DIE FURCHE · 15 10 Religion 11. April 2024 Er war Priester und Orientalist, kaisertreuer Österreicher – und fühlte sich nach dem Ersten Weltkrieg in Wien verfemt, sodass er in Prag lehrte und vor allem auf Tschechisch publizierte. Zum 80. Todestag Alois Musils, damals berühmter, heute unbekannter Kenner des Orients. Scheich aus Österreich Von Dietmar W. Winkler GLAUBENSFRAGE Gott sei Dank Alois Musil, 1868–1944 Der katholische Priester aus Mähren war Professor an den Unis Olmütz, Wien und Prag. Als einziger Europäer wurde er Mitglied des Beduinenstamms der Rwala. Vor 80 Jahren, am 12. April 1944, verstarb eine der schillerndsten Forschergestalten Österreichs. Der fast vergessene Alois Musil hinterließ ein umfassendes wissenschaftliches Werk und war einer der bekanntesten Orientkenner Europas. Ich betrat Gebiete, welche noch von keinem Europäer besucht wurden. Den ganzen Tag geistig und physisch arbeitend – an manchen Tagen bis 14 Stunden fußwandernd, zerrissen, schmutzig voll von Ungeziefer der schlimmsten Art ... In Abde kroch ich hinauf zu einer wichtigen Inschrift. Nachdem ich abgeklatscht und abgeschrieben hatte, stürzte der Turm ein, und riesige Blöcke wälzten sich herunter – nie habe ich den Tod näher gesehen. Ich empfahl meine Seele Gott und klammerte mich an einen Eckstein, stürzte mit ihm etwa 76 Meter tief und entkam mit blutigen Händen und Füßen, aber mit ganzen Knochen. Aber größer war mein Seelenleiden, als man mich in el- Arab überfallen, mir Revolver, Geld und vier Hefte mit ethnografischen Notizen geraubt hatte. Die Hälfte der Ergebnisse einer 30-tägigen Arbeit war verloren. Das schrieb Alois Musil 1902 an die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften. Der Grenzgänger zwischen Religionen, Kulturen und Wissenschaften war katholischer Priester, Kartograf, Orientalist, Arabist, Ethnologe, Epigrafiker, k. k. Generaloberkriegsrat im Ersten Weltkrieg, Beduinenscheich, Österreicher und Tscheche. Der Gelehrte legte im Laufe seiner Orientexpeditionen über 16.000 Kilometer auf dem Kamelrücken zurück und erbrachte neben einer Fülle an wissenschaftlichen Arbeiten die größte Materialiensammlung zur Ethnologie, Geografie und Geologie des nordarabischen Raumes. Er entdeckte die Wüstenschlösser der Foto: picturedesk.com / dpa Picture Alliance / EW Omajaden, kartografierte erstmalig bisher von keinem Europäer bereiste Gebiete zwischen dem Roten Meer und Mesopotamien mit erstaunlicher Präzision und schuf ein ethnografisches Standardwerk zu den Beduinen Arabiens. Musil stammte aus bescheidenen Verhältnissen und wurde 1868 in Mähren in eine Kleinbauernfamilie als eines von fünf Kindern geboren. Das harte Leben am Gott sei Dank feiern wir so viel Gutes in diesen Tagen, Ostern von einem zum anderen, darin das Zuckerfest und alle die persönlichen Freuden auch – inmitten. Es gibt sie! Kommt hiervon ein Licht in unser Denken? „Mit stärkstem Licht“, wusste Kafka, könne man „die Welt auflösen“, die falsch gedachte, die Leben zertrümmert. Gott sei Dank hat Paul Tillich Kant gut gelesen und uns mit seiner Freude über das „Unbedingte“ bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrtausends hinüber gerettet, also eschatologisch urweit katapultiert in das freieste, tiefste Vertrauen als in die Liebe zur Religion, die an den Menschen glaubt. So sei wirklich in allen Menschen „irgendeine Metaphysik zu aller Zeit gewesen und wird auch immer darin bleiben“, hatte Kant erkannt und das den Menschen auf diese Weise Erlösende. Nur in diesem Unbedingten finden unsere Fragen, so meine ich mit Kant und Tillich, ihr letztes, ihr lichtgültiges Zuhause. Ich finde überdies, wir müssen die Feste feiern, wie sie fallen. Denn Gott sei Dank haben wir in Tagen wie diesen so eine Art freies, unbedingtes Fest, das Drei-Mal-Heilig des Buchstabens K. Das dritte K gehört Karl Kraus, der ja leicht fatalistisch und unverwundert über die Menschen dachte. „Der Mensch denkt, aber der Nebenmensch lenkt.“ Dass es gesehen wird, ist ein ganz eigener Trost durch wenige Worte. Und wir wissen ja, wie viele Nebenmenschen sich für „Übermenschen“ halten. Was aber nun das eigentliche Leben betrifft, sind wir alle gleich, Netanjahu, Putin, Trump und die Eintagsfliege, die sie und wir alle sind. Da wir aber etwas gut können, werden wir erkennbar in Eigentlichkeit. Als Menschen, die eine Religion mit allen Religionen leben gegen das gestohlene Brot und die Spiele des Todes, weil sie das ganze Leben wiederfinden im Unbedingten. Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i. R. Von Ines Charlotte Knoll Hofe und die Mitarbeit in der Landwirtschaft bereiteten ihn darauf vor, die späteren Strapazen seiner Forschungsreisen, Malaria inklusive, auszuhalten. Die Förderung des Olmützer Erzbischofs Theodor Kohn ermöglichte ihm ein postgraduales Bibelstudium in Jerusalem und Beirut. Damals teilte Musil den Optimismus, biblische Erzählungen archäologisch nachweisen zu können. Bald lenkte er aber den Blick auf die arabische Welt. Musils große Orientforschungsreisen erstreckten sich über zwei Jahrzehnte. Das Arabische wurde seine zweite Muttersprache. So konnte er mit Hilfe befreundeter Beduinen 1898 das noch unentdeckte Omajadenschloss Qusair Amra besichtigen: „Ich betrete es: überrascht sehe ich an den Wänden Spuren von Malereien, ich durcheile die wenigen Räume, alle sind mit Wandgemälden geschmückt.“ Da Feinde gemeldet wurden, musste Musil rasch flüchten; eine fotografische Aufnahme gelang ihm noch, allerdings verlor er die Fotoplatte auf der Flucht. Zu Hause schätzte man ihn als Hochstapler ein. Die Enttäuschung war groß, und Musil musste wieder als Katechet aufs mährische Land. Am Wiener Militärgeographischen Institut erlernte er die Grundbegriffe der Kartografie und Vermessung. Da er keine Finanzierung mehr bekam, machte er sich 1900 allein in die Wüste nach Ost-Edom auf. Er erreichte erneut Qusair Amra und konnte endgültig den Beweis von der Existenz dieses früharabischen Bauwerks erbringen. Die reich bemalten Wände stellen auch Menschen dar und widerlegen das bis dahin postulierte Bilderverbot des Islam. Musils Forschungsergebnisse und die zuverlässigen Karten der durchwanderten Gebiete brachten ihm nun die Anerkennung der wissenschaftlichen Fachwelt. „ Alois Musil geriet als Verlierer der Geschichte in Vergessenheit. Sein bis zur Lebensgefahr gehender Einsatz für Österreich- Ungarn blieb unbelohnt. “ Der zum Professor für Biblische Hilfswissenschaften und Arabische Sprache an der Universität Wien berufene Musil brach in der Folge zu längeren Aufenthalten zwischen Palästina, Nordarabien, Hedschas, dem Eu phrat und Südostmesopotamien auf. Er erforschte erstmalig die Wüste Inner arabiens, und es entstand die große kartografische Arbeit „Arabia Petraea“. Sein Arbeitspensum war unglaublich. Karten mit geografischen Namen wurden angelegt, Inschriften abgeklatscht, Materialien für die Forschung zu Hause gesammelt. Topografische Reiseberichte zeigen minutiöse Aufzeichnungen, die sich zugleich wissenschaftlich präzise wie abenteuerlich lesen. Musil wurde als einziger Europäer vollwertiges Mitglied eines Beduinenstammes, der Rwala. Er erhielt die Würde eines Scheichs, was ihm in gefährlichen Situationen das Leben rettete. Fast ein Jahr begleitete Musil den größten Beduinenstamm Nordarabiens auf seinen Wanderungen. Seine Aufzeichnungen führten zu einem kolossalen kultur-ethnografischen Standardwerk über die Sitten und Gebräuche der Beduinen, das 1928 in New York erschien. Gegenspieler von T. E. Lawrence Musil hatte seit 1912 gute Kontakte zum österreichischen Kaiserhaus, die im Ersten Weltkrieg Österreich-Ungarn hilfreich werden sollten. Seine Freundschaft mit den Arabern führte 1914/15 zu einer Mission, um zwischen den verfeindeten Beduinenstämmen zugunsten der Mittelmächte zu vermitteln. Alois Musil wurde daher auch als indirekter Gegenspieler des britischen Spions und Offiziers T. E. Lawrence bezeichnet. Dieser wurde im cineastischen Wüstenepos „Lawrence von Arabien“ (1962) mit viel legendenhaftem Material heroisiert. Allerdings bemerkte schon die New York Times 1928, nachdem Musils ethnografisches Hauptwerk auf Englisch erschienen war, dass das Gold und Dynamit, das Oberst T. E. Law rence kübelweise in den arabischen Sand gesetzt habe, keine Spuren hinterließen, während Musils wissenschaftliche Arbeiten Bestand haben werden, denn diese haben den Horizont der Menschheit erweitert und die Welt bereichert. Alois Musil geriet aber als Verlierer der Geschichte in Vergessenheit und wird erst heute wieder entdeckt. Sein bis zur Lebensgefahr gehender Einsatz für Österreich-Ungarn blieb unbelohnt. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie wurden alle nichtdeutschen Beamten aus dem Staatsdienst entlassen. Musils Wiener Kollegen setzten sich vehement für ihn ein, und seine Entlassung wurde auch ausdrücklich zurückgenommen. Aber der vielausgezeichnete Musil war zutiefst gekränkt. Er schrieb kaum mehr auf Deutsch, nahm eine Professur an der Prager Karls universität an und begründete die Orientalistik im neuen tschechoslowakischen Staat. Ein großer Teil von Musils in den 1930er Jahren verfassten Artikel – wie z. B. zur aktuellen Entwicklung im Orient – wurde auf Tschechisch publiziert. Der Autor ist Dekan der Kath.- Theol. Fakultät der Uni Salzburg. Am 9.9.1971 würdigte Willy Lorenz Alois Musil in der FURCHE, nachzulesen unter „Der andere Musil“ auf furche.at.
DIE FURCHE · 15 11. April 2024 Bildung/Gesellschaft 11 Von Magdalena Schwarz Schon 2022 machte der Bildungswissenschafter Stefan T. Hopmann in seinem FURCHE-Artikel „Wie faschistisch ist Montessori?“ auf rassistische Untertöne im Werk der Ärztin und Biologin Maria Montessori aufmerksam. So pflegte die italienische Pionierin der Reformpädagogik einen freundschaftlichen Austausch mit dem Diktator Benito Mussolini. Der Nationalist profitierte davon, dass sie seinem brutalen Regime ein „freundlicheres Gesicht“ verlieh. Die Wissenschafterin wiederum konnte ihre Pädagogik nach internationalen Erfolgen endlich auch in Italien verbreiten. Hopmann beleuchtet mehrere beunruhigende Schnittmengen zwischen den Weltanschauungen Mussolinis und Montessoris, wie ihr Glaube an eine „triumphierende Rasse“ oder die Abneigung gegen „intellektuell und moralisch Schwachsinnige“ – wie die dottoressa es formulierte. Die Ärztin lobte und schmeichelte Mussolini in privaten Korrespondenzen wie auch bei öffentlichen Auftritten. Schlussendlich brachten Uneinigkeiten über Postenbesetzungen im Bildungsministerium das Zerwürfnis zwischen dem Diktator und der Ärztin. Die Schließung der Montessori- Akademie in Rom folgte kurz darauf. Später habe die Biologin diesen Umstand genutzt, so Hopmann, um sich als Opfer des Faschismus zu inszenieren. Unwissende „Schäfchen“? Anfang des Jahres veröffentlichte nun die Salzburger Bildungswissenschafterin Sabine Seichter ihre umfangreich Montessori-Quellenarbeit. Unter dem Titel „Der lange Schatten Maria Montessoris“ beschreibt sie systematisch und ausführlich deren abfällige Bemerkungen über Kinder mit intellektuellen Beeinträchtigungen, das Naheverhältnis zu Mussolini und die für ihre Zeit leider typischen, aber deshalb nicht entschuldbaren rassistischen Annahmen über Anthropologie und Genetik. Leider belegt Seichter ihre Analysen kaum mit kompletten Zitaten aus Montessoris Originalwerk, sondern referenziert fast ausschließlich einzelne Wörter oder Satzteile. Das macht ihre Argumentation für Leserinnen und Leser intransparent. Eines von vielen Beispielen: „Während das Kind einerseits der ‚verborgenen Führung‘ seiner Natur zu folgen hat, wird es andererseits und quasi zusätzlich – vor allem in den ersten sechs Lebensjahren – von einem ‚Herdentrieb‘ gelenkt und gesteuert.“ Auch der passagenweise zynische Unterton Seichters, der mit Blick auf die teils schockierenden Aussagen Montessoris gar nicht nötig gewesen wäre, ist schwer zu leugnen. So kommentiert die Bildungswissenschafterin abschätzig, dass die heute tätige Montessori-Gesellschaft unter anderem für die „Akquirierung weiterer Schäfchen“ sorge. Unabhängig von ihren eigenwilligen Zitiergewohnheiten und einer unleugbaren Süffisanz liefert Seichter – wie auch schon Hopmann – eine dringend notwendige historische Kontextualisierung und trägt so Foto: Getty Images / Hulton Archive / Picture Post / Kurt Hutton Faschistisch, rassistisch, opportunistisch: Ein neues Buch wirft einen Schatten auf Maria Montessori, eine Ikone der Reformpädagogik. Wo verläuft die Grenze zwischen Wissenschafterin und Werk? Montessori ohne Maria maßgeblich zur Entmystifizierung einer der zentralen Figuren der Reformpädagogik bei. Darüber hinaus bringt sie eine Debatte rund um die dottoressa in die breite Öffentlichkeit, die bisher eher auf akademische Nischen beschränkt war. „Dass wir jetzt wieder über diese Abgrenzungen von dem Rassismusvorwurf nachdenken, die wir in der Ausbildung ohnehin thematisieren und die zweifelsohne notwendig sind, das kann man dem Buch vielleicht wieder zugutehalten“, sagt auch Romana Fitz, die Obfrau der Montessori Vereinigung Wien. Die „fragwürdige wissenschaftliche Vorgehensweise“ und den Rundumschlag gegen Montessori-Pädagogen als „naive Anbeter“ sehe sie aber skeptisch. Der Montessori Österreich Bundesverband reagierte in einer öffentlichen Stellungnahme auf Seichters Publikation. Montessori sei von Mussolini „umworben“ worden und habe lediglich die Gelegenheit genutzt, „die italienische Schule nach ihrer Pädagogik“ zu gestalten. Der Verband ergänzt allerdings, dass Montessori vielleicht zu Recht vorzuwerfen sei, dass sie sich „von fragwürdigen Tendenzen nicht dezidiert abgegrenzt“ habe. Imageschaden Bildungswissenschafter kritisieren Montessoris Nähe zu Mussolini und rassistische Untertöne in ihren Werken. Sollte sich die „Marke Montessori“ von ihrer problematischen Gründerin emanzipieren? „ Hopmann zeigt Schnittmengen zwischen Mussolini und der Dottoressa, wie ihr Glaube an eine ‚triumphierende Rasse‘. “ FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE Lesen Sie auch Stefan T. Hopmanns Text „Wie faschistisch ist Montessori?“ auf furche.at. Seichter kritisiert nicht nur Maria Montessori, sondern auch ihre heutige „Jüngerschaft“ sowie den Personenkult rund um den Mythos und die Marke Montessori. So schreibt sie: „Zu Montessoris jahrzehntelangem und bis heute anhaltendem weltweitem Erfolg gehört gewiss auch […] die gleichermaßen unbedingte, unwissende und kritiklose Gefolgschaft ihrer Anhänger, und das sowohl auf Seiten der pädagogischen Wissenschaft als auch in der erzieherischen Praxis.“ Die problematischen Aspekte an Maria Montessoris Denken und Leben würden laut Seichter von heutigen Praktikern regelmäßig tabuisiert. Montessori würde bis heute „von ihren Anhängerinnen unhinterfragt verehrt, bedingungslos angebetet und nach wie vor zu einer pädagogischen Ikone stilisiert“. Der tiefe Fall von Wissenschaftshelden Glorifizierung existiert nicht nur in Unterhaltung, Kunst, Sport und Politik, auch in der Wissenschaft gibt es Göttinnen und Götter. Charles Darwin hatte seine Verehrer, genauso wie Sigmund Freud oder Simone de Beauvoir. Die Verbindung von Erfinder und Erfindung bringt Vor- und Nachteile. Der Kult um eine Person kann einer wissenschaftlichen Theorie zu Erfolg verhelfen, indem er dem Abstrakten ein menschliches Antlitz gibt. Stimmen die Werte und die Lebensführung der Denkerin oder des Denkers mit ihren Theorien überein, dann kann eine symbiotische Beziehung entstehen. Ein Beispiel: Die Erlebnisse des österreichischen Holocaust-Überlebenden, Neurologen und Psychiaters Viktor Frankl verliehen seiner Logotherapie und Existenzanalyse zusätzliche Überzeugungskraft. Das Risiko: Fällt Geld, das dem Leben dient „Ich wünsche mir, dass viele Menschen dank dieser Investments ihr Leben aus eigener Kraft zum Besseren wenden können.“ www.oikocredit.at 01 / 505 48 55 © On Air Studios Michaela Schausberger unterstützt Oikocredit Hinweis: Werbeanzeige von Oikocredit, EDCS U.A., Verkaufsprospekt samt allfälligen Nachträgen abrufbar unter www.oikocredit.at
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