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DIE FURCHE 11.04.2024

16 11. April 2024

16 11. April 2024 DIE FURCHE · 15 Diskurs IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at IN KÜRZE Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 furche.at DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 80. Jg. · € 6,– AUS DEM INHALT Foto: © Ameh Egwuh and Rele Gallery, Foto: L. Deinhardstein Das Thema der Woche Seiten 2–4 13 · 28. März 2024 Natürlich sind die massenpsychologischen Formen im Zeitalter der Digitalisierung andere als in der Antike. Aber auch in den sozialen Medien ist eine global vernetzte Schar schnell mit einem „Kreuzige ihn!“ zur Stelle, die Anonymität der Menge ist gegeben – ob es sich um den realen Aufruhr vor dem Palast des römischen Statthalters handelt oder um virtuelle Zusammenrottungen, wo jeder verbale Unrat wider nicht Gleich- gesinnte verbreitet werden kann. Recht und Gerechtigkeit, aber auch Demokratie sind so in Gefahr. Das ist evident. Was Elias Canetti Jahrhunderte später in „Masse und Macht“ analysierte, findet sich im Populismus wieder, der zurzeit vielerorts grassiert. Dieser setzt auch auf die Verführbarkeit von Massen und kanalisiert Unzufriedenheit vermehrt in virtuellen Aufruhr, der nicht minder bedrohlich ist. W enn dieser Tage in den christ- lichen Liturgien landauf landab die Hinrichtung Jesu am Kreuz erinnert wird, ist selten von den politischen Implikationen die Rede, die in den Berichten der Evangelien auch enthalten sind: Eine aufgehetzte Menge forderte den Kopf Jesu. Dass die Christen über Jahrhunderte diese Menge mit „den Juden“ identifizierten und so Antisemitismus legitimierten, der bis heute sein Unwesen treibt, ist eine dunkle Seite der Religionsgeschichte. Die Manipulierbarkeit der Masse – die Passionsgeschichte kann da doch als Parabel herhalten – ist aber ein Menschheitsproblem, das vor 2000 Jahren ebenso virulent war wie heute. Und sie ist ein gefährliches politisches Phänomen, weil sie den gesellschaftlichen Frieden – damals wie heute – bedroht. Es mag da nur ein kirchliches Lüfterl sein, was sich dieser Tage rund um eine Kunstinstallation im Wiener Stephansdom abspielte: Dort hängt eine Fastentuchinstallation des kontroversiell diskutierten Künstlers Gottfried Helnwein – unter anderem mit einem umgedrehten Kopf des Turiner Grabtuchs. Das ab Karsamstag geplante Ostertuch Helnweins (auf dem ein Kind mit den Wundmalen Christi abgebildet ist) sowie ein für Pfingsten gedachtes Abschlussbild werden nicht aufgehängt: Das Domkapitel von St. Stephan hatte im letzten Moment kalte Füße bekommen. Kampagne statt Kunst-Kontroverse Die Ereignisse markieren kaum eine Kontroverse um Kunst und Kirche, sondern sind das Ergebnis einer auf rechten Plattformen ausgespielten Kampagne. Insbesondere eine Petition der einschlägigen Plattform CitizenGO tat sich hervor, die die „satanische Bildsprache“ Helnweins brandmarkte sowie rund 8000 Unterschriften dagegen ins Treffen führte. Schon 2023 hatte sie die Abhängung eines Fastentuchs in Innsbruck erreicht, auf dem ein Schweineherz prangte. Das rechte Eifern gegen das Stephansdom- Fastentuch ist ein – letztlich erfolgreiches – Unterfangen, mittels „Volkszorn“ ideologischen Positionen gegen einen behaupteten „Satanismus“ zum Durchbruch zu verhelfen. Solcher Populismus verhindert auch die gewiss nötige Auseinandersetzung zwischen Kunst und Glauben. Der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück versuchte eine kritische Bewertung der Arbeit – um den Preis, ins Fahrwasser angesprochener Ideologien zu geraten: „Die Allianz zwischen Kirche und Gegenwartskunst ist hier ein elitäres Projekt der Wenigen, bei dem das Votum der Vielen nicht gefragt ist“, so Tücks Verdikt auf communio.de. Solche Argumentation ist nicht hilfreich, weil sie populistisch vereinnahmt werden kann. Zuletzt hatte – auch auf communio.de – Guido Schlimbach von der renommierten kirchlichen Kunststation St. Peter in Köln die Wiener Installation aus künstlerisch-theologischem Blickwinkel kritisiert. Das ist etwas anderes, als mit einem wie immer gearteten „Volksempfinden“ das Feld zwischen Kunst und Kirche neu zu belasten. Das Skandalerl um St. Stephan wurde für alle Beteiligten eine Lose-Lose-Situation. Vielleicht ein Anlass, gerade im Blick auf den Karfreitag zur Besinnung zu kommen. Und statt realer oder virtueller Zusammenrottung auf Dialog zu setzen. otto.friedrich@furche.at „ Ein wie immer geartetes ‚Volksempfinden‘ verhindert die gewiss nötige Aus- einandersetzung zwischen Kunst und Glauben. “ Es rottet sich zusammen Warum die Passionserzählungen auch politische Botschaften in Bezug auf die Aufhetzung von Massen transportieren. Und was das mit einer abgebrochenen Installation im Wiener Stephansdom zu tun hat. Von Otto Friedrich Strafe für die Wahrheit Ein Londoner Gericht hat entschieden, dass Julian Assange gegen seine Auslieferung in die USA erneut berufen darf. Der weltweite Protest zeigt offenbar Wirkung. Seiten 6–7 Ringen um gerechten Frieden Es bleibt die Aufgabe der Kirche, zur Überwindung des Krieges aufzurufen – ohne „Ministrant“ des Aggressors zu sein, meint Wolfgang Palaver im „Diesseits von Gut und Böse“. Seite 15 „... nur ein Auf Wiedersehen“ Leben heißt sterblich sein. Das ist traurig und empörend, aber es ist so. Das Dom Museum Wien lädt mit alter und neuer Kunst zum Nachdenken über die Endlichkeit ein. Seite 17 Meine Kindheit, ein Märchen FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic schreibt in ihrer Kolumne „mozaik“ über Flucht, Heimat und Identität. Nun sind die Miniaturen als Buch erschienen. Seite 19 Die KI als Regisseur? Der neue Videogenerator Sora öffnet das Fenster in eine Zukunft, in der jeder zum Filmemacher wird. Führt das zum Abgesang auf eine alte Welt, die man einst Kino nannte? Seite 22 Gott – vielleicht eine Spur im Alltag? Im Bild „Life After Life 6“ (2021) des nigerianischen Künstlers Ameh Egwuh springt eine Figur leicht vor einem abstrahierten blauen Himmel. Zu sehen in der Ausstellung „Sterblich sein“ im Dom Museum Wien (vgl. Seite 17). DIE FURCHE wünscht allen ihren Leserinnen und Lesern ein frohes Osterfest. Gott - (k)eine Frage 3 28. März 2024 DIE FURCHE · 13 Das Thema der Woche Gott - (k)eine Frage Foto: Privat Das Gespräch führte Otto Friedrich D er Begriff „queer“ umfasst Menschen, die nicht binär hetero sexuell veranlagt sind beziehungsweise leben. Darunter fal len Schwule, Lesben, Trans- und Intersexuelle und andere geschlechtsspezifische Minderheiten. Mittlerweile beschäftigt sich auch die Theologie mit „Queerness“. Ein Gespräch mit Linn Tonstad, Professorin für „Theology, Religion, and Sexuality“ an der Yale University in den USA. DIE FURCHE: Gibt es ein queeres Gottesbild? Linn Tonstad: Ich weiß nicht, ob ich sagen würde, dass es ein queeres Gottesbild gibt, weil ich nicht sicher bin, ob es „das“ Gottesbild im Singular gibt. Im traditionellen christlichen Denken heißt es, Gott ist unendlich. Das bedeutet, dass jede Facette der geschaffenen Welt Gott widerspiegelt. Ein Gottesbild drückt eine Facette von Gottes unendlicher Kreativität aus. Das deutet darauf hin, dass es Gottesbilder gibt, die als queer beschrieben werden können, die Teil der Vielfalt und Komplexität von Gottes schöpferischem Handeln sind. DIE FURCHE: Können Sie ein Beispiel für derartige queere Gottesbilder geben? Tonstad: Es hängt ein wenig davon ab, wie wir das Wort queer verwenden. „Queer“ wird oft in zweierlei Weise gebraucht: erstens als Ausdruck für Menschen, die anders als heterosexuell sind. Queer steht aber auch als Begriff für alles, was gegen die Norm verstößt. Queere Theologie konzentriert sich typischerweise auf die Erfahrungen von Menschen, deren Leben durch sexuelle oder geschlechtsspezifische Erwartungen eingeschränkt wurde, durch Erwartungen, ein anderes Leben zu führen, als sie selbst leben. Eine der Möglichkeiten für ein queeres Gottesbild besteht darin, darüber nachzudenken, was Gott an einem fremden Ort, auf eine ungewohnte Art wäre. Da sind wir mitten in der christlichen Geschichte, die eine Geschichte darüber ist, wie Gott sich selbst an einem fremden Ort findet: Die Reise des Sohnes ins ferne Land. Wir könnten in traditioneller Sprache sagen, dass Gott in eine Welt eintritt, die anders ist als Gott, geformt, menschlich gemacht, nach dem Bild Gottes geschaffen. Diese Welt spiegelt Gott in jedem Aspekt ihrer Existenz wider. Ein queeres Gottesbild wäre dann Teil dessen, was es heißt, nachzudenken, was Gott bedeutet, wie Unterschied und Vielfalt oder alle Formen des Seins zur Komplexität und dem innerlich differenzierten Schöpfungssystem beitragen, das Gott eingerichtet hat. DIE FURCHE: Gott ist etwas, das unsere Erwartungen übersteigt, über unsere Bilder und Metaphern hinausgeht. Warum brauchen Sie da noch einen queeren Ansatz? Tonstad: Ein Student hat mich einmal gefragt: Wenn Gott kein Geschlecht hat, wie kann er dann queer sein? In dieser Frage befindet sich aber ein geschlechtsspezifisches Pronomen. Wenn Gott jenseits aller Bilder und traditionellen und queeren Verständnisse ist, dann heißt das, dass es kein angemessenes Bild von Gott gibt. Wie aber können wir über das nachdenken und sprechen, was nicht in Worte zu fassen ist? Eine der ältesten christlichen Methoden, das zu tun, besteht darin, mehrere Bilder nebeneinander zu stellen, die sich gegenseitig korrigieren, ohne etwas endgültig zu machen. In den Traditionen der negativen Theologie etwa verwirft man die verschiedenen Gottesbilder. Das ist ein Prozess, bei dem versucht wird, den Geist dazu zu bringen, Visionen zu entwickeln, die über die eigene Vorstellungskraft hinausgehen. Das könnte man eine sehr queere Praxis nennen. Ich bin skeptisch, ob es nützlich ist, das Christentum an sich „queer“ zu machen. Aber ich glaube nicht, dass man leugnen kann, dass die Suche nach Gottesbildern eine Art queere Praxis beinhalten muss, weil Queerness in der Schöpfung zu finden ist. DIE FURCHE: Trotzdem gibt es Bilder, an denen man nicht vorbeikann – etwa: Gott als Vater. Das Hauptgebet der Christen beginnt: Vater unser im Himmel … Tonstad: Das Vaterunser ist eines der zen- tralen Gebete im Leben und im Gottesdienst christlicher Kirchen. Es ist aber auch ein Bild, das die Spur eines patriarchal strukturierten Wirklichkeitsverständnisses trägt. Wir leben in einem solchen Wirklichkeitsverständnis. Es ist also nicht verwunderlich, dass unsere Gottesbilder daran beteiligt sind. Ich selbst bin aber nicht daran interessiert, bestehende Gottesbilder auszuschließen. Sondern ich will sie erweitern, komplexer machen und verschiedene Gottesbilder nebeneinander stehen lassen. Das erinnert auch an die wichtige christliche Tradition, nach der das Erstellen von Gottesbildern eine Versuchung zum Götzendienst ist. Statt Gottesbilder festzuzurren, sollten wir erkennen, dass Gott in der Welt und in den Menschen zu finden ist. Nicht dass Gott mit der Welt und den Menschen identisch wäre, sondern im klassischen christlichen Denken zu sein bedeutet, die Teilhabe an der Güte Gottes in der jeweiligen Eigenart zu reflektieren. DIE FURCHE: Wie setzen Sie sich als queere Theologin mit anderen theologischen Positionen auseinander? Tonstad: Ich selber bin als Theologin im deutschen Stil der alten Schule ausgebildet. Ich habe meine Dissertation über Hans Urs von Balthasar geschrieben und mich erst nach dem Studium der deutschsprachigen Theologie, protestantisch wie katholisch, der queeren Theologie zugewendet. Für mich war diese Auseinandersetzung von Anfang an Teil meiner Arbeit. Ich bin überzeugt, dass die queere Theologie und traditionelle Arten, Theologie zu treiben, voneinander lernen können. Die traditionelle Theologie erinnert daran, sehr genaue Unterscheidungen zu treffen. Und eines der Dinge, die sie von queerer Theologie lernen kann, ist deren Art von Kreativität und Offenheit. DIE FURCHE: Sie haben sich auch mit dem Werk von Joseph Ratzinger befasst. Gerade er hat wiederholt auf den Befund einer binären Geschlechtlichkeit in der biblischen Schöpfungsgeschichte („Als Mann und Frau schuf er sie“) hingewiesen. Aber queere Theologie geht ja darüber hinaus. Tonstad: Ich denke, schon Hans Urs von Balthasar macht einen großen Fehler, in der Art, wie er die biblische Geschichte umstrukturiert, um das Geschlecht – Gender – in gewissem Sinn zum Mittelpunkt der Schöpfungsgeschichte zu machen. Das hatte natürlich einen großen Einfluss auf Johannes Paul II., aber im Blick auf die Jahrhunderte war dies nicht typisch für katholisches Denken. Balthasar dachte über eine Welt nach, in der Geschlecht und Sexualität aus Gründen, die mit anderen historischen Prozessen zusammenhängen, ziemlich wichtig geworden waren. In dieser Hinsicht hat Balthasar einen großen theologischen Fehler gemacht. Für Joseph Ratzinger ist das Geschlecht in seiner Theologie weniger zentral. Im Lauf der Geschichte des Christentums wurden Geschlecht und Sexualität zum Punkt gemacht, an dem die christliche Geschichte steht und fällt. Das ist eine Entscheidung, die nicht in die biblische Erzählung selbst eingebaut ist. Theologisch halte ich das für einen Fehler. Der Bibelwissenschaftler Ken Stone hat aufgezeigt, dass die Bibel viel mehr Zeit damit verbringt, über Essen denn über Sex und sexuelle Praktiken zu sprechen. Warum macht man dann Sex und sexuelle Praktiken zu dem Teil des Christentums, an dem das Ganze steht und fällt? Entscheidend ist, was wir für die zentrale Geschichte des Christentums halten. Was ist die Botschaft? Was macht es wahr oder nicht? Was ist die Geschichte, die das Christentum zu erzählen hat? DIE FURCHE: Es gibt queere Menschen, die Teil der christlichen Gemeinschaft sein wollen. Ist das ein Beweggrund, sich mit queerer Theologie auseinandersetzen? Tonstad: Bei der queeren Theologie geht es nicht um die Inklusion von queeren und sexuellen Minderheiten in die Kirche. Geschlechtsspezifische Minderheiten waren schon immer in der Kirche. Sie sind also da. Es stellt sich nicht die Frage, ob es in der Kirche Menschen geben soll, die schwul oder nichtbinär sind oder transsexuell. Wir treiben Theologie in einem viel umfassenderen Sinn, als einfach mehr Menschen in die Kirche aufzunehmen. DIE FURCHE: Aber Ihr Ansatz könnte für alle Christen von Bedeutung sein. Tonstad: Ziel der queeren Theologie ist es, beim Nachdenken zu helfen. Die christliche Geschichte handelt von einem Gott, der uns zu neuen Seinsarten hinzieht, von denen wir nicht dachten, dass sie möglich wären. Der queertheologische Ansatz kann eine dieser Denkweisen sein, bei der wir lernen, anders darüber nachzudenken, was die Möglichkeiten von Liebe, Begierde und Identifikation in der Welt, in der wir leben, betrifft: diese Entfaltung, die Kreativität, die wir im Leben von Menschen sehen, deren Leben nicht nach Standardgeschichten abläuft. Diesbezügliche Kreativität ist eine wunderbare Ressource, von der das gesamte Christentum profitiert. DIE FURCHE: In der katholischen Kirche wird zurzeit ein heftiger Streit über queere Themen geführt – etwa über die Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare. Tonstad: Die Welt steht vor so vielen Herausforderungen, und die Tatsache, dass so viel Energie für diesen Kampf aufgewendet wird – von beiden Seiten –, ist wirklich bedauerlich. Ich frage: Müssen wir diesen Kampf führen? Natürlich leisten Menschen großartige Arbeit für die Anerkennung von Beziehungen, die nicht traditionell sind, zwischen Menschen des gleichen Geschlechts oder zwischen Menschen, bei denen das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht dasselbe ist wie jenes, das sie leben. Gleichzeitig erfordert es viel Anstrengung, um für Frieden zu arbeiten, sich für Abrüstung einzusetzen und einen Teil des Konsums der Erde zu bekämpfen, den wir derzeit als unsere vielleicht größte gemeinsame Herausforderung ansehen. Ich denke immer noch, dass beide Seiten besser dran wären, würden sie ihre Energie hierfür verwenden. DIE FURCHE: Dennoch: Bedient queere Theologie mehr als eine kleine Nische? Tonstad: Das Leben queerer Menschen ist ein Geschenk an die Welt – genau wie das Leben aller Menschen. Intensiv darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutet, ist meiner Ansicht nach auch Aufgabe der Theologie. „Eine Ressource für alle Christen“ Die protestantische US-Theologin Linn Tonstad ist eine der führenden Vertreterinnen queerer Theologie. Im FURCHE-Gespräch erläutert sie dazu: „Ein queeres Gottesbild besteht darin, darüber nachzudenken, was Gott an einem fremden Ort, auf eine ungewohnte Art wäre.“ „ Ich bin nicht daran interessiert, bestehende Gottesbilder auszuschließen. Ich will sie erweitern, komplexer machen und verschiedene Gottesbilder nebeneinander stehen lassen. “ Lesen Sie zum Thema auch Gerhard Marschütz: „Queer und katholisch – Die Schöpfung ist vieldeutig“ vom 2.2.2022, siehe furche.at. Linn Tonstad Die ursprünglich freikirchliche Theo- login studierte u.a. in Yale und an der Southern Methodist University. Seit 2012 ist sie Professorin an der Yale Divinity School. 2017 erschien ihr Buch „Queer Theology“. Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 furche.at DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 80. Jg. · € 6,– AUS DEM INHALT Foto: Stadtkino Filmverleih @diefurche @diefurche @diefurche Die Furche Das Thema der Woche Seiten 2–4 14 · 4. April 2024 rungsprogramm, sondern einzig und allein im jüngsten Wahlkampf-Strategiepapier der eigenen Partei findet? Und wie kann es tags darauf gelingen, nicht nur die gekommenen Fachleute mit einer Kampagne in simpelster Blasmusik-Ästhethik zu brüskieren, sondern sogar die Blasmusik selbst? Wer auch immer in der Partei auf die Idee verfiel, nach „Normalität“ und „Bargeld“ nun mit „Leitkultur“ um Stimmen zu buhlen, sollte jedenfalls dringend seinen Kompass justieren: Diesen Begriff zuerst den rechtsextremen Identitären zuzuordnen und nun damit den eigenen Platz „in der Mitte“ zu belegen – das geht sich ideo- logisch einfach nicht aus. „Werte“ – nicht bloß auf dem Papier Dies alles ist umso ärgerlicher, als eine Diskussion über die Grundlagen des Zusammenlebens in einer kulturell diversen, vielfältigen Gesellschaft tatsächlich gut und wichtig wäre. Auch eine liberale Demokratie muss „wehrhaft“ sein – und intolerant gegenüber Intoleranten. Nicht erst junge Messerstecher und kindliche Vergewaltiger mit Migrationshintergrund haben das überdeutlich werden lassen. Mit einer nebulösen „Leitkultur“, die einerseits E s ist die Zeit der Eskalationen und der bösen Wiedergänger: In Russland hat sich Wladimir Putin pro forma wiederwählen lassen, in den USA nimmt Donald Trump eine Hürde nach der anderen auf seinem geplanten Rückmarsch ins Weiße Haus, im Nahen Osten droht nach einem mutmaßlich israelischen Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus ein Flächenbrand – und in Österreich? Eigentlich sollte man unter Hochdruck die noch immer fehlende Sicherheitsdoktrin finalisieren, das eigene Selbstverständnis zwischen Neutralität und NATO diskutieren und endlich jene Umtriebe zwischen Moskau und Wien inspizieren, die mittlerweile jeden Spionage- Thriller in den Schatten stellen. Doch es ist längst Wahlkampf – offenbar nicht nur die Zeit „fokussierter Unintelligenz“, wie Michael Häupl einst (selbst-)kritisch konstatierte, sondern auch die Zeit un- fokussierter Panik. Wie sonst kann man sich das aktuelle Agieren der ÖVP erklären? Warum sonst lädt man mitten in der Karwoche einen nicht näher vorgestellten Experten-Kreis ins Kanzleramt, um dort an einer „Leitkultur“ zu feilen, die sich in keinem Regienichts anderes umfasst als geltende Gesetze und Menschenrechte, andererseits mit Hinweis auf „Sitten“, „Gebräuche“ und andere Folklore jeder offenen Gesellschaft Hohn sprechen würde und folglich in keinem Gesetz Eingang finden könnte, wird das freilich kaum gelingen. Erst in alltäglichen, mühsamen Aushandlungsprozessen erlangt die faktische „Hausordnung“ einer Gesellschaft, erlangen ihre „Werte“ tatsächlich Gültigkeit und Wirksamkeit. Das freilich erfordert mehr als eine plakative Vorwahl-Kampagne – und auch mehr als die von Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) angekündigte Umfrage, was die Bürgerinnen und Bürger unter einer österreichischen Identität und „Leitkultur“ verstehen. Es erfordert Zeit, Geld und Mühe – insbesondere im Schul- und Bildungsbereich. Dass hier vielfach nur „gegen das System“ und mit Hilfe außergewöhnlichen persönlichen Engagements Erfolge erzielt werden können, belegt nicht nur Ruth Beckermanns neuer Film „Favoriten“, sondern auch der Erfahrungsschatz all jener Lehrerinnen und Lehrer, die mit jungen Menschen aus benachteiligten Familien arbeiten (vgl. die Seiten 2 und 15). Hierhin das Augenmerk und die nötigen Ressourcen zu lenken, wäre übrigens Aufgabe der Politik. Und sich dessen auch in Zeiten von Wahlkampf und globalen Eskalationen bewusst zu bleiben, ein Zeichen politischer Kultur. Zumindest dies sollte und könnte man als hiesige „Leitkultur“ verankern. doris.helmberger@furche.at „ Es braucht Intoleranz gegenüber Intoleranten. Eine nebulöse ,Leitkultur‘ wird aber dafür nicht reichen. “ Demokratie als Folklore Die „Leitkultur“-Kampagne der Kanzlerpartei ist ein mehrfaches Ärgernis – und belegt den Unernst bei der Lösung tatsächlicher Probleme. Wie wäre es mit mehr politischer Kultur? Von Doris Helmberger „Die Ideologie der serbischen Welt“ Sicherheitsexperte Igor Bandović über entfesselte Autokraten auf dem Westbalkan, Donald Trumps Rolle in der Region und die Schlafwandel-Politik der EU. Seite 7 Mein Ramadan Hanna Begic begeht bewusst den muslimischen Fastenmonat. Wie insbesondere das Bittgebet Du’a diese Zeit prägt, beschreibt sie in einem persönlichen Bericht. Seite 10 Tanzen am Reumannplatz Was kann, was muss man gegen Jugend- kriminalität tun? Katharina Tiwald formuliert im „Diesseits von Gut und Böse“ ihre Träume als Lehrerin. Seite 15 Das Trauma der Koalas Im Osten Australiens ist das Überleben der Beutler gefährdet. Ein großer Nationalpark soll die Symboltiere retten, doch das Tauziehen um das Projekt ist groß. Seiten 22–23 Musikant Gottes, Revolutionär Vor 200 Jahren wurde Anton Bruckner geboren. Eine Ausstellung im Prunksaal der Nationalbibliothek und eine neue Biografie würdigen ihn exemplarisch. Seite 24 Automare Waffen wie „High-Tech-Hunde“ töten emotionslos, chirurgisch, „kostengünstig“. Über ethisch umstrittene Kampfhandlungen. Seite 8 Zum 330. Todestag der Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg. Die Lyrikerin und Mystikerin des Hochbarock wird neu entdeckt. · Seite 9 Worte verbinden Literatur und Popmusik. Kein Wunder also, dass sich immer wieder Musiker auch als Schriftsteller versuchen. · Seite 17 Krieg der Roboter Den Himmel auf der Zung’ Geschichten erzählen – so oder so Billiglöhne, Überbelag, Personalmangel: Gefängnisinsassen organisieren sich für bessere Haftbedingungen. Seiten 12–13 Die Rechte der Verbrecher Das Filmland vermessen Von der Maria-Lassnig-Biografie „Mit einem Tiger schlafen“ (Bild) bis zum zeitgenössischen Blick nach Favoriten: Österreichs Film zeigt auf der Diagonale seine gesellschaftliche und ästhetische Relevanz. „Die NATO wartet auf Österreichs Sicherheitsstrategie“ 75 Jahre ist der Nordatlantikvertrag und das sich darauf gründende Bündnis alt. Nach der jüngsten Erweiterung sind neutrale Staaten gefragt, ihre Rolle genauer zu definieren, sagt der Ständige Vertreter Jürgen Meindl. Welche Lehren gilt es für die Allianz angesichts weltweiter Minenfelder noch zu ziehen? Ein Fokus auf Fortschritte, Fehler und Fallstricke. Seiten 5 und 6 Foto: © Moritz Schell Kaum ein Medienmensch in diesem Land, der oder die sich nicht seit Jänner mit der ÖVP-Leitkultur intensiv beschäftigt. Was an sich schon paradox ist, weil es vordergründig doch um die „Herkunftskultur“ (der Zuwanderer) geht und nicht darum, was Burgenländer oder Salzburger ausmacht. Von philosophischer Betrachtung über wissenschaftliche Zuspitzung, historischer Durchleuchtung bis hin zur Zuordnung in die Kategorie „fokussiere Unintelligenz“. Alles liegt grundsätzlich im Bereich der journalistischen Recherche und wird bis ins kleinste Detail durchgespielt. Am Ende bleibt aber doch die Frage: Warum kommt die ÖVP jetzt mit so einem Thema daher? Die Antwort ist so einfach wie peinlich: SNU – strategisch notwendiger Unsinn. Eigentlich sollten es Medienexpertinnen und -experten wissen und der Sache nicht auch noch auf den Leim gehen. Immerhin haben alle die Fleischmann-Bibel unter dem Kopfkissen liegen. Doch selber denken und selber kochen ist aus der Mode gekommen. Und Grenzen – so scheint es, sind da, um ignoriert zu werden. Peter Baumgartner 9300 St. Veit an der Glan Gelebte „Leitkultur“ wie oben Eine Erfahrung, die ich vor Kurzem machte, scheint irgendwie zum aktuellen Thema „Leitkultur“ zu passen: Es ist doch die „Kultur“ eines Landes, in meinem Fall Vorarlbergs, wenn man sich mit einer gehörigen Verletzung (selber schuld!) Samstagabend um 21 Uhr mit der Rettung zur „Ambulanz“ ins Stadtspital Dornbirn transportieren lassen kann, wobei das sogar auch ohne Vorweis der E-Card möglich wäre! Und es ist vor allem auch persönliche „Kultur“, wenn man sich dann mitten unter all den anderen „Opfern“ darin übt, ein Mit-Mensch zu sein, weil einem hier deutlicher als sonst bewusst wird, dass man nur einer von allen ist. Und es ist bewundernswerte „Kultur“, wenn man dann von Ärzten und Ärztinnen behandelt wird, die sich hier um jede Person kümmern – und sei es auch manchmal ein schwieriger Patient. Man kann sicher gehen: Die eigene Verletzung wird mit Sorgfalt und Können versorgt! Kommt da nicht greifbar zum Vorschein, was überhaupt „Kultur“ ist? Wie muss man doch danken, wenn hier diese „hohe Kultur der Nächstenliebe“ das persönliche und gesellschaftliche Leben „leitet“ – anschaulich „gelebt“ in den Der Diskussion stellen Demokratie als Folklore Von Doris Helmberger Nr. 14, Seite 1 Doris Helmberger hat Recht, dass die Art, wie seitens der Volkspartei das Thema „Leitkultur“ angegangen wurde, nicht dem Anspruch einer seriösen Auseinandersetzung entspricht und daher der Kategorie „große Peinlichkeit“ zuzuordnen wäre. Nicht zustimmen kann ich aber dahingehend, dass das Thema nicht diskussionswürdig ist, weil es wichtigere Themen gäbe. Eine ernsthafte Auseinandersetzung, an welchen gesellschaftlichen und kulturellen Grundwerten sich unsere zugewanderten Mitbürger orientieren können, ist sehr wohl wichtig und notwendig. Unter dem Begriff „Leitkultur“ ist im von Bassam Tibi geprägten Sinn mehr als die Summe von grundlegenden Rechtsnormen zu verstehen. Oder wie es Hans Winkler in der Presse beschrieben hat: „Die moderne westliche Demokratie und die mit ihr verbunden ‚Werte‘ beruhen auf einem kulturellen Vorverständnis, ohne das es sie nicht gibt.“ Wie man sich diesem Thema ernsthaft nähern kann, konnte auch in der Ö1-Radiokollegreihe „Der österreichische Mensch“ (Jänner 2024) beispielhaft angehört werden. Man sollte sich daher dieser Diskussion stellen. Mag. Alexander Lesigang, 1230 Wien Warum jetzt, ÖVP? wie oben wunderbaren Diensten unserer Krankenhäuser! Pfarrer Peter Mathei, 6861 Alberschwende Was wirklich wichtig ist „Eine Ressource für alle Christen“ Interview mit Linn Tonstad Nr. 13, Seite 3 Die Antwort von Frau Tonstad auf die Frage, was sie von den Diskussionen in der Kirche über queere Themen, zum Beispiel die Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren, hält, finde ich sehr wichtig! Sie sagt u. a.: „Die Tatsache, dass für diesen Kampf (gemeint ist die Auseinandersetzung mit queeren Themen) – von beiden Seiten – so viel Energie aufgewendet wird, ist wirklich bedauerlich.“ Wir Christen haben einen Gott, von dem wir wissen, dass er uns alle liebt. Das ist doch wunderbar! In Details unseres Glaubens haben Christen unterschiedliche Meinungen. Das macht doch nichts! Und wir Christen haben die wichtige Aufgabe, Gottes Liebe zu den Menschen zu tragen; das zeigt sich, wenn wir die Welt zu einem besseren Ort machen. Wenn wir uns für Frieden einsetzen; für eine Umgestaltung der Wirtschaft, dass Mensch und Natur nicht mehr ausgebeutet werden; für Bildung und, und, und. Ich glaube, an diesen Aufgaben sollten wir arbeiten. Das heißt – bildlich gesprochen: Wenn wir in der Pfarre 120 Minuten beraten, dann sollten wir uns nur zehn Minuten mit internen Themen – darunter Queerness – beschäftigen; und 110 Minuten diskutieren wir über die wirklich wichtigen Themen, siehe oben. Damit die Welt besser wird. Damit noch viel mehr Menschen erfahren, wie sehr uns Gott liebt! Wenn wir so handeln, werden wir „zum Salz für die Erde“ und zum „Licht, das allen Menschen leuchtet“, wie es Jesus von uns fordert. Johannes Missoni-Paul 1190 Wien Fastentuch-Ideen Es rottet sich zusammen Von Otto Friedrich, Nr. 13, Seite 1 Ich bin ein großer Freund von Fastentüchern. Ich betrachte es als einen alten österreichischen Brauch, das Altarbild in der Fastenzeit zu verhüllen. Darum gehe ich auch in der Fastenzeit extra in den Stephansdom, um zu sehen, was heuer aufgezogen wird. Jedes Jahr ein anderes Fastentuch ist auch etwas Besonderes. Heuer hat sich leider gezeigt, dass die Auswahl des Fastentuches völlig intransparent und mit ein bisschen zu wenig Fingerspitzengefühl erfolgte. Daher schlage ich zwei Varianten vor, die sich nicht ausschließen: a) Fleckerlteppich Das Fastentuch entsteht aus einem Raster quadratischer Stoff-Flecken. Jede Pfarre gestaltet einen Quadratmeter. Da kann sich die Pfarrjugend einbringen. Der Quadratmeter kann ein bemalter Stoff-Fleck sein oder eine Stoffcollage. Jede Pfarre kann darin ihr wichtiges Thema darstellen bzw. kann es auch Jahre geben, in denen ein Thema für den gesamten Fleckerlteppich festgelegt wird, z. B. „Wider die Gewalt“ (hätte heuer gut gepasst). Die Position des Pfarr- Quadratmeters auf dem gesamten Teppich wird ausgelost. b) Abstimmung Mit der Aussendung des Kirchenbeitrages erhält jeder einen Stimmzettel für die Auswahl aus einem Vorschlag an Entwürfen von Fastentüchern von Künstlerinnen und Künstlern. Im Stephansdom wird eine Box aufgestellt, wo die Stimmzettel eingeworfen werden. So stimmen nur Gläubige ab, die ihre Gebete im Stephansdom darbringen. Wie auch immer, ich freue mich auf das nächste Fastentuch. Bernhard Engelbrecht 1070 Wien RELIGION ■ Notker Wolf (1940–2024) Der Alterzabt von St. Ottilien verstarb während seiner Rückreise von Italien auf dem Weg in sein Kloster. Notker Wolf war einer der bekanntesten Ordensmänner Deutschlands. Von 1977 bis 2000 war er Erzabt von St. Ottilien und damit Abtpräses der Ottilianer Kongregation der Missionsbenediktiner, von 2000 bis 2016 stand er als Abtprimas dem weltweiten Zusammenschluss der benediktinischen Klöster vor. Der Mönch engagierte sich im interreligiösen Dialog und ist Autor zahlreicher Bücher. Er war einer breiten Öffentlichkeit als Gast in Talkshows, streitbarer politischer Denker und als Rockmusiker bekannt. RELIGION ■ Gerhard Lohfink (1934–2024) Der emeritierte Neutestamentler starb im Alter von 89 Jahren. Der Theologe war von 1976 bis 1987 Ordinarius für Neues Testament am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Tübingen. Er schied auf eigenen Wunsch aus dem Universitätsdienst aus, um in der „Katholischen Integrierten Gemeinde“ in München leben und arbeiten zu können. In der umstrittenen und heute aufgelösten Integrierten Gemeinde sah Lohfink die Verwirklichung des Gemeindeideals von Jesus. Von der Bibel her müsse Kirche als „Kontrastgesellschaft“ verstanden werden, schrieb er 1982 in seinem Buch „Wie hat Jesus Gemeinde gewollt“. GESELLSCHAFT ■ Kindergrundsicherung Das Ressort von Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) arbeitet an einem Modell für eine Kindergrundsicherung. Diese könnte neben Geld- auch Sachleistungen, wie eine warme Mahlzeit in Kindergarten oder Schule, beinhalten. Gleichzeitig sagt der Minister im Interview mit der Presse, dass sein Vorschlag mit der ÖVP als Koalitionspartner nicht mehrheitsfähig sei. Die SPÖ Kärnten bot sich an, eine Pilotregion für eine Kindermindestsicherung zu werden. Darüber hinaus fordert Rauch eine Vereinheitlichung der Sozialhilfe, da das System zu komplex und die Unterschiede zwischen den Bundesländern enorm seien. INTERNATIONAL ■ Wegweisendes Klima-Urteil Rund 2000 Schweizer Seniorinnen warfen ihrer Regierung vor, durch mangelnden Klimaschutz ihre Menschenrechte zu verletzen, und zogen deshalb bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser gab ihnen recht und forderte die Schweiz auf, stärkere Maßnahmen zu ergreifen. Zwei weitere Klimaklagen, eine aus Frankreich, eine aus Portugal, wies das Gericht aus formalen Gründen ab. Das aktuelle Urteil bedeutet: Klimaschutz ist ein Menschenrecht. Die Fachwelt sieht darin einen Präzedenzfall für sämtliche Staaten des Europarates und einen „historischen Wendepunkt“ im Kampf gegen die Klimakrise. Spiel-Quittungen, Rubbel- und Brieflose werden zur Eintrittskarte ins Obere und Untere Belvedere. Lotterien Tag am 12. April im Belvedere Wien Das Schloss Belvedere in Wien – ein einzigartiges Ensemble mit zwei barocken Prachtbauten, erbaut im frühen 18. Jahrhundert. Das Obere und das Untere Belvedere inmitten eines weitläufigen Gartens im 3. Wiener Bezirk zählt zu den schönsten Barockbauten der Welt und beheimatet ein international führendes Museum. Die Österreichischen Lotterien ermöglichen ihren Spielteilnehmer:innen im Rahmen eines Lotterien Tages am Freitag, dem 12. April 2024, die weltberühmten Kunstsammlungen im Belvedere kostenlos zu besuchen. Es muss lediglich eine Quittung oder ein Los eines der Spiele der Österreichischen Lotterien vorgezeigt werden. Im Unteren Belvedere gibt es etwa die Ausstellung „In the Eye oft he Storm“ zu sehen, die sich mit derb bewegten und faszinierenden Geschichte der kulturellen Identität der Ukraine beschäftigt. Das Obere Belvedere geht mit „Schau! Die Sammlung Belvedere von Cranach bis EXPORT“ auf die Wechselwirkungen zwischen Kunst und Gesellschaft ein. Beide Häuser können auch im Rahmen von Führungen besucht werden. Von 10.00 bis 12.00 Uhr gibt es auch Rundgänge für blinde und sehbeeinträchtigte Personen bzw. für Menschen mit Demenz oder Vergesslichkeit und ihre Begleitpersonen. Detaillierte Informationen findet man unter lotterientag.at bzw. belvedere.at. Lotterien Produkte öffnen am 12. April die Tür zum Belvedere Museum Wien

DIE FURCHE · 15 11. April 2024 Literatur 17 Von Ingeborg Waldinger Ein „Wald“-Brand der besonderen Art ließ am 15. April 2019 den Atem der französischen Nation stocken. „Wald“, so nennt man den aus Eichenholz errichteten Dachstuhl der Kathedrale Notre-Dame de Paris. Ein dort ausgebrochenes Feuer zerstörte große Teile des Dachs, der einstürzende Spitzturm (la flèche) riss ein Loch in die darunterliegende Gebäudedecke. Die Restaurierung der Kathedrale ist weitgehend abgeschlossen, die Wiedereröffnung findet am 8. Dezember dieses Jahres statt. Zuvor, am 15. April, wird der fünfte Jahrestag der Brandkatastrophe mit einem Te Deum begangen. So symbolstark das Gebäude, so symbolträchtig der Brand. Das gotische Meisterwerk ist – bei allem Säkularismus der Franzosen – auch ein Pfeiler ihrer Identität. Die Rauchschwaden verdeckten kurz den Graben, der die Nation eben durch ausufernde „Gelbwesten“-Proteste entzweite. Frankreich rückte im Schock wieder ein Stück weit zusammen. Noch während das Feuer wütete, sagten die reichsten Familien des Landes Spenden in Höhe von hunderten Millionen Euro zu. Den postwendenden Vorwurf, das viele Geld fließe nur wegen der Steuervorteile, entkräfteten die Geber mit ihrem Verzicht auf Absetzbarkeit. Teil der Geschichte In der Pflicht sah sich auch die Buchbranche. Anthologien zur Kathedrale wurden ediert, Victor Hugos Roman „Notre-Dame de Paris“ (deutsch: „Der Glöckner von Notre-Dame“) neu aufgelegt. Die Erlöse flossen ganz oder teilweise dem Wiederaufbau zu. Seit je würdigen Schriftsteller den Sakralbau als kulturelles Erbe, als Ort poetischer Verzückung, religiöser Erleuchtung oder als Schauplatz großer Dramen. Wir eröffnen unseren Streifzug mit der ausgezeichneten Kulturgeschichte „Notre-Dame. Die Seele Frankreichs“ der Pariser Autorin Agnès Poirier (Insel 2020). Ausgehend von der Brandkatastrophe 2019 rekapituliert Poirier die Chronik, Symbolik und politische Instrumentalisierung der Kathedrale. Seit dem Mittelalter diente sie Frankreichs Königen auch für die Bekundung und Legitimierung ihrer Macht. Ludwig XIII. etwa überantwortete sich und sein Königreich dem Schutz der Heiligen Maria. Eine Skulptur beim Hochaltar von Notre-Dame zeigt ihn in feierlicher Schwurpose vor der Pietà. Selbst der Sturm auf die Bastille wurde mit einem Dankgottesdienst in Notre-Dame gefeiert, ehe es hieß: Marseillaise statt Kirchenlieder, Freiheitsstatue statt Madonna. Aus den Glocken wurden Kanonen, aus Bleisärgen Patronen. Die 28 Statuen an der Fassade (Könige von Israel und Juda) wurden geköpft, da man sie für Könige Frankreichs hielt. Projektionsfläche für Literatur Robespierre weihte die Kathedrale noch seinem diffusen zivilreligiösen Kult des „höchsten Wesens“, ehe Napoleon Bonaparte eine neue Allianz mit der Kirche schloss. 1804 krönte er sich in Gegenwart des Papstes Pius VII. zum Kaiser. Auf den schwarzen Seiten der Kathedralen chronik firmiert indes auch das (gescheiterte) Attentat auf General de Gaulle, als dieser 1944 mit den Parisern die Befreiung der Stadt in einem Dankgottesdienst feierte. Poiriers Panorama schließt mit dem wilden „Fantasierausch“, den Präsident Macron 2019 mit den Worten auslöste, man werde die Kathedrale „schöner als zuvor“ wiederaufbauen. Die literarischen Zeugnisse zu Notre-Dame sind keineswegs nur von basser Ehrfurcht geprägt. François Rabelais entsandte seinen Riesenkönig Gargantua (Roman „Gargantua und Pantagruel“) mit karnevaleskem Gelächter zum Dom. Der wilde Schalk Gargantua wird von seinem Vater zu Studienzwecken nach Paris geschickt. Von den Stadtbewohnern sogleich als eine Art Wundertier verfolgt, hält er kurz Rast auf den Türmen der Kathedrale und bereitet den unten versammelten Gaffern einen kreatürlichen Willkommensgruß – indem er sie flutartig bepisst. Dann entwendet er die großen Glocken, um sie seiner Stute als Schellen umzuhängen. Rabelais stellte die Ordnung auf den Kopf, ließ Volks- und Hochkultur aufeinanderprallen und die Scholastiker ziemlich alt aussehen: Die Rede des Chefphilosophen der Pariser Universität, der von Gargantua die Rückgabe der Glocken fordert, gerät zur köstlichen Gelehrtensatire. 300 Jahre nach Rabelais verfasste Victor Hugo seinen Roman „Notre-Dame de Paris“. Er verlegte die Handlung in das Jahr 1482. In dem schauerromantischen Melodram um den behinderten, entstellten Glöckner Quasimodo und die schöne „Zigeunerin“ Esmeralda wird die Kathedrale zum Symbol eines medialen Paradigmenwechsels. Die Theorie dazu liefert das später hinzugefügte Kapitel „Ceci tuera cela“ (Dieses wird jenes töten): Das gedruckte Buch werde das Buch aus Stein (die Sa kralarchitektur) ablösen. Der Zahn der Zeit, Kriege wie auch die Neuerungssucht unsensibler Architekten hätten die Lesbarkeit der mittelalterlichen Bilderschrift zerstört, so der Autor. Wie auch in seinem Pamphlet „Guerre aux Démolisseurs“ (Krieg den Zerstörern) forderte er den Erhalt des nationalen Architekturerbes ein. „ Seit je würdigen Schriftsteller den Sakralbau als Ort poetischer Verzückung, religiöser Erleuchtung oder als Schauplatz großer Dramen. “ Der große Erfolg seines Romans bewahrte Notre-Dame vor dem endgültigen Verfall. Bürgerkönig Louis-Philippe I. gründete eine Denkmalschutzbehörde. Deren Leiter, der Schriftsteller Prosper Mérimée, beauftragte Eugène Viollet-le-Duc mit der Restaurierung der Kathedrale und anderer Baudenkmäler. Nicht alle goutierten Viollet-le-Ducs Arbeit. Der Vorwurf der neugotischen Fantasterei ist bis heute nicht verhallt. In Émile Zolas Roman „Seine Exzellenz Eugène Rougon“ entflammt Notre-Dame nochmals im Pomp des Zweiten Kaiserreichs. Man zelebriert die Taufe des Sohns von Napoleon III., Minister Ehrfurchtgebietend und symbolträchtig, Politbühne und Kletterspot: Jahrhundertelang war die Pariser Kathedrale Notre-Dame de Paris ein Thema der Literatur. Buch aus Stein Rougon gehört zum erlauchten Kreis der Geladenen. Das Kirchenschiff heizt sich auf zu einem „Glutofen“ aus Purpur und Gold, dessen unterschwelliger Brandgeruch bereits das Ende der Ära erahnbar macht. Der konservative, anti-laizistische Renouveau catholique lässt Notre-Dame wieder als spirituelles Zentrum erstrahlen. Paul Claudel hielt sein dortiges Erweckungserlebnis in „Ma conversion“ fest; Charles Péguy webte eine lyrische „Tapisserie de Notre-Dame“. Der Papst der Dekadenzliteratur, Joris-Karl Huysmans, frönte eher einem ästhetisierenden Katholizismus. Im Essay „La symbolique de Notre-Dame de Paris“ erläuterte er das „Alphabet“ der mittelalterlichen Kunst, in dessen Symbolik, so seine These, das Volk durch den Klerus sehr wohl eingeweiht war. Huysmans warf auch ein Schlaglicht auf die okkulte Zeichenwelt der Pariser Kathedrale. Als Profanisierungsakt neuesten Stils mag die Fassaden akrobatik des Geografen, Alpinisten und Autors Sylvain Tesson anmuten. Sein schmaler Band „Notre- Dame de Paris. O Königin der Schmerzen“ (Friedenauer Presse 2023) versammelt drei Texte. Der erste schildert Tessons Kathedralenkletterei in den 1990er Jahren. Nachts und dunkel gekleidet erklomm er mit Freunden ungezählte Kirchenfassaden. „Prinz der Katzen“ nannten sie ihn. Auf dem Dach von Notre-Dame rezitierten sie Péguys Verse, wenngleich nicht der Theologie wegen. Sie kletterten weder aus intellektuellem Anspruch noch aus Protest, sondern einfach, „weil es schön war“. Mitunter begegneten sie Handwerkern, die im Dachstuhl ihre Arbeit versahen. Im zweiten Text erzählt Tesson von seiner Rehabilitation nach einem schweren Sturz: In zähem Kampf „schraubte“ er sich über die Wendeltreppen der Türme von Notre-Dame, seine „Meditationsspirale“, zu neuer Kraft empor. Der letzte Text entstand in der Nacht des Brandes, der Nacht seiner Bekehrung. Im Bann der „grauenvollen Schönheit“ der Feuersbrunst suchte der Autor nach deren tieferem Sinn: Verweigerte sich die Kathedrale dem „Karneval“, der Hybris unserer Epoche? Nicht nur Sylvain Tesson wagt die läuternde Wirkung des Feuers von Notre-Dame zu bezweifeln. Herz einer Nation Zwischen 1163 und 1345 errichtet, zählt die Kathedrale Notre-Dame de Paris zu den wichtigsten Wahrzeichen Frankreichs. Seit 1991 ist sie als Bestandteil des Seineufers Teil des Welt kulturerbes der UNESCO. Foto: iStock/olrat

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