wirklich kann – nämlich ein Stück Holz bearbeiten“: Das verriet Wüst 2019 im FURCHE-Interview. Einen Tischler spielte Wüst damals selber im Film „Aufbruch“, eine poetische Näherung an zwei beziehungsverwundete Seelen. Während es in „Aufbruch“ um die Poesie per Film ging (Wüst bezeichnet da Andrej Tarkowski,Alexander Sokurow oder Artawasd Peleschjan als Vorbilder: „Das sind alles Poeten.“), experimentierte er in „3.30“ (2020) mit einer Bodycam, die seinen Protagonisten aufs Stadterweiterungsgebiet des Wiener Nordbahnhofs, in den Prater und zu einem grindigen Haus im Südburgenland folgte. Auf der Diagonale war Ludwig Wüst in all diesen Jahren Stammgast. Und auch heuer feierte sein Film „I am here!“ dort seine Österreich-Premiere. Das neue Wüst-Opus ist sein erster auf 16 mm gedrehter Streifen, heutzutage mehr eine nostalgische Reminiszenz, denn eine Technik auf der Höhe der Zeit. Aber – und das beweist „I am here!“ eindrücklich – das Analoge hat seinen ganz eigenen Reiz. Wüst „ Langsam und lakonisch, aber mit traumhaften Naturbildern nähern sich die Darsteller und der Filmemacher dem Geheimnis, das insbesondere auf Martin lastet. “ „I am here!“ – In seinem neuen Film erweist sich Ludwig Wüst einmal mehr als Dichter und Handwerker, der Seele offenlegt. Ausgrabung eines Traumas wurde auf der diesjährigen Diagonale dafür auch mit dem Kodak Analog-Filmpreis ausgezeichnet. Monika (Martina Spitzer) und Martin (Markus Schramm) sind die Protagonisten des Films. Sie waren in ihrer Jugend miteinander befreundet, haben einander aber viele Jahre nicht gesehen. Nun, um die 50, treffen sie im Wald aufeinander, um die Stelle wiederzufinden an der sie als Kinder etwas vergraben haben. Aus einer verwunschenen Vergangenheit Ludwig Wüst am 14.3.2019 im Gespräch über das Handwerk, Holz und seinen Film „Aufbruch“, siehe „Im ‚Alkoholiker-Manta‘“ auf furche.at. Eigentlich passiert in „I am here!“ ganz wenig, Monika und Martin graben, gehen und reden miteinander. Mit der Zeit schält sich so etwas wie eine Handlung aus den gefilmten Handlungen heraus: Martin kommt dabei einem verschütteten Trauma aus jenen Kindertagen auf die Spur, ein Trauma, das ihn – oft kaum bewusst – sein Leben lang gequält hat. Eine verwunschene Vergangenheit trifft auf die Gegenwart zweier – einmal mehr bei Wüst: verwundeter – Seelen. Schmerzhafte Erinnerung treibt die beiden ebenso um wie die seltsame durchaus unheimliche Kulisse des Walds, in dem Martin und Monika ihre Kinderspuren zu entdecken suchen. Langsam und gleichzeitig lakonisch, aber mit traumhaften Naturbildern nähern sich die Darsteller und der Filmemacher dem Geheimnis, das insbesondere auf Martin lastet. Die beiden reden über ihre Vergangenheit, über ihre Mütter und vieles, was ihnen da widerfahren ist. Und darüber, welche Sorgen sie in Bezug auf die Zukunft haben. Ein kongeniales Team – Martina Spitzer und Markus Schramm vor der Kamera, Ludwig Wüst und sein Kameramann Klemens Koscher dahinter – setzen diesen subtilen Parforceritt durch Gefühle um. Und einmal mehr zeigt sich, was Ludwig Wüst, dieser Tischler und Poet, via Film zum Ausdruck bringen kann. I am here! A 2023. Regie: Ludwig Wüst. Mit Martina Spitzer, Markus Schramm. Stadtkino. 70 Min. PRÄSENTIERT ACTION-THRILLER Nazi-Jagd in Lappland FILMMONTAG Don Juan DeMarco Psychiater Jack Mickler will einen jungen New Yorker behandeln, der von sich glaubt, er sei Don Juan De- Marco. Aber nicht der Patient ändert sich, sondern der Arzt wird von der romantischen Sichtweise des Patienten angesteckt. Ein filmisches Vexierbild aus 1995 – mit Marlon Brando, Johnny Depp sowie Faye Dunaway. Otto Friedrich/DIE FURCHE und Christian Rathner/ ORF zeigen „Don Juan DeMarco“. Montag, 15. Mai, 19 Uhr, Otto-Mauer-Zentrum, 1090 Wien, Währinger Straße 2–4. Infos: www.kav-wien.at Foto: New Line Cinema Mit dem Begriff „Sisu“ wird in Finnland eine Eigenschaft bezeichnet, die man am ehesten mit „Zähigkeit“ übersetzen kann. Gemeint ist der Kampfgeist, den man sich angesichts scheinbar auswegloser Situationen bewahrt. Der Held von Jalmari Helanders Actionkracher „Sisu“ hat davon mehr als genug. Der abtrünnige Soldat Aatami (Jorma Tommila) stößt während des 2. Weltkriegs in der lappländischen Einöde auf Gold. Nur dumm, dass die sich aus Finnland zurückziehenden Deutschen auf ihrem Weg das Land in Schutt und Asche legen. Als ein Trupp unter dem grausamen SS-Offiziers Bruno (Aksel Hennie) dem Goldgräber seinen Besitz streitig macht und ihn umbringen will, versteht dieser naturgemäß keinen Spaß. „Sisu“ versetzt das Publikum in eine Zeit zurück, als es Actionhelden wie Rambo oder McClane allein mit einer ganzen Armee aufnehmen konnten. Der Film überrascht mit immer absurderen Einfällen, wenn es darum geht, Nazis zur Strecke zu bringen. Da werden Köpfe gespalten und Landminen wie Frisbees durch die Luft geworfen. Glaubwürdig ist das alles irgendwann nicht mehr, was dem Unterhaltungswert aber keinen Abbruch tut. Ein Partyfilm für alle Exploitation-Affinen. (Philip Waldner) Jorma Tommila nimmt es als finnischer „Rambo“ mit einer mörderischen SS-Truppe auf. Sisu SF 2022. Regie: Jalmari Helander. Mit Jorma Tommila, Aksel Hennie, Jack Doolan. Sony. 91 Min.
DIE FURCHE · 19 11. Mai 2023 Film 21 „Utama – Ein Leben in Würde“: Alejandro Loayzas Debütfilm erzählt lakonisch und grandios geduldig, wie der Klimawandel auch entlegene Regionen Boliviens heimsucht. SPIELFILM Überleben im Altiplano DOKUMENTARFILM Alejandro Loayza Grisi schildert in seinem Spielfilmdebüt „Utama“ eindringlich, wie sehr sich der Klimawandel auch auf indigene Kulturen auswirkt. Zunehmend schwieriger wird nämlich aufgrund der anhaltenden Trockenheit das Leben eines alten Paares im bolivianischen Altiplano. Lange Risse durchziehen die ausgedörrte Erde, der Brunnen der Hütte ist ebenso versiegt wie der im Dorf. Wie die Risse in der Erde macht auch das Quietschen der Pumpe des Brunnens die Trockenheit fast physisch spürbar. Um Wasser zu holen, muss so die Frau (Luisa Quispe) bis zum Fluss, der nur noch ein größeres Rinnsal ist, gehen. Der Mann (José Calcina) wiederum muss immer weiter ziehen, um im kargen Hochland Weideflächen für die Lamas zu finden. Bewegung kommt in dieses Leben, als der etwa 17-jährige Enkel (Santos Choque) auftaucht. Mit ihm bricht quasi die Moderne in diese archaische Welt ein, in der es keine Elektrizität, keine Autos und keine Smartphones gibt. Auf Zuspitzung und Dramatisierung verzichtet Grisi in seinem beim Sundance Film Festival 2022 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneten Spielfilm. Er erzählt lakonisch und einfach, aber durch den ebenso genauen wie geduldigen Blick auf diese Lebenswelt, die Authentizität seiner beiden Laiendarsteller, die auch im realen Leben ein Paar sind, und die grandiosen Landschaftstotalen der uruguayanisch-argentinischen Kamerafrau Bárbara Álvarez entwickelt „Utama“ eine Kraft und eine Intensität, denen man sich nicht entziehen kann. (Walter Gasperi) Die Routine zur Heldengeschichte Pepe Danquart porträtiert in seinem neuen Film den Star-Maler Daniel Richter. Wenn Pepe Danquart („Joschka und Herr Fischer“, „Höllentour“) seinen jüngsten Dokumentarfilm schlicht „Daniel Richter“ betitelt, dann meint er nicht nur die Person, sondern in Erweiterung auch den Kosmos, der sich um einen der erfolgreichsten Maler seiner Generation geformt hat: Galeristinnen und Galeristen, Museumsdirektoren, Sammler, Auktionatoren, Weggefährten. Oder die Kunsthistorikerin, die sich an die Ursprünge ihrer umfassenden Künstlerbiografie so erinnert, dass Richter sie aus heiterem Himmel angerufen und gefragt habe: „Eva, kannst du ein Buch über mich machen … Ich will mal so’n richtig großes Buch haben.“ So wie er den Regisseur wahrscheinlich wegen einem Film angerufen habe, lacht sie. Danquart lässt das mal so stehen und beschreibt in seinem Film zwei Pole: den wenig glamourösen Bilderproduzenten am Werk einerseits, der im Atelier Farbe auf Leinwände spachtelt, Linien zeichnet, seine Papageien verscheucht, wenn sie am Gemälde nagen wollen und in manch nüchterner Bemerkung die eigene Herkunft aus der Hamburger Gegenkultur erkennen lässt; andererseits den Markt und den Kunstbetrieb, Leute, die in Richters Kunst investiert sind und dementsprechend oft und wortreich seine Relevanz bekunden. Und Jonathan Meese, Freund seit Studientagen, macht sowieso immer, was er will. Nicht umsonst war „Daniel Richter“ beim heurigen „Crossing Europe“ in Linz Kernstück der Reihe „Arbeitswelten“: Das Werk ist meist Routine; an der Heroengeschichte stricken dann andere. (Thomas Taborsky) Daniel Richter D 2022. Regie: Pepe Danquart. Filmladen. 118 Min. Auch dank Kamerafrau Bárbara Álvarez entwickelt „Utama“ eine Intensität, der man sich nicht entziehen kann. Utama – Ein Leben in Würde (Utama) BOL 2022. Regie: Alejandro Loayza Grisi. Mit José Calcina, Luisa Quispe. Polyfilm. 87 Min. Leonie Benesch spielt die Lehrerin Carla Nowak, die sich im Bemühen verheddert, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Dienst nach Vorschrift ist immer noch das Beste Wie wichtig doch Zivilcourage sei, heißt es immer wieder. Welches Unheil aber jemandem widerfahren kann, der nicht wegschaut und in Eigeninitiative gegen ein Übel vorgeht, erzählt der neue Film des deutschen Regisseurs Ilker Çatak. Carla Nowak (Leonie Benesch) ist eine junge, idealistische Lehrerin an einem Gymnasium, das von einer Diebstahlswelle heimgesucht wird. Empört darüber, dass ein Schüler mit Migrationshintergrund der Taten bezichtigt wird, macht sie sich auf eigene Faust auf die Suche, indem sie mit ihrem Laptop heimlich im Lehrerzimmer filmt. Als die diebische Schulsekretärin in die Falle tappt, markiert dies den Beginn einer zunehmenden Eskalation. Denn der Sohn der leugnenden Übeltäterin sitzt ausgerechnet in Frau Nowaks Klasse und die Mitschüler beginnen sich ihren eigenen Reim auf die Sache zu machen. Außerdem beginnen die Mühlen eines Schulsystems zu mahlen, das sich nicht mehr um Schüler, sondern um Rechtsvorschriften zu drehen scheint. Und unerlaubtes Filmen, auch wenn es ein Verbrechen an den Tag bringt, wiegt heutzutage nun einmal ebenso schwer wie das Verbrechen selbst. Und schließlich brechen die Widersprüche und Selbsttäuschungen von Frau Nowaks eigener Weltanschauung auf. Obwohl ihr seitens einiger Schüler Bosheit, Verleumdung und sogar Gewalt entgegenschlagen, nimmt sie diese gegenüber ihren Lehrerkollegen in Schutz und gerät damit zwischen alle Fronten. Sie selbst versucht sich an ihre hohen moralischen Ansprüche zu halten – nur dumm, wenn sich das Gegenüber in keiner Weise an solche Regeln gebunden fühlt. Die beklemmende Tragödie, die fast ausschließlich im Schulgebäude spielt, glänzt mit herausragenden Darstellern und aufwühlender Filmmusik (Marvin Miller). Das Resümee, das man nach der Sicht dieses hochkomplexen Filmes in Hinblick auf das eigene Handeln im Berufsleben ziehen muss: am besten, man macht Dienst nach Vorschrift und tut als ob nichts gewesen wäre, wenn man eines Missstandes gewahr wird. Desillusionierend. (Michael Krassnitzer) Das Lehrerzimmer D 2023. Regie: Ilker Çatak. Mit: Leonie Benesch, Leo Stettnisch, Anne-Kathrin Gummich. Alamode. 98 Min. „Ich vermisse die Stille“ Künstlerinnen und Künstler sprechen über kreatives Arbeiten, Inspiration im letzten Moment, Kulturarbeit für alle und über den Körper als Ideenquelle. Die Performerin Magdalena Hahnkamper erzählt, wie sie die Stille in der Corona-Pandemie wahrgenommen hat, der Kulturmanager und Musiker Martin Schlögl spricht über ChatGPT und Kreation und die Körpertherapeutin Veronika Zak hilft uns, unseren Körper besser wahrzunehmen. DER CHANCEN PODCAST furche.at/chancen
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