DIE FURCHE · 15 12 Bildung/Gesellschaft 11. April 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 11 „ Eine authentische Vordenkerin kann einer Theorie ein menschliches Antlitz geben. Doch fällt die Erfinderin von ihrem Podest, so stürzt – oder wackelt – oft auch das Werk. “ die Erfinderin von ihrem Podest, so stürzt – oder wackelt – das Werk. Der Genfer Philosoph und Aufklärer Jean-Jacques Rousseau schrieb Standardwerke über eine neue Form der Erziehung, die Raum für kindliche Neugier schaffte. Gleichzeitig überließ er fünf seiner eigenen Kinder dem Waisenhaus. Und 2018 musste die angesehene deutsche Psychologin Tania Singer ihren Posten als Direktorin des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig räumen. Junge Mitarbeitende hatten ihr schweres Mobbing vorgeworfen. Das pikante Detail: Singers Forschung drehte sich um Empathie. Wen Seichters Ausführungen überzeugen, der muss sich fragen: Wie viel Montessori steckt heute in Montessori? Wie viel haben die Haltungen der Maria Montessori mit den über 60 Kleinkindgemeinschaften, Kinderhäusern und Schulen zu tun, die sich vor allem in Wien und Westösterreich befinden? Stefan T. Hopmann kritisiert die moderne Montessori-Pädagogik als elitär, aber er betont auch, dass sie „Gott sei Dank (…) nicht annähernd so totalitär wirkt, wie sie gedacht sein kann“. Gleichzeitig, so der Bildungsforscher, könne man nicht ausschließen, dass die höchstproblematischen Thesen der Übermutter in der Praxis Konsequenzen hätten. Die Namensidentität von Person und Methodik macht Margit Ehrenhöfer besuchte 2022 eine Montessori- Schule in Wien. Lesen Sie ihre Reportage auf furche.at. es der Montessori-Pädagogik besonders schwer. Montessori ist eine – wenn auch nicht geschützte – Marke. Ist der erzieherische Zugang ohne das Label überhaupt denkbar? Romana Fitz sagt, man habe auch im Montessori Verein Wien über dieses Thema diskutiert. Der Verein möchte die Montessori-Pädagogik auch im öffentlichen Kindergarten- und Schulwesen ermöglichen. Vieles, was Montessori entwickelt und aufgeschrieben habe, habe nach wie vor große Gültigkeit, sagt Fitz. Das Verständnis von Lernen als aktivem, vom Kind gesteuertem Prozess gehe auf Montessori zurück. Die Theoretikerin „plötzlich nicht mehr benennen zu können“, wäre schwierig. Sich mehr oder sogar ganz von Maria Montessori zu emanzipieren, sei „eine interessante Überlegung, die noch nicht fertiggedacht ist“. Die von Seichter kritisierte Verherrlichung Montessoris findet auch Fitz schwierig, gleichzeitig sei eine derartige Heldinnenverehrung die Ausnahme. In der Montessori-Vereinigung liege der Fokus auf den „ Leben und Werk der Maria Montessori ins rechte Licht zu rücken, ist wichtig. Was das für die Umsetzung der Lehre bedeutet, ist aber noch unklar. “ fachdidaktischen und bildungswissenschaftlichen Entwicklungen, die es in den letzten Jahrzehnten in der Montessori- Pädagogik gegeben habe. Sie unterstreicht den kindzentrierten Fokus der Montessori-Pädagogik: „Was braucht das Kind dort, wo es jetzt gerade ist, um sich entfalten zu können?“ Nicht die Erwachsenen würden bestimmen, in welcher Reihenfolge oder Geschwindigkeit Aufgaben erledigt würden, sondern das Klein- oder Schulkind oder der Jugendliche. Fitz hat also kein Problem damit, Montessori kritisch unter die Lupe zu nehmen: Ihre Nähe zu Mussolini sowie ihre Überzeugung, dass physiologische Merkmale Indikatoren für Intelligenz oder Moral seien, seien aus heutiger Sicht klar abzulehnen. Raus aus der „Lernfabrik Gymnasium“ Heinz Schlömmer ist geprüfter Montessori-Pädagoge und arbeitet als Lehrer und Koordinator des Montessori-Zweiges an der öffentlichen Mittelschule St. Peter in Klagenfurt. Er sieht sich nicht als „Montessori-Jünger“ und kritisiert jene Pädagogen, die ihre Lehren „unhinterfragt und dogmatisch“ umsetzen. Ob Maria Montessori ein schwieriger Mensch gewesen sei, könne er nicht sagen, vermutlich jedoch ein „sehr konsequenter und von seiner Sache überzeugter“. Auf jeden Fall sei „vieles, was sie sich überlegt und entwickelt hat, enorm klug und vor allem an der menschlichen Natur orientiert“. Seine eigene Neugier und Wissbegier habe „die Lernfabrik Gymnasium – eine sogenannte humanistische Bildungsstätte – seinerzeit jedenfalls geraubt“. Maria Montessori ist, je nach Sichtweise, eine überzeugte Eugenikerin und Opportunistin – oder zumindest jemand, der die Hilfe Mussolinis dankend annahm und sich nicht genug von diskriminierendem Gedankengut distanzierte. Auf der anderen Seite steht eine Pädagogik, die die Erfinderin hochhält, sich aber auch seit deren Tod 1952 auf vielfache Weise weiterentwickelt und modernisiert hat. Das Leben und Werk von Maria Montessori ins rechte Licht zu rücken, ist wichtig. Was diese Erkenntnisse für die heutige Montessori- Pädagogik bedeuten, ist aber eine andere – noch unbeantwortete – Frage. Der lange Schatten Maria Montessoris Der Traum vom perfekten Kind Von Sabine Seichter Julius Beltz 2024 195 S., geb., € 29,95 Wochenausblick DIE FURCHE nimmt in den kommenden Ausgaben diese Themen in den Fokus: Gedankenraub Nr. 17 • 25. April Von KI-Kunst bis Gen-Daten: Das 21. Jahrhundert revolutioniert die Definition von „geistigem Eigentum“ und stellt an Juristen, Philosophen und Datenschützer spannende – und beunruhigende – Fragen. Liebe ohne Romantik Nr. 20 • 16. Mai Sind Freundinnen und Freunde die wahren Seelenverwandten? Während Medien und die Gesellschaft romantische Liebe glorifizieren, finden viele Menschen Erfüllung und Verbindlichkeit in platonischem Miteinander. Kaputte Demokratie Nr. 23 • 6. Juni Die EU-Wahl bildet den Auftakt für ein Superwahljahr, in dem nicht nur Parteien auf dem Prüfstand stehen, sondern das ganze politische System. Die Demokratie muss sich einer ernsthaften Selbstkritik unterziehen. Die europäische Idee Nr. 18 • 2. Mai Am 5. Mai 2024 feiert der Europarat sein 75-jähriges Bestehen – ein Dreivierteljahrhundert Arbeit für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Auftakt einer FURCHE-Serie zur EU-Wahl. Schreckgespenst AfD Nr. 21 • 23. Mai Auch Deutschland kippt längst nach rechts – und die Lage wird sich zuspitzen, wenn gewichtige Wahlen im Osten anstehen. Die AfD greift in Brandenburg, Sachsen und Thüringen nach der Macht. Was sind die Folgen? Wallfahrten Nr. 24 • 13. Juni Neben den traditionellen (und neuen) Pilgerwegen begeben sich heute immer mehr Menschen auf Reisen „in Gottes Namen“. Ist es die Sehnsucht nach einem spirituellen Wegweiser, der die Touristen antreibt? Wilde Delikatessen Nr. 19 • 8. Mai Das Interesse an Wildpflanzen boomt: In der Volksmedizin sind viele als Heil-, Gift- und „Kraftpflanzen“ bekannt. Über das sinnliche Projekt des „essbaren Gartens“ und die Wiederentdeckung eines alten Wissensschatzes. Franz Kafka Nr. 22 • 30. Mai Vor 100 Jahren, am 3. Juni 1924, starb in Kierling bei Klosterneuburg einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Die Wirkungen seines Werks auf Lesende, Schreibende, Kunstschaffende sind enorm. Die Kunst des Streits Nr. 25 • 20. Juni Ein Wahlkampfsommer in einer ohnehin stark polarisierten Gesellschaft steht an. Konflikte aufgrund politischer Meinungsverschiedenheiten drohen auch im persönlichen Leben. Wie können wir zivilisiert streiten? Jeden Mittwoch und Freitag! Nichts mehr verpassen – Newsletter abonnieren Überflieger Nr. 26 • 27. Juni Sommer, Ferien, Urlaub: Flugreisen boomen nach der Corona-Zwangspause mehr denn je. Flugscham scheint vergessen, die Klimakrise verdrängt. Welche Möglichkeiten gibt es, Fliegen und Nachhaltigkeit zu verbinden? Änderungen aus Aktualitätsgründen vorbehalten. Der Provokateur Nr. 27 • 4. Juli Am 1. Juli 2024 übernimmt Ungarn die EU- Ratspräsidentschaft. Das Land wird seit Jahren vom Anti-Europäer Viktor Orbán regiert. Für die einen ein Vorbild, ist er für die anderen eine Gefahr für den Zusammenhalt in der EU. Jetzt anmelden furche.at/newsletter Altern und Eltern Nr. 28 • 11. Juli Über wenige Themen streitet es sich so gut wie über Erziehung, gerade mit den eigenen Eltern. Wie erziehen Boomer, wie Millennials? Dürfen Oma und Opa Erziehungstipps geben? Sind Großeltern gar die besseren Eltern?
DIE FURCHE · 15 11. April 2024 Chancen 13 Von Manuela Tomic Vergangenes Jahr dominierte ein Bild die Öffentlichkeit, wenn es um Klimaschutz ging: junge Menschen, die mit ihren Händen auf Straßen kleben. Hinter ihnen eine tobende Menge, ein langer Stau und Polizisten, die vor den Demonstranten hocken und versuchen, den Superkleber vom Beton zu lösen. Die Umweltschützer der „Letzten Generation“ haben es mit ihren medienwirksamen Aktionen geschafft, über das gesamte Jahr auf die Gefahr des Klimawandels hinzuweisen. Das Kleben habe jetzt ein Ende, das verkündeten die Aktivisten Anfang dieses Jahres. Sie möchten weiterhin Protest üben und sich inhaltlich einbringen. Die „Letzte Generation“ wird dieses Jahr keineswegs von den Bildschirmen verschwinden. Ihre Aktionen brachten ihnen viel Kritik ein. Und das sogar aus den vermeintlich eigenen Reihen. Die Umweltschützer „Fridays for Future“ und die Grünen in Deutschland warfen ihnen vor, „selbstgerecht und elitär“ zu sein und die Umweltbewegung zu spalten. Schaden die Vertreter der „Letzten Generation“ der Bewegung also mehr, als dass sie ihr nützen? Und wenn ja, wie kann die Zukunft des Klimaaktivismus aussehen? Die Wissenschafterin Hannah Ritchie forscht an der Universität Oxford zur globalen Entwicklung und hat ein Buch geschrieben, das viele Menschen ihrer Generation, sie ist Jahrgang 1993, aufrütteln wird. Der Name der Aktivistengruppe „Letzte Generation“ impliziere, dass unser nicht nachhaltiger Lebensstil zu unserer Auslöschung führen werde. Doch das sei falsch, schreibt Ritchie in ihrem neuen Buch „Hoffnung für Verzweifelte“ (Piper). „Ich denke, dass wir die erste Generation sein könnten. Wir haben die Chance, die erste Generation zu sein, die die Umwelt in einem besseren Zustand zurücklässt als der, in dem wir sie vorfanden.“ Doch Ritchie belässt es nicht bei optimistischen Sätzen. In ihrem 400-Seiten-Buch zeigt sie anhand unzähliger Studien, Daten und Fakten, was sich in Sachen Umwelt in den letzten 10.000 Jahren verbessert hat, und sie definiert, was sich mit modernster Technologie noch verbessern lässt. Fossile Brennstoffe oder Armut So werde Luftverschmutzung etwa mit der modernen Welt und der Industrialisierung assoziiert. Doch unsere Vorfahren haben nie nachhaltig gelebt, weil sie schlichtweg nicht die Wahl hatten, erklärt die Forscherin. Für sie hieß es: Holz, fossile Brennstoffe oder arm bleiben. So schrieb schon der Philosoph Seneca, den Ritchie anführt, über die Verschmutzung im alten Rom: „Sobald ich der drückenden Atmosphäre der Stadt und dem schrecklichen Geruch der stinkenden Küchen entkommen war, die, wenn sie in Betrieb sind, ein verderbliches Durcheinander von Dampf und Ruß ausstoßen, merkte ich, dass sich mein Gesundheitszustand verbesserte.“ Heute ist die Luft an vielen Orten der Welt die Luft so sauber wie seit Tausenden von Jahren nicht, erklärt Ritchie. Erneuerbare Energien, mit denen man nun kohlenstoffarme Alternativen hat, deuten darauf hin, dass sich bis zur Mitte des Jahrhunderts vieles verbessern wird. Künftig müsse man zusehen, dass Menschen keine Nutzpflanzen und fossilen Brennstoffe Hannah Ritchie, Jahrgang 1993, ist Senior Researcher im Programm für globale Entwicklung der Universität Oxford. Sie publiziert regelmäßig in internationalen Medien wie New York Times, New Scientist, Economist und Financial Times. Foto: Angela Catlin / Piper Verlag Foto: Canva Wer Trost sucht, wird bei der Wissenschafterin Hannah Ritchie fündig. Wer Lösungen sucht, auch. In ihrem neuen Buch weist sie den Weg in eine positive Klimazukunft – ganz ohne Untergangsszenarien. Aufmunterung für Klimapessimisten Lesen Sie dazu das Gespräch mit dem Klimapsychologen Thomas Brudermann „Wir müssen vorangehen“ (16.8.2023) auf furche.at. mehr verbrennen, dass Industrieanlagen reglementiert werden und sich Städte auf saubere öffentliche Verkehrsnetze konzentrieren. Und diese Veränderungen können schnell erfolgen. So habe ausgerechnet der Klimasünder China seine Luftverschmutzung in nur sieben Jahren fast um die Hälfte reduziert. Natürlich gebe es noch viele Probleme zu lösen, doch wenn ärmere Länder direkt zu den besten Methoden übergingen, ohne auf dem Weg dorthin fossile Brennstoffe zu verbrennen, dann wäre das ein Beschleuniger für eine bessere Luftqualität. Reiche Länder in die Pflicht nehmen Ritchie weist auch darauf hin, dass eine Veränderung unseres Lebenswandels große Auswirkungen auf gleich mehrere Bereiche haben kann. Weniger Rindfleisch zu essen sei klimafreundlich, reduziere die Abholzung und Landnutzung und betreffe auch die Themen Artenvielfalt und Wasserverschmutzung. Stichwort Fleischkonsum: Hier fordert die Autorin ein radikales Umdenken. So werde etwa alles, was künstlich hergestellt werde, als ungesund oder umweltbelastend angesehen. Doch gerade Fleischersatzprodukte ließen sich umweltschonend produzieren, und dafür müsse man keine Tiere schlachten. In Zukunft müsse es aber noch vermehrt darum gehen, die Produkte nahrhaft und möglichst günstig herzustellen. „In fünfzig Jahren werden wir nicht mehr die Hälfte der weltweiten Fläche für den Anbau von Nahrungsmitteln nutzen oder jedes Jahr Milliarden von Tieren züchten und schlachten, um uns zu ernähren. Auf einem Planeten, der sich nicht selbst verschlingt, kann die gesamte Weltbevölkerung satt werden“, schreibt Ritchie. Klug und pointiert erklärt die Wissenschafterin in ihrem Buch aber auch, dass politische Eingriffe viel mehr nützen als ein persönlicher Lebenswandel. Die Verantwortung für den Klimawandel an den Einzelnen oder die Einzelne abzugeben, kann also nicht die Lösung sein. So hat etwa US-Präsident Richard Nixon in den 1970er Jahren die heute so wichtige US-Umweltschutzbehörde eingerichtet und den „Clean Air Act“ sowie den „Clean Water Act“ unterzeichnet, um für bessere Luft und saubere Flüsse zu sorgen. „Diese Maßnahmen haben den Naturraum verändert und viele Menschen vor giftiger Verschmutzung bewahrt“, schreibt Ritchie, „man wäre niemals zu diesem Ergebnis gekommen, wenn die gesamte Bevölkerung erst nach und nach ihr Verhalten geändert hätte – zumindest nicht so schnell.“ Ritchies Buchtitel „Hoffnung für Verzweifelte“ hält, was er verspricht. Das Buch zeigt aber auch, wie leicht sich manche Probleme lösen ließen, wenn politische Entscheider Geld in die Hand nähmen. So sei etwa Plastikverschmutzung jenes Problem, das sich am besten angehen lasse. Jedes Jahr strömt eine Million Tonnen Plastik ins Meer. Wenn man in Abfallentsorgungssysteme investieren würde, könnte dem ein Ende gesetzt werden. Hier sieht Ritchie die reichen Länder in der Pflicht. Diese haben als Hersteller und Handelspartner von Ländern mit niedrigem Einkommen die Pflicht, Mülldeponien und Recyclingzentren zu errichten. Selbstverständlich lassen sich nicht alle Pro bleme so einfach lösen. Ritchies Buch zeigt aber, dass Umweltverschmutzung kein neues Phänomen ist und sich mit neuesten Technologien vieles zum Besseren entwickeln kann – ganz ohne Untergangsszenarien. „ Wir haben die Chance, die erste Generation zu sein, die die Umwelt in einem besseren Zustand zurücklässt als der, in dem wir sie vorfanden. “ Hoffnung für Verzweifelte Wie wir als erste Generation die Erde zu einem besseren Ort machen Von Hannah Ritchie Piper 2024 384 S., geb., € 23,50 VORSORGE & BESTATTUNG 11 x in Wien Vertrauen im Leben, Vertrauen beim Abschied 01 361 5000 www.bestattung-himmelblau.at wien@bestattung-himmelblau.at
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