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DIE FURCHE 11.04.2024

DIE

DIE FURCHE · 15 4 Das Thema der Woche Aufklärung riskieren 11. April 2024 Geistig Untote Dazu werden Menschen, die verlernt haben, kritisch zu denken und Manipulation zu erkennen.. Das Gespräch führte Philipp Axmann Immanuel Kant gilt als wichtigster Aufklärer. Marie-Luisa Frick, Philosophin an der Universität Innsbruck , fordert ein neues Verständnis von Aufklärung und meint, wir müssten sie als Projekt neu denken und vorantreiben. Ein Podcastgespräch über Freiheit und Selberdenken in den Coronajahren, Gerechtigkeit im Strafsystem, Mündigkeit in der Demokratie und eine Gesellschaft voller „Zombies“. DIE FURCHE: Beginnen wir mit der Frage, die sich schon Kant stellte: Was ist Aufklärung? Marie-Luisa Frick: Die Aufklärung ist eine Epoche, die unser Leben bis heute prägt. Wenn wir tiefer hinter das Schlagwort blicken, merken wir, dass es nicht die eine Aufklärung gab, sondern viele heterogene Stränge. Da gab es sehr viele Akteure und Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen, die sich jeweils als aufklärerisch verstanden. DIE FURCHE: Kant gilt als einer der Aufklärer schlechthin. Welche Fragen klärte er auf? Frick: So viele! Er hat die Philosophie in vier große Fragen zusammengefasst: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Und die wohl grundlegendste: Was ist der Mensch? Damit deckte er Erkenntnistheorie, Ethik, Religionsphilosophie und Anthropologie ab. Kant beschäftigte sich aber auch mit Fragen, die wir heute den Naturwissenschaften zurechnen würden. Er formulierte den Leitspruch der Aufklärung, „sapere aude!“ – „wage es, deinen Verstand zu benutzen“. Kant ist aber nicht der Aufklärer schlechthin. Die Aufklärung blühte schon im 17. Jahrhundert, Kant wurde erst 1724 geboren. Auch er steht auf den Schultern von Riesen, die auch ins Licht gerückt gehören. Illustration: iStock / Paper Trident (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) „ Es gibt kein Zurück in die Zeit, in der Autoritäten klar gesetzt waren – und das wäre auch nicht erstrebenswert. “ Die Philosophin Marie-Luisa Frick über Friedensschrift-blinde Weltpolitik, darüber, wie Kant Menschenwürde und Todesstrafe in Einklang brachte, und eine „Riesin“ in seinem Schatten. „Von Aufklärung hängt unser Schicksal ab“ Die Philosophin Marie-Luisa Frick spricht im Podcaststudio über Kant, die Aufklärung und deren Zustand heute. Link zum Podcast: siehe unten. DIE FURCHE: Apropos ins Licht rücken: Mit den Frauen der Aufklärung geschieht das erst in den letzten Jahren. Welche Aufklärerinnen sollte man kennen? Frick: Eine davon ist die Engländerin Mary Wollstonecraft. Sie war eine frühe Republikanerin und Frauenrechtlerin. Wollstonecraft hat sich aus armen, schwierigen Lebensverhältnissen emporgearbeitet, wollte ökonomisch selbstständig sein und politisch mitsprechen. Dass Frauen eine politische Meinung haben, war damals unerhört. Trotzdem hat sich Wollstonecraft in eine der wichtigsten Fragen ihrer Zeit eingemischt: nämlich, ob die Französische Revolution nachahmenswert oder ein Verhängnis ist. Ursprünglich verteidigte sie die Revolution, fuhr dann aber nach Paris, um sich – ganz im Sinne aufklärerischen Denkens – selbst ein Urteil zu bilden, und revidierte ihre Meinung. Sie erkannte: Frauen wurden hier nicht mitbefreit, und viele, die an die Befreiung glaubten, wurden Opfer des Terrors. Ihre Abrechnung mit diesem Terror hat sie unter Lebens gefahr aus dem Land geschmuggelt. DIE FURCHE: Welche Positionen vertrat sie in feministischen Fragen? Hören Sie das ganze Gespräch mit Marie-Luisa Frick auch in unserem Podcast: furche.at/ podcast Foto: Philipp Axmann Frick: In ihrem Werk „Die Verteidigung der Rechte der Frau“ trat sie als Kritikerin des Sexismus auf, der damals noch kein Begriff war. Sie kritisierte dabei auch, dass manche Frauen sich aus Bequemlichkeit auf ihr Äußeres und ihr Geschlecht reduzieren ließen und nicht ihre eigene Freiheit ergriffen. Sie forderte also nicht: „Liebe Männer, gebt uns Rechte“, sondern: „Liebe Frauen, kommt mit auf den Weg, der anstrengend ist. Biedert euch nicht an ein System, das gegen euch gerichtet ist.“ DIE FURCHE: Wie war das Verhältnis von Aufklärung und Religion? Frick: Das Bild „Aufklärung gegen Religion“ ist viel zu vereinfacht. Das liegt zum einen daran, dass es die Religion genauso wenig gibt wie die Aufklärung. Im Zeitalter der Aufklärung entsteht eine Vielzahl an Konfessionen, und ebenso viele definieren sich neu. Es gab ein paar radikale materialistische französische Philosophen, die Religion vehement ablehnten. Aber das ist eine Minderheit. Es gibt in der Zeit einen großen Trend zu einem philosophischen Gottesglauben, den wir Deismus nennen. An einen personalen Gott glaubten Deisten nicht, ebenso wenig an Offenbarungsschriften oder Wunder. Kleine religiöse Gruppen wie die Quäker, die Methodisten und andere Abweichler von der anglikanischen Konfession waren ebenfalls einflussreich, sie argumentierten etwa mit den Ideen der Freiheit und Gleichheit, die von Gott herrühren, für die Abschaffung des Sklavenhandels. DIE FURCHE: Die Abschaffung der Sklaverei bringt uns zur Menschenwürde. Kant nannte sie die „Würde der vernünftigen Kreatur“. Wie begründete er sie? Frick: Er begründete sie mit der menschlichen Freiheit. Mit der Autonomie, sich selbst moralische Gesetze zu geben. Die Fähigkeit, sich selbst einzuschränken mit Blick darauf, was richtig ist, macht den Menschen bei Kant aus und macht ihn besonders wertvoll. DIE FURCHE: Und was folgt aus der Würde des Menschen? Frick: Kant hat seinen kategorischen Imperativ „Handle nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ in einer zweiten Variante formuliert, die wir als „Selbstzweckformel“ kennen. Darin fordert er, dass wir uns selbst und vor allem andere Menschen nie nur als Mittel zu irgendeinem Zweck, sondern stets als Selbstzweck achten. Aus der Würde des Menschen folgt also, dass ich ihn nie gänzlich instrumentalisieren darf. Ich muss immer anerkennen, dass jeder Mensch auch eigene Ziele hat und nie nur für mich existiert. DIE FURCHE: Zurück zur Freiheit, die die Menschenwürde begründet. Sie haben Ihr Buch kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie geschrieben. In dieser Zeit wurde hitzig über Freiheit diskutiert. Ist das falsch verstandene Freiheit, wenn man sich gegen Impfungen oder Lockdowns wehrt? Frick: Wir sollten differenzieren. Es gibt die individuelle, persönliche Freiheit. In der Aufklärung wurde sie in Grundrechte gegossen, die primär als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden wurden. Die Menschenrechte haben aber große Sprünge gemacht und sind inzwischen nicht mehr nur negative Abwehrrechte im Sinne einer „Freiheit von …“, sondern

DIE FURCHE · 15 11. April 2024 Das Thema der Woche Aufklärung riskieren 5 „ Wenn wir unser Denken ganz an sogenannte Künstliche Intelligenzen ‚outsourcen‘, also abgeben, verlieren wir Urteilskraft. “ haben auch eine aktiv-positive Seite. Man spricht hier von der „Freiheit zu ...“. Der Begriff Freiheit schien in der Pandemie von Gruppen monopolisiert, die ihn als reine Abwehrfreiheit verstanden haben. Aber Menschen, die nicht allein im Wald existieren, sondern in einer modernen Gesellschaft leben, brauchen eine Freiheit, die komplexer ist. Abgesehen von der individuellen-, gibt es aber auch die kollektive Freiheit eines demokratischen Gemeinwesens, sich selbst Gesetze zu geben. Diese demokratische Freiheit und die individuellen Freiheitsrechte können in Konflikt geraten. Die liberale Demokratie ist daher selbst innerlich konflikthaft. DIE FURCHE: Eine Schrift Kants, die aktueller nicht sein könnte, trägt den Titel „Zum ewigen Frieden“. Was können wir von ihr heute verwenden? Frick: Viel und zugleich zu wenig, fürchte ich. Denn die Weltpolitik orientiert sich nicht an Kant oder sonstigen Friedensschriften. Kant wünschte sich, dass die Menschen vernünftig und einsichtig genug sind, zu erkennen, dass man Kriege nicht nur kurzfristig verhindern, sondern dauerhaft ausschließen muss. Und zwar dadurch, dass sich Staaten selbst unter Gesetze der Vernunft und Selbstbeschränkung stellen. Er forderte, die „stehenden Heere“ müssten nach und nach abgeschafft werden, und wenn es zu Krieg kommt, so müsse er so geführt werden, dass danach ein tauglicher Frieden entstehen kann. Diese Schrift liest sich deprimierend und inspirierend zugleich. Kant hat trotz allem gehofft, dass sich die Dinge im großen Zeitverlauf zum Besseren wenden. DIE FURCHE: Ist das nicht völlig naiv? Frieden mag noch so vernünftig sein, Putins Realpolitik sieht anders aus. Frick: Das stimmt, Kant hat das aber nicht nur auf dem Prinzip Hoffnung begründet. Er hat Bedingungen für einen dauerhaften Frieden statuiert. Eine zentrale davon ist, dass Staaten demokratisch verfasst sein sollen, bzw. republikanisch, wie er es nannte. Es spricht tatsächlich viel für die These Kants, dass Demokratien seltener Kriege gegeneinander anzetteln. Die „normalen Menschen“ wollen in Ruhe und Wohlstand leben. Und sie sind es, nicht die Monarchen und Despoten, die die Folgen des Krieges tragen müssen. DIE FURCHE: Sie haben in Ihrem Buch auch ein Kapitel über Verbrechen und Strafe geschrieben. Aktuell wird über die Strafmündigkeit von Minderjährigen diskutiert. Wie sähe ein aufklärerischer Zugang zu dieser Debatte aus? Frick: Die Aufklärung hatte grosso modo den Zug, das Strafsystem zu humanisieren. Es ging vor allem um die Abschaffung von Folter und grausamen Körperstrafen. Wir können uns in der Diskussion schon fragen: Ab wann ist man verantwortlich für sein Tun? Diese Debatte sollte nicht an sich schon ein Tabu sein, aber es geht ja auch nicht darum, Zwölfjährige einzusperren, Foto: Philipp Axmann sondern zu fragen, ob es überhaupt Sanktionen geben kann, etwa in Form einer Diversion mit verpflichtenden Sozialstunden. Derzeit ist das rechtlich unmöglich. DIE FURCHE: Es ging in der Aufklärung um die Humanisierung des Strafrechts. Trotzdem war jemand wie Kant strikt für die Todesstrafe. Wie konnte er das argumentieren? Frick: Das ist eine wunderschöne Paradoxie. Wunderschön, weil sie uns zeigt, dass die Aufklärung kein einförmiges, rosiges Programm ist, das wir heute einfach umsetzen können. Kant argumentierte gegen die Strafrechtsreformer und mit der Menschenwürde für die Todesstrafe: Es sei nämlich eine Instrumentalisierung des Täters, wenn wir ihn zu Zwecken der Abschreckung strafen und nicht entsprechend seiner Schuld. „ Ansonsten entwickelt sich im schlimmsten Fall ein großer Teil der Gesellschaft zu ‚Zombies‘, die sich von jeder beliebigen politischen Ideologie oder Strömung steuern lassen. “ DIE FURCHE: Hat Vergeltung aus Gerechtigkeit überhaupt noch Platz in einem aufgeklärten Strafrecht? Frick: Die Gerechtigkeitsfrage ist auch unter einem streng utilitaristischen Kalkül eines aufgeklärten Strafrechts nicht wegzubekommen. Eine Strafe hat immer auch den Zweck, als Gesellschaft deutlich zu sagen: „Dieses Unrecht akzeptieren wir nicht.“ Die Frage ist, ob nicht bei manchen Entwicklungen viele Menschen zu Recht den Eindruck haben, dass Urteile zu mild ausfallen. Im Sinne einer positiven Generalprävention müssen Menschen ihr Rechtssystem insgesamt achten können. Dafür müssen sie das Gefühl haben, in diesem Rechtssystem werden wirklich schlimme Dinge nicht bagatellisiert. DIE FURCHE: Wer sind heute die Gegner der Aufklärung? Frick: Aufklärung ist nicht nur ein Schlagwort, sondern auch ein Kampfplatz und eine Waffe. Viele behaupten, aufseiten der Aufklärung zu stehen. Mit dieser Rhetorik müssen wir vorsichtig sein. Die Aufklärung ist ein weites Feld und bietet für verschiedene Ideologien Anknüpfungspunkte – auch für die schlimmsten. Wenn man sich ein Verständnis der Aufklärung erarbeitet hat, kann man trotzdem zu Abgrenzungen kommen: Wer die Selbstbestimmung des Individuums und die moralische Gleichheit von Menschen grundsätzlich nicht akzeptiert, widerspricht den Werten der Aufklärung. DIE FURCHE: In der Pandemie haben wir gesehen, dass „Selberdenken“ von gewissen Gruppen als Schlagwort instrumentalisiert wurde. Wie funktioniert aufgeklärtes Selbstdenken wirklich? Frick: Kant hat in seiner Schrift „Was ist Aufklärung?“ die Gründe für mangelndes Selbstdenken zusammengefasst: Feigheit und Bequemlichkeit. Es ist bequem, klassischen Autoritäten zu folgen, Kant nennt den Priester und den Arzt. Ich kann aber auch bequem meinen eigenen selbstgemachten Autoritäten aus den sozialen Netzwerken folgen. Wir sollten unser Vertrauen in Institutionen oder Personen immer begründen können. Außerdem benötigen wir noch reflexives Selbstdenken, das bedeutet, sich selbst kritisch zu hinterfragen: Wo sind die Grenzen meiner Urteilskraft, meines Wissens? Wenn ich erkenne, dass sich jemand anderes in einem Bereich besser auskennt als ich, darf ich nicht so bequem sein, einen Bogen um dessen Expertise machen, sondern ich muss mutig sein und riskieren, mit Ansichten konfrontiert zu werden, die mir persönlich oder politisch nicht gefallen könnten. DIE FURCHE: Früher waren traditionelle Medien die „Wächter“ der Wahrheit. Heute kann sich in Social Media jeder als Experte für alles ausgeben. Wie können wir durch die Welt der unklaren Autoritäten navigieren? Frick: Es gibt kein Zurück in die Zeit, in der Autoritäten klar gesetzt waren – und das wäre auch nicht erstrebenswert. Wir wollen nicht in einer Gesellschaft leben, in der uns klar vorgegeben wird, wem wir glauben, vertrauen und gehorchen sollen. Die Pluralisierung der Autoritäten ist auch ein Segen. Gleichzeitig bedeutet sie, dass wir viel kritischer und mündiger sein müssen, als es sich Kant je hätte vorstellen können. Vom Bildungsauftrag der Aufklärung hängt unser gesellschaftliches Schicksal ab. DIE FURCHE: Wie aufgeklärt ist unsere Demokratie heute? Frick: Unser Demokratiemodell kommt aus dem 18. Jahrhundert. Heute stellt sich die Frage, ob wir als politisches Volk mündig und aufgeklärt genug sind, um uns mehr zuzutrauen als den Menschen von damals. In den USA hatten die Gründerväter Angst auch vor dem Volk und dahingehend das politische System aufgebaut. Müssen wir uns heute auch noch vor mehr Mitbestimmung hüten, oder ist das feige? Manche fürchten, dass die Menschen nicht klug genug entscheiden und damit das Erfolgsversprechen der Demokratie riskiert wird. Gibt es dagegen Hilfsmittel, die nicht selbst undemokratisch sind? Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik sollten wir jedenfalls genauer ausloten. DIE FURCHE: In Zeiten der Pandemie entstand der Eindruck, Politiker verstecken sich hinter Expertinnen und Experten, Stichwort Bundeskanzler Karl Nehammers Satz „Wir waren den Experten hörig“. Ist das ein Mitgrund für Politverdrossenheit? Frick: Eine Neuverhandlung der institutionellen Arrangements zwischen demokratischer Politik und Fachwissen ist für zwei Dinge entscheidend. Einerseits gegen die angesprochene Frustration mit der Politik. In der Pandemie konnte tatsächlich der Eindruck entstehen, da werden Experten vorgeschoben und man steht nicht ehrlich hinter Entscheidungen. Diese werden dann auch noch als alternativlos dargestellt, was sie natürlich nie sind. Zweitens dürfen sich aber auch wissenschaftliche Akteurinnen und Akteure nicht missbrauchen lassen und auch nicht das Selbstverständnis entwickeln, Politik zu machen. Wenn beide Seiten ihre Grenzen überschreiten, leidet das Ansehen von Politik und Wissenschaft. BUCHTIPP Mutig denken Aufklärung als offener Prozess Von Marie-Luisa Frick Reclam 2020, 143 S., kart., € 6,– „ Die demokratische Freiheit und die individuellen Freiheitsrechte können in Konflikt geraten. Die liberale Demokratie ist daher selbst innerlich konflikthaft. “ Lesen Sie auch das erste FURCHE-Interview mit Marie- Luisa Frick, „Wir müssen Tacheles reden“, vom 30. November 2022 auf furche.at. DIE FURCHE: Brauchen wir eine neue Aufklärung, oder reicht es, die alte fortzusetzen? Frick: Die Aufklärung ist nicht abgeschlossen, wir müssen uns mit ihren Widersprüchen und Schattenseiten immer wieder neu befassen und auslegen, was etwa Menschenwürde und Demokratie für unsere Zeit bedeuten. Bei aktuellen Fragen nach dem Umgang mit nichtmenschlichen Lebewesen oder der Umwelt greift die klassische Aufklärung zu kurz. Das heutige planetarische Bewusstsein kann die Aufklärung rückblickend noch einmal vertiefen und Fragen von Pflichten breiter stellen – etwa gegenüber nachfolgenden Generationen. DIE FURCHE: Was bedeutet Humanismus im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz? Frick: Durch KI und automatisierte Datenverarbeitung droht der Mensch aus Sicht mancher, zu einem berechenbaren Objekt zu werden und seine Menschlichkeit zu verlieren. Wenn wir unser Denken ganz an KI „outsourcen“, also abgeben, verlieren wir Urteilskraft. Es reicht nicht, technische Hilfsmittel anzubieten, ohne humanistische Bildung zu forcieren. Und nur weil wir alles nachschauen können, heißt das nicht, dass wir kein Allgemeinwissen mehr brauchen. Die Frage ist: Was soll es heute umfassen? DIE FURCHE: Welche Fähigkeiten soll uns das Bildungssystem lehren, um größere Urteilskraft zu erlangen? Frick: Entscheidende Kompetenzen sind: Dinge kritisch einschätzen können, Fälschungen, Manipulationen und sonstige Weisen zu erkennen, mit denen wir gelenkt und beeinflusst werden. Daran hängt die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft, ansonsten entwickelt sich im schlimmsten Fall ein großer Teil von ihr zu „Zombies“, die sich von jeder beliebigen politischen Ideologie oder Strömung steuern lassen und alles glauben, was ihnen auf ihre Smartphones übermittelt wird. Das wäre eine abgründige Dystopie. Ich glaube, wir sehen Anzeichen dafür, dass sie nicht völlig abwegig ist, und sollten uns wappnen. Nächste Woche startet eine FURCHE-Serie zu den vier Fragen, mit denen Kant die Philosophie zusammenfasste. Der Auftakt: Theologe Johannes Hoff darüber, was wir wissen können. ZUR PERSON Marie-Luisa Frick (geboren 1983 in Osttirol) ist Professorin für Philosophie an der Universität Innsbruck. Sie forscht zur Ethik, Rechtsphilo sophie, politischen Philosophie und zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. In ihrem Buch „Mutig denken“ (siehe Buchtipp oben) hat sie sich mit der Aufklärung beschäftigt und interpretiert sie als Projekt, an dem wir auch heute noch arbeiten müssen. Nächste Woche im Fokus: Nichts stünde unserer Zeit besser an als der „Geist der Versöhnung“. Immer wieder wird er beschworen. Aber zwischen vielen Nationen, Gruppen und Einzelnen scheint der Wille zur Unversöhnlichkeit vorzuherrschen. Wie lässt sich das umkehren? Ein Fokus über das Verzeihen.

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