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DIE FURCHE 11.05.2023

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DIE FURCHE · 19 10 Gesellschaft 11. Mai 2023 Schwere Geburt Hausgeburten und Eins-zu-Eins- Betreuung durch eine (Wahl-) Hebamme sind in Österreich die Ausnahme. 98 Prozent der Babys kommen im Krankenhaus zur Welt, ein Drittel davon per Kaiserschnitt. Von Andrea Burchhart Was sich Eltern für die Geburt ihres Kindes wünschen, ist Sicherheit. Was hingegen niemand – und schon gar nicht eine Schwangere – gebrauchen kann? Angst! Ein Schreiben der niederösterreichischen Landesgesundheitsagentur (LGA) versetzte Anfang Februar allerdings viele werdende Mütter in Panik. Darin hieß es, dass alle Verträge mit freiberuflichen Wahlhebammen per Ende März gekündigt würden. Seit mehr als 30 Jahren gibt es in Niederösterreich die Möglichkeit, mit einer Wahlhebamme im Krankenhaus zu entbinden. Dass eine individuelle Betreuung die Sicherheit der Patientinnen erhöht und das Risiko von geburtsbeschleunigenden Interventionen bis hin zur ungeplanten Sectio reduziert, ist mehrfach wissenschaftlich belegt. Dazu kommt ein erhöhter Betreuungsbedarf während der Geburt, wenn Frauen zum Beispiel aufgrund von sexueller Gewalt, einer Totgeburt oder einer traumatischen Geburtserfahrung Ängste haben. Gerade diese Frauen brauchen eine vertraute Hebamme und die Sicherheit, dass diese während des gesamten Prozesses an ihrer Seite ist. Eine Leistung, die aber von Klinikhebammen nur in Ausnahmefällen erbracht werden kann. „Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was bei uns los wäre, wenn die freiberuflichen Kolleginnen keine Geburten mehr begleiten dürften“, sagt eine Spitalshebamme, die anonym bleiben möchte. Auch wenn ihr Dienst in der Theorie nach zwölf Stunden endet, halten sich Babys nicht an Dienstpläne. Die Zweiklassenversorgung gibt es ihrzufolge längst. „Wir sind notorisch unterbesetzt. Wer es sich leisten kann, kommt mit einer Wahlhebamme, die nicht von der Stelle weicht und sich für ihre Patientin stark macht.“ Auch wenn die LGA nach heftigen Protesten der Betroffenen zurückgerudert ist und ihr Schreiben als „falsch interpretiert“ verstanden wissen will, sehen viele Berufsvertreterinnen darin einmal mehr den Beweis, wie krank das System ist. Fallen in den Spitälern die Geburten mit Wahlhebammen weg, müssten angestellte Hebammen bis zu vier oder fünf werdende Mütter gleichzeitig betreuen. „Das kann doch „ Das Gesetz verweist auf eine ganz konkrete Ganzheitlichkeit. In anderen Ländern haben Hebammen diese Souveränität nicht nur auf dem Papier. “ Lesen Sie dazu das Interview „Geburten sind irre Life-Events“ (1.2.2007) mit der Lehrhebamme Renate Mitterhuber auf furche.at. Hebammen unterstützen Frauen am Weg zur Mutterschaft, fühlen sich aber vom System zurückgereiht. Neue Vorstöße der Politik ändern daran wenig. Eine Bestandsaufnahme. Zum Helfen da niemand, der sich auskennt, ernsthaft wollen“, ärgert sich etwa die Wiener Hebamme Sarah Klarer. Dieser „unhaltbare Zustand“ hat sie vor Jahren zum Umdenken bewogen: „Als Klinikhebamme muss man Frauen bei der Geburt zwangsläufig alleine lassen, das war auf Dauer nicht mit meinem Berufsethos vereinbar“, sagt Klarer, die in Österreich, Mexiko und Holland rund 2500 Geburten begleitet hat. 2007 eröffnete sie ihre Praxis „Die Hebamme in Wien“ und arbeitete fortan zwölf Jahre lang als freiberufliche Hebamme in ständiger Rufbereitschaft. Aus dem Ein-Frau-Betrieb ist ein Unternehmen mit zehn Mitarbeiterinnen geworden. Der Standort in Wien-Landstraße vereint Concept-Store, Ordination sowie ein Mama- und Baby-Spa. Zudem vertreibt Klarer eine eigene Naturkosmetiklinie. Ihre letzte Geburt hat sie 2019 begleitet. Jetzt möchte sie Frauen in ihrer Kompetenz stärken. „Mein großer Wunsch ist, dass jede unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten gut informiert und selbstbestimmt Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett erleben kann“, sagt Klarer – und hofft auf einen Paradigmenwechsel. Sie bemängelt, dass in Österreich Frauen oft klein gehalten werden – und Männer seit Jahrzehnten die Entscheidungen über Frauengesundheit treffen. „Früher war es normal, mit einer Hebamme zu Hause zu gebären“, sagt sie. „Heute wird jede zweite Schwangerschaft als Risiko eingestuft und die Frau dadurch verunsichert. Das muss sich wieder ändern.“ Berufsauftrag im Kompetenz-Hick-Hack Das österreichische Hebammengesetz formuliert den eigentlichen Kern der Hebammenarbeit als „Betreuung, Beratung und Pflege von Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen, Hilfe bei der Geburt sowie Mitwirkung bei der Mutterschafts- und Säuglingsfürsorge“ und verweist damit auf eine ganz konkrete Ganzheitlichkeit: Sie sind die einzige Berufsgruppe, die gesetzlich befugt ist, gesunde Schwangere, Gebärende, Wöchnerinnen, Stillende und ihre gesunden Säuglinge umfassend und eigenverantwortlich zu betreuen und zu beraten. Foto: iStock/ isayildiz In anderen Ländern haben Hebammen diese Souveränität nicht nur auf dem Papier. In den Niederlanden beispielsweise hat die Geburtshilfe durch Hebammen einen hohen Stellenwert. Kinder erblicken in der Regel entweder bei einer Hausgeburt oder in einem hebammengeleiteten Kreißsaal das Licht der Welt. Die Kaiserschnittrate ist mit 17 pro 100 Geburten eine der niedrigsten in Europa. Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft werden in der Regel bei einer Hebamme wahrgenommen, Gynäkolog(inn)en oder andere Fachärztinnen werden bei entsprechender Indikation konsultiert. Ein solches System ist kostengünstiger, freilich aber umstritten. Für Klarer wäre es jedoch eine Rückkehr zu mehr „Natürlichkeit“. „Schwangerschaft ist keine Krankheit“, sieht sie in der Geburt nicht automatisch ein Risiko. Die Hebamme fordert ein klares politisches Bekenntnis zu ihrem Beruf – und kein Kompetenz-Hick-Hack auf Kosten von Müttern und Babys. Eine Forderung, die Hebamme Astrid Krainz unterstützt. In Österreich regelt das Mutter-Kind-Pass-Gesetz, dass Frauen während der Schwangerschaft zum Arzt gehen müssen. In Deutschland können Frauen frei entscheiden, ob sie sich während der Schwangerschaft von einer Hebamme oder einem/einer Mediziner(in) betreuen lassen. „Das muss man sich mal vorstellen: Wir haben Hebammen, eine Berufsgruppe, die konkret für diesen ganz bestimmten medizinischen Bereich ausgebildet ist. Und wie werden wir dann im Mutter-Kind-Pass berücksichtigt? Derzeit werden die Kosten für ein einziges Gespräch übernommen, das die Mütter freiwillig in Anspruch nehmen können“, kritisiert Krainz, die aus ähnlichen Gründen wie Klarer ihre Tätigkeit im Kreißsaal aufgegeben und sich auf die Betreuung von Wöchnerinnen spezialisiert hat. Derzeit sieht es auch nicht so aus, als würde die für 2026 geplante Einführung des digitalen Elternpasses hier eine Veränderung bringen. Das zweite, der Hebammen-Standesvertretung im Vorfeld zugesicherte, verpflichtende Gespräch ist im Ministerialentwurf nicht mehr zu finden – Elternberatungsstellen sollen an ihre Stelle rücken, und nicht zusätzlich zu den Hebammen-Gesprächen etabliert werden. „Wegen des Geldes ergreift niemand den Beruf“, sagt Krainz. Derzeit bekommen Kassen-Hebammen 63 Euro für einen Hausbesuch bzw. 50 Euro für die Hebammen-Beratung laut Mutter-Kind-Pass. In diesen Honoraren ist eine Strukturpauschale, also Geld für Administration und Dokumentation, eingerechnet. Eltern, die eine Wahlhebamme in Anspruch nehmen, bekommen 80 Prozent des Kassentarifs erstattet – die Strukturpauschale herausgerechnet. Dabei ist die Verantwortung einer Hebamme unabhängig vom Einsatzort riesig und der Druck nimmt zu. Krainz etwa hat das Gefühl, dass heute immer Schuldige gesucht werden müssen, wenn etwas nicht nach Plan läuft. Es gäbe Situationen, in denen man das Schicksal leider akzeptieren müsse, doch: „Damit tut sich die Gesellschaft heute schwer.“ In Österreich werden jährlich etwa 86.000 Kinder geboren, zurzeit arbeiten etwa 2600 Hebammen angestellt, freiberuflich oder im Mischbereich. Werden für Österreich 26 Hebammen pro 1000 Lebendgeburten ausgewiesen, liegt der OECD-Durchschnitt bei 35. Um tatsächlich eine bessere Versorgung zu erreichen, braucht es nach Berechnungen der Arbeiterkammer bis 2032 rund 1400 Hebammen mehr. 1400 starke Menschen, die das tun, was Geburtshilfe sein will: vor, während und nach der Geburt behilflich sein.

DIE FURCHE · 19 11. Mai 2023 Gesellschaft 11 Betroffene von weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) leben zunehmend auch in Österreich. Im Kampf gegen FGM wurde der Mai zum Aktionsmonat. Hohe Weiblichkeit „ Das Wissen über die Folgen weiblicher Genitalverstümmelung fehlt, weil Themen rund um die reproduktive Gesundheit nach wie vor stark tabuisiert sind. “ Die Sozial-, Zirkus- und Sexualpädagogin Angela Priester schlüpfte in die Rolle der Klitoris, um zu zeigen, dass das Organ groß, aber fragil und schützenswert ist. Foto: Victoria Schwendenwein Von Victoria Schwendenwein Es war ein ungewöhnlicher Anblick, der sich Anfang Mai in der Wiener Mariahilfer Straße bot: Eine schlanke Figur, drei Meter groß, in purpur-Tönen und fragil anmutend, bewegte sich ausgehend von der Pfarrkirche Mariahilf in der Einkaufsstraße. Die Figur erregte Aufmerksamkeit und ließ so Manchen irritiert innehalten. Genau das haben sich die Organisatorinnen der „Aktion Regen“ davon auch versprochen. Dargestellt wurde eine Klitoris, die viele auf den ersten Blick wohl nicht als solche erkannt haben, denn „Wie eine Klitoris wirklich aussieht, weiß kaum jemand“, erklärte „Aktion Regen“-Geschäftsführerin Ines Kohl. Sie klärte in der Mariahilfer Straße mit Partnerorganisationen wie „Plan International“ oder „Terre de femmes“ unter dem Motto „#togetherweendfgm“ über die gefährliche Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung (female genitale mutilation, kurz FGM) auf. Bildung sieht Kohl auf allen Ebenen als wichtigsten Schlüssel im Kampf gegen FGM. Weltweit leiden Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge rund 200 Millionen Mädchen und Frauen unter einer Form der weiblichen Genitalverstümmelung. Ungefähr 6000 bis 8000 davon leben in Österreich, wobei die Dunkelziffer laut der seit 2022 bestehenden Koordinationsstelle und der seit 2003 bestehenden Plattform „StopFGM“ deutlich höher liegen könnte. Fehlende ärztliche Expertise Gesetzlich erfüllt FGM in Österreich den Tatbestand der schweren Körperverletzung. Bei den in der Plattform „StopFGM“ gebündelten Hilfsorganisationen geht man davon aus, dass die Praxis in Österreich nicht durchgeführt wird. Die allermeisten der betroffenen Frauen in Österreich sind durch Migrationsbewegungen hierher gekommen. Tendenz steigend. Ihre gesundheitlichen Probleme führen sie meistens nicht auf die Folgen von FGM zurück. „Sie urinieren lange, haben oft Infektionen oder einen Kinderwunsch“, erklärt Daniela Dörfler. Für die Gynäkologin an der medizinischen Universität Wien ist ein sensibler Umgang mit den Problemen der Frauen wichtig. „Es gibt wenig Schlimmeres als wenn medizinisches Personal mit Entsetzen auf weibliche Genitalverstümmelung reagiert“, sagt Dörfler. Dabei gäbe es bereits medizinische Möglichkeiten, das Leid zu lindern. Beispielsweise kann die Narbenplatte, mit der die Vulva verschlossen wird, geöffnet werden. Viele Betroffene wissen das nicht. Auch in der medizinischen Versorgung gibt es in diesem Bereich Lücken, wie eine Erhebung der Wiener Medizinanthropologin Elena Jirovsky-Platter zeigt. Mit ihrem Team hat sie zwischen Mai 2019 und November 2020 einen Überblick über bestehende Strukturen, Hemmschwellen und Hürden in der Betreuung FGM-betroffener Frauen in Österreich erstellt. Das Ergebnis: „In Österreich gibt es keine geltende Leit- FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE Entgeltliche Einschaltung Entgeltliche Einschaltung bmbwf.gv.at Science Talk > > Wozu sind Freunde/Freundinnen da? Freundschaft aus interdisziplinärer Perspektive Podiumsdiskussion mit mit • • Ass.-Prof. in Dr. in Dr. in Donata in Romizi Institut für für Philosophie, Universität Wien Wien • • Assoz. Prof. Prof. Dr. Dr. Frank Frank Welz Welz Institut für für Soziologie, Universität Innsbruck • • Mag. Mag. a Dr. a Dr. in Karin Karin S. S. Wozonig, Ph.D. Ph.D. Institut für für Germanistik, Universität Wien Wien Montag, 22. 22. Mai Mai 2023, 2023, 19:00 19:00 Uhr Uhr Aula Aula der der Wissenschaften, Wollzeile 27a, 27a, 1010 1010 Wien Wien Bitte Bitte um um Anmeldung unter: unter: www.bmbwf.gv.at/Ministerium/Veranstaltungen Moderation: Jana Jana Reininger, BA MA BA MA DIE DIE FURCHE FURCHE

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