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DIE FURCHE 11.04.2024

DIE

DIE FURCHE · 15 18 Literatur & Musik 11. April 2024 Von Brigitte Schwens-Harrant Rauris, am 6. April 2024. Der Himmel strahlend blau, die Hotelterrasse lädt nach dem Vormittagsprogramm zum Blick auf die schneebedeckten Berge. Doch es ist zu heiß, um in der Sonne zu sitzen, Anfang April, auf 950 Meter Seehöhe. Wer keinen Schattenplatz mehr erwischt, begibt sich in den Speisesaal und erinnert sich an Rauriser Literaturtage, bei denen man jede Minute Sonne genossen hat, um sich nach dem Winter zu wärmen. Um 14 Uhr geht’s weiter, im Mesnerhaus, es ist ein kurzer Weg, leicht bergauf. Ein Sommerkleid wäre passender, Sandalen, Sonnenschutz. So weit die Wetterlage bei den Rauriser Literaturtagen 2024. Die einen freuen sich: Wie schön, wie herrlich! Andere ahnen, dass dies nichts Gutes verheißt. Das Klima haben sich Ines Schütz und Manfred Mittermayer als Thema zwar nicht dezidiert vorgenommen – sie luden zu „Geschichten vom Zusammenleben“ –, aber es war doch sehr präsent. Das lag nicht nur an den Temperaturen, sondern vor allem an der beeindruckenden Lesung von Laura Freudenthaler am Freitag. Ihr jüngstes Buch „Arson“ (Jung und Jung 2023) thematisiert eine Welt, die aus den Fugen geraten ist; der technische Fortschritt hat zwar Satelliten ermöglicht, die von weit her Feuer beobachten und kartografieren – man kann den hitzebedingten Waldbränden daher bei der Ausbreitung interessiert zusehen –, verhindern lässt sich hingegen der bereits in Gang gesetzte Lauf der Dinge nicht mehr. Kein Wunder, wenn man nicht mehr schlafen kann. Innehalten Es war auffällig still im Saal, als Laura Freudenthaler aus ihrer Prosa las – als würden alle den Atem anhalten. Auch bei ihrem Gespräch mit Manfred Mitter mayer, als sie – sorgfältig die Worte wählend – über die Not sprach, aus der diese Literatur entstanden ist, und über die Schwierigkeiten, sie in eine entsprechende literarische Form zu bringen. Es war eine Stille, die spüren ließ, wie Literatur nahegehen kann, weil jedes Wort zum Innehalten, zur Besinnung ruft. Eindrücklich waren diese Momente auch, weil Sprache und Thema nicht auseinanderbrachen – beide sich gleichermaßen dringlich zeigten. Ähnlich konnte man dies bei den Lyriklesungen tags darauf spüren, als José F. A. Oliver, Jan Wagner und Anja Utler lasen. Utler wurde einige Tage zuvor für ihren Trauerrefrain „Es beginnt“ (Edition Korrespondenzen 2023), der Bezug nimmt auf den Angriff Russlands auf die Ukraine, mit dem renommierten Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik ausgezeichnet. Dort wie da trauert eine Autorin über den Zustand der Welt, ringt um eine Sprache dafür. Einem gemeinsamen Gespräch der beiden Autorinnen hätte man gerne gelauscht. Wie wichtig Literatur da auf einmal wird. Als Besinnung, Wahrnehmung und, ja, auch als Trauerarbeit. Denn es kann ja nicht darum gehen, sich – wie Zygmunt Bauman Volles Haus Niemand interessiere sich für Lyrik? Von wegen. Beim Gespräch der Wiener Studentinnen und Studenten mit Jan Wagner waren auch am Fußboden alle Plätze besetzt. Wo Sprache ihren Raum bekommen kann und Literatur zum Gespräch einlädt: Zum 53. Mal fanden im schönen Salzburger Tal die Rauriser Literaturtage statt. Dringlich und zumutbar „ Wie wichtig Literatur da auf einmal wird. Als Besinnung, Wahrnehmung und, ja, auch als Trauerarbeit. Denn es kann ja nicht darum gehen, sich eine Welt zurückzuwünschen, die es nicht mehr gibt. “ es in „Retrotopia“ beschreibt und manche Gaukler einem vormachen wollen – eine Welt zurückzuwünschen, die es nicht mehr gibt und nie mehr geben wird. Auch Sabine Gruber, die ebenfalls in Rauris las, erzählt in ihrem Roman „Die Dauer der Liebe“ (C. H. Beck 2023) von der Notwendigkeit der Trauer, durch die Neues erst entstehen kann. Aber man muss durch sie hindurch, wie unangenehm auch werden kann, was sie zutage bringt. Laura Freudenthaler schenkt einen Moment der Hoffnung, wenn am Ende ihres Buches zwei Menschen gemeinsam das Feuer hüten: immer schon ein Ort, wo Beziehung stattfindet und Geschichten entstehen. Ihre Prosa ist eine Einladung dazu: nicht weg-, sondern hinzusehen und ins Gespräch zu kommen. Eine Einladung dazu sind auch die Rauriser Literaturtage seit über 50 Jahren, und sie sind genau dann stark, wenn sie der Sprache ihren Raum geben. Die ORF-Dokumentation von Lukas Möschl, die am Samstag gezeigt wurde und in der TVthek noch Foto: Brigitte Schwens-Harrant „Literatur als Erlebnis: Rauriser Literaturtage“: Brigitte Schwens- Harrant berichtete am 15.4.2010 von 40 Jahren Rauriser Literaturtagen. Zu lesen auf: furche.at. abrufbar ist, erinnerte mit Archivaufnahmen an jene Autorinnen und Autoren, die hier aufgetreten sind, etwa Ilse Aichinger oder Thomas Bernhard, und an die Provokationen, die von Anfang an in Rauris stattgefunden haben. Die Sprache ist den Menschen zumutbar, sowohl den angereisten Urlaubern und Literaturbegeisterten als auch den Menschen vor Ort. Zur Auseinandersetzung mit Sprache laden auch die Gespräche der Studierenden mit Autorinnen und Autoren ein. Die Befragung von Büchnerpreisträger Jan Wagner über seinen Band „Steine und Erden“ (Hanser Berlin 2023) etwa geriet zu einer kurzweiligen und intensiven Einführung in Lyrik und ihre Formen, wie man sie allen Schulen wünscht. Auch die kleinsten Dinge haben ein Gedicht verdient, so Wagner: eine Brombeere, ein Löffel, ein Teebeutel, ausgelatschte Schuhe … Sage noch jemand, die Lyrik interessiere nicht: Das Mesnerhaus war voll, selbst der Fußboden war besetzt. Dass sich immer noch alle fünf Germanistikinstitute Österreichs an den Rauriser Literaturtagen beteiligen, indem sie jeweils ein Gespräch mit einem Autor, einer Autorin intensiv vorbereiten, das dann öffentlich geführt wird: Das lässt diese Veranstaltung aus der Menge der in den letzten Jahrzehnten entstandenen Literaturfestivals herausragen. Wie auch die berühmten traditionellen Störlesungen, bei denen Autorinnen und Autoren von Familien eingeladen werden, gegen eine Jause im kleinen Kreis lesen und mit den Anwesenden ins Gespräch kommen. Sie mögen ihren traditionellen Charakter beibehalten: privat, im kleinen Rahmen. Zu Beginn: Die Preise Alle Jahre beginnen die Literaturtage mit der Verleihung des Rauriser Literaturpreises, der so manche Karriere folgen ließ. Heuer wurde Matthias Gruber ausgezeichnet, für sein Romandebüt „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“ (Jung und Jung 2023), den Förderpreis erhielt Luka Leben. Rauris, das ist der Ort, wo man sich dann ständig begegnet. Das heißt aber auch: Ein Gespräch kann jederzeit beginnen, zwischen Lesern und Leserinnen, Autorinnen und Autoren. Während man als Kultur- und Literaturinteressierte im Alltag vielleicht oft einsam denkt, man wäre die Letzte ihrer Art, kann man hier ein paar Tage lang aufatmen und gemeinsam das Feuer hüten. Wie schreibt Freudenthaler am Ende in „Arson“? „Ein wenig können wir hierbleiben, lange wird es nicht halten.“ Einige Gespräche sind hier nachzusehen: https://fs1.tv/mediathek Die ORF-Dokumentation „Rauris erlesen – Fünf Jahrzehnte Rauriser Literaturtage“: tvthek.orf.at OPER Eine Uraufführung, die keine war Von Walter Dobner Eine Salieri-Uraufführung? Das liest sich interessant, klingt wie eine späte Rechtfertigung des durch so manches Machwerk in Misskredit geratenen Mozart-Konkurrenten. Das war’s aber schon. Anstelle Salieris zweiaktiges dramma eroicomico „Kublai Khan“ erstmals im Original auf die Bühne zu bringen, hat Martin G. Berger in seiner Inszenierung im MuseumsQuartier nichts anderes im Sinne, als diese in die Binsen gegangene Heiratsgeschichte zwischen Lipi (die als Queere auf die Bühne gestellte Lauranne Oliva), dem Sohn des Mongolei- und Chinesen-Herrschers Kublai Khan (profund Carlo Lepore), und der ihm zugedachten Bengalen-Prinzessin Alzima (wenig strahlend Marie Lys) nicht nur in die Gegenwart zu transferieren, sondern auch gleich die Protagonisten zu heutigen Geschäftsleuten umzudeuten. Im Original platzt die Hochzeit, in Bergers verkrampfter Erzählperspektive kommt die erhoffte Rettung von Kublais in Finanz nöte geschlittertem Geschäft mit „Kublai- Kugeln“ (!) nicht zustande. „Alles nur eine Farce“, hört man an diesem dreistündigen Abend. Wenn’s wenigstens ein spannender gewesen wäre! Stetig switcht man zwischen Deutsch und Italienisch. Als Gag hat man Antonio Salieri (Christoph Wagner-Trenkwitz) wiederauferstehen lassen. Gleich zu Beginn seiner Moderation schildert er, dass die geplante Uraufführung 1787 deshalb nicht zustande kam, weil Österreich plötzlich eine Allianz mit Russland gegen die Osmanen eingegangen war. Mit der Oper aber sollte das Chaos am russischen Zarenhof gegeißelt werden, was die neuen politischen Umstände nicht mehr zuließen. Nun zeigt sich der auf die Welt zurückgekehrte Komponist besorgt, dass die gegenwärtigen Krisenherde die zweite Uraufführungschance zunichte machen könnten. Was, erwartungsgemäß, nicht der Fall ist. Wenigstens nach der Pause erfährt man, wie’s dem Originalstoff entsprechend ausgeht: Kublai Khan verzeiht seinem Sohn, gibt die Bengalen- Prinzessin dem sie liebenden Timur (nobel Alasdair Kent) zur Frau und designiert ihn zugleich zu seinem Nachfolger. Mit weniger Klamauk und homoerotischen Zutaten, fantasievollerer Bühnenarchitektur (Sarah-Katharina Karl) und in einer gerafften Version wäre die Brisanz des Stoffs wirklich zum Ausdruck gekommen. So blieb sie weitgehend ausgeblendet. Mehr Vokalglanz und ein abwechslungsreicheres Spiel im Orchestergraben (Les Talens Lyriques unter dem wenig inspirierten Christophe Rousset) hätten auch nicht geschadet. Jedenfalls, auf die originale Uraufführung heißt es weiter warten. Kublai Khan MusikTheater an der Wien, MQ, 11., 13.4.

DIE FURCHE · 15 11. April 2024 Literatur & Musik 19 Vor zehn Jahren, am 17. April 2014, starb der Schriftsteller Gabriel García Márquez. Sein bisher unveröffentlichter Roman „Wir sehen uns im August“ zeigt einmal mehr die bildgewaltige und atmosphärisch dichte Erzählkunst des Literaturnobelpreisträgers. Außergewöhnliches im Alltäglichen Von Oliver vom Hove Der General hat sich selbst überlebt. In seinem heruntergekommenen, von weidenden Kühen verwüsteten Palast haust er, ein unberechenbarer Machthaber und Tyrann, als einer der zahlreichen Gewaltherrscher nicht nur im Lateinamerika des vorigen Jahrhunderts. Niemand weiß mehr, wie alt er inzwischen geworden ist, jedermann fürchtet, ihm und seinen Häschern unversehens und ohne Anklage in die Hände zu fallen. In seinem Diktatorenroman „Der Herbst des Patriarchen“ hat der Weltliterat Gabriel García Márquez vor einem halben Jahrhundert aus realistischen und surrealen Elementen die mythologische Figur des von Paranoia getriebenen Alleinherrschers geschaffen, ein vielgestaltig schillernder Mythos des Machtwahns. So memoriert der Tyrann nach einem Attentat, dem sein Doppelgänger zum Opfer fiel, ohne Unterlass seinen aus Panik und Größenwahn geschöpften Überlebenstriumph: „... denn ich allein bin mir genug und übergenug, um weiterhin zu befehlen, […] denn so wie ich bin gedenke ich nie mehr zu sterben, zum Teufel, sollen die anderen sterben, sagte er, pausenlos redend, als rezitiere er aus dem Gedächtnis, denn er wusste seit dem Krieg, dass wenn er laut nachdachte, er die Angst verscheuchte.“ Literat von Weltrang Im bildmächtigsten Beispiel des Romans triumphiert der Tyrann als Überlebender, indem er seine geheimen Widersacher im Generalstab zum mitternächtlichen Mahl lädt. Als sie alle bis auf einen an der Tafel versammelt sind, tragen die Diener auf einem großen Silbertablett den Rädelsführer des geplanten Aufstands herein, gebraten wie ein Spanferkel mit einem Büschel Petersilie im Mund. So zwingt der Diktator die versammelte Generalität, unter der er genügend Abtrünnige vermutet, in einer Geste von gargantueskem Ausmaß zu einem grauenhaften Festmahl. Von allen literarischen Beispielen aus dem vielbändigen Lebenswerk des Nobelpreisträgers von 1982 ist dieser Roman heute zweifellos der aktuellste. Weil er uns, in einer Zeit wiedererstandener Triebtäter der Macht, ein grelles Abbild jener skrupellosen Autokraten liefert, die alles Vorgefundene ausschließlich zur Befriedigung des eigenen egozentrischen Anspruchs missbrauchen. Weltweit berühmt wurde der 1927 im kolumbianischen Aracataca geborene Erzähler, den halb Lateinamerika stets „Gabo“ nannte, ab 1967 mit dem vor magischen Bildern und bizarren Assoziationen sprühenden Monumentalroman „Hundert Jahre Einsamkeit“. Vorangegangen und gefolgt sind so gewichtige Prosawerke wie „Chronik eines angekündigten Todes“, „Die Liebe in Zeiten der Cholera“ oder „Der General in seinem Labyrinth“. Posthumer Nachzügler Und jetzt folgt, zehn Jahre nach García Márquez’ Tod am 17. April 2014, mit großem medialem Getöse ein posthumer Nachzügler seiner überbordenden Erzählkunst. Er hätte nach dem letzten Willen des am Lebensende sehr dementen Autors nicht erscheinen dürfen, doch die Söhne haben sich, wie einst Max Brod bei Franz Kafka, dem Vernichtungswillen des Autors zu Recht widersetzt. „Wir sehen uns im August“ ist Gabos erster Roman, in dem ausschließlich eine weibliche Hauptfigur ins Zentrum gerückt ist. Darin fährt eine Frau alljährlich am 16. August mit der Fähre auf eine kleine Karibikinsel, wo sich das Grab ihrer Mutter befindet. Sie legt einen Strauß Gladiolen nieder und fährt am nächsten Morgen mit der Fähre wieder zurück. In ihrem 46. Lebensjahr ändert sich plötzlich das Ritual: Ana Magdalena Bach – den Namen hat der Autor der zweiten Frau des Komponisten entlehnt – lässt sich nach einem Abendessen mit ausreichend Gin auf eine Affäre mit einem fremden Mann ein, einem brandytrinkenden Amerikaner. In den 27 Jahren ihrer Ehe und auch zuvor war sie nie intim mit einem anderen Mann gewesen, nun hat sie es geradezu herausgefordert. Umso größer ist ihre Empörung, als der Liebhaber für eine Foto: Getty Images / Ulf Andersen Nacht ihr im schwindenden Morgenlicht einen 20-Dollar-Schein auf dem Nachttisch zurücklässt. Nach dem Erlebnis weiß sie zwar: „Nie wieder würde sie dieselbe sein.“ Aber die Erfahrung hatte eine mutwillige Sehnsucht in ihr geweckt, die sie bisher nicht kannte: „Die Wunden vernarbten, das spürte sie, und sie wünschte im Innersten, ihm zu begegnen, ihn ins Bett zu nehmen, diesmal ohne Angst und Eile, aber mit dem schöpferischen Vertrauen eines echten Liebespaars.“ So befreit fühlt sie sich durch ihre eigenständige Entscheidung, dass sie beschließt, das erotische Ritual jedes Jahr im August zu wiederholen – mit wechselnden Partnern. Es sind seltsame, skurril gezeichnete Vertreter des maskulinen Geschlechts dabei. Einer ist ein Tanzgigolo, auf die Verführung alleinstehender Damen FEDERSPIEL abonniert. Später muss sie erfahren, dass sie es mit einem gefährlichen Heiratsschwindler zu tun hatte, einem verurteilten Doppelmörder. Ein anderer, gleichfalls eine obskure Mannsfigur, ist ein hochmögender Snob, der sich als hoher evangelischer Würdenträger ausgibt und in Wahrheit ein ubiquitärer Versicherungsreisender ist. Unwahrscheinlich ist in dieser Auf nach Weimar Jenseits des Atlantiks Mit seinem 1967 erschienenen Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ gelang dem in Kolumbien geborenen Gabriel García Márquez (1927–2014) der Durchbruch. 1982 erhielt er den Literaturnobelpreis. „ Das Zögern der Erben des Autors war nicht nötig, dieser allerletzte Streich des Meisters des magischen Realismus ist eine Trouvaille. “ hochmusikalisch komponierten, in perlendem Lauf erzählten Novelle nichts. In einer feinsinnigen Charakterzeichnung wird das Porträt einer selbstständig gewordenen Frau gezeigt, draufgängerisch, fremd in einer Männerwelt, von der sie, eingehüllt in eine scheinbar perfekte Ehe, bislang wenig Ahnung hatte. Umso entlasteter fühlt sie sich, als sie ihrem Mann das Geständnis entlockt, dass er sie einmal betrogen hat, in New York, mit einer asiatischen Tänzerin. Überzeugend In den paradoxen Verschlingungen von Zeit, Leben und Tod bewährt sich Gabos Kraft der Erzählkunst, etwas altersgemildert zwar, aber überzeugend. Was er sich bei der Konzeption des ungleich gewichtigeren Romans „Hundert Jahre Einsamkeit“ vorgenommen hatte, bewährte sich auch hier: „Eine lineare Geschichte zu erzählen, wo mit aller Unschuld das Außergewöhnliche ins Alltägliche eindringt.“ Eine veritable Überraschung mit makabrem Einschlag hält das schmale Buch am Schluss noch bereit. Klar wird: Das Zögern der Erben des Autors war nicht nötig, dieser allerletzte Streich des Meisters des magischen Realismus ist eine Trouvaille. Aktuell indes bleibt auch – und zum Wiederlesen empfohlen – „Der Herbst des Patriarchen“. Weil die Dämonen der autokratischen Vergangenheit neu erstehen, weltweit. Wir sehen uns im August Roman von Gabriel García Márquez Übersetzt von Dagmar Ploetz Kiepenheuer & Witsch 2024 144 S., geb., € 23,70 Von Daniela Strigl Ein Süßwarenkonzern steht im Zentrum der ins Heute versetzten Salieri-Oper „Kublai Khan“, mit Fabio Capitanucci (Orcano). Foto: Herwig Prammer Zwanzig Jahre ist es heuer her, dass ein Kabelbrand das oberste Geschoß der Herzogin Anna Amalia Bibliothek und damit 50.000 kostbare Bücher zerstörte. Das könnte man zum Anlass nehmen, der wieder instandgesetzten Rokokopracht (mit Entlehnbetrieb!) einen Besuch abzustatten. Außerdem wird der 200. Geburtstag der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach mit einer Sonderausstellung im Goethe- und Schiller-Archiv begangen – die Niederländerin gründete das erste deutsche Literaturarchiv mit Forschungsauftrag und regte die erste Goethe-Gesamtausgabe an. In Weimar war aber nicht nur die Klassik zu Hause, sondern auch, seit 1919, das Staatliche Bauhaus mit Walter Gropius. 1924 rückte die Thüringer Landesregierung nach rechts und schritt zur Vertreibung der Bauhäusler, mittels einer heute in autoritären Kontexten beliebten Methode: Man halbierte ihr Budget. Weil diesen September, hundert Jahre danach, eine prekäre Landtagswahl in Thüringen ansteht, hat die Klassik Stiftung Weimar das „Themenjahr“ „Auf/Bruch“ ausgerufen: Im Nietzsche-Archiv, dem ehemaligen Wohnhaus des Philosophen und seiner nicht nur politisch berüchtigten Schwester, geht es um „Nietzsche im Nationalsozialismus“, und ab 9. Mai läuft im neuen, schlicht-eleganten Bauhaus-Museum sowie im einst von Harry Graf Kessler geleiteten Museum Neues Weimar die Ausstellung „Bauhaus und Nationalsozialismus“ – da gab es nämlich keineswegs nur natürliche Feindschaft, sondern auch Berührungspunkte und Bündnisse. „Lächerlich, solch ein Geniekult, lächerlich, ein Leben in Spiritus zu konservieren, lächerlich, die Bewohner einer Stadt zu Mitwirkenden eines beständigen Passionsspieles zu machen“, fand Egon Erwin Kisch 1926. Sitzt man im Museumscafé „Kunstpause“ und lässt die Begegnungen in dieser menschenfreundlichen Stadt Revue passieren, mutet dieser Befund eindeutig überholt an. Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin.

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