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DIE FURCHE 11.01.2024

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DIE FURCHE · 2 2 Das Thema der Woche Vom Süden aus gesehen 11. Jänner 2024 AUS DER REDAKTION Was steht nicht alles an, im kommenden Jahr: Wahlen in den USA, in Russland, in der EU und nicht zuletzt in Österreich. Was sich weiter südlich abspielt, haben wir meist nicht so sehr am Schirm. Und noch weniger, wie man aus südlicher Perspektive die Welt an sich betrachtet. In unserem Fokus „Vom Süden aus gesehen“ hat Brigitte Quint drei in vielerlei Hinsicht horizonterweiternde Stimmen eingeholt – als letzte Folge unserer Reihe über die politischen Himmelsrichtungen. Neue Dimensionen, wenn auch deutlich anderer Art, hat auch der Signa- vulgo Benko- Skandal offenbart. Wilfried Stadler zieht im Journal eine Zwischenbilanz. Einen Blick zurück beziehungsweise in die Bibel unternimmt der Kompass – mit Beiträgen zur aktuellen Debatte über die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare (die auch Otto Friedrich im Leitartikel kommentiert) beziehungsweise zur historisch prägenden Nahost-Reise von Papst Paul VI. vor 60 Jahren. Wie prägend zu viel Digitales auch und besonders für Kinder ist, erklärt der bekannte Psychiater Joachim Bauer im Interview mit Martin Tauss. Im Feuilleton finden Sie schließlich Ingeborg Waldingers Essay über Esther Kinskys literarische Streifzüge durch Flusslandschaften – und Veronika Schuchters Nachruf auf die erst 40-jährig verstorbene Autorin und Künstlerin Helena Adler. Das neue Jahr, es begann auch mit einem furchtbar frühen Tod. (dh) Von Sonja Smith Xhuka Shorty ist ein Angehöriger des indigenen San-Volkes. Vor acht Jahren wurden er und 16 Mitglieder seiner Familie gewaltsam von dem Ackerland vertrieben, auf dem und von dem sie seit Generationen gelebt hatten. Die Familie lebt nun von Shortys monatlicher Rente – umgerechnet 87 US-Dollar im Monat. Ihr Zuhause ist nun der Schatten eines Baumes im Dorf Katumba, im Nordwesten des Landes. Ein Dach über dem Kopf haben sie nicht. Shortys Geschichte ist keine Ausnahme in Namibia – einem Staat, in dem ausländische Interessen, vorwiegend aus dem Globalen Norden, immer noch das fruchtbare Ackerland kontrollieren und indigene Gemeinschaften vertrieben und mittellos zurückgelassen werden. Wie viele Länder im Globalen Süden kämpft Namibia mit einer schweren Immobilienkrise. Ein gewaltiger Rückstand von 300.000 Wohneinheiten steht im Gegensatz zu einer Bevölkerung von 2,6 Millionen Menschen. Der jüngst publizierte Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) über Namibia untermauert dieses düstere Bild: 43 Prozent der Bevölkerung leiden unter multidimensionaler Armut; die Arbeitslosenquote liegt bei 33,4 Prozent, wobei die Jugend, deren Arbeitslosigkeit auf 50 Prozent gestiegen ist, die Hauptlast dieser Krise trägt. „Kulturelle Störungen“ und Kolonalisierung Der Begriff „Globaler Süden“ ist ein allzu breiter Pinselstrich, der versucht, die wirtschaftlichen Ungleichheiten zu erfassen, denen Länder in Afrika, Lateinamerika, Asien und Ozeanien ausgesetzt sind. Doch ich will ehrlich sein: Die Terminologie gilt es durchaus auch kritisch zu betrachten. Denn die Realität des Lebens im Schatten eines Baumes sprengt die Grenzen der globalen Semantik. Die Geschichte Namibias ist, wie die vieler Länder im Globalen Süden, vom Erbe der Kolonialisierung geprägt. Der europäische Imperialismus hinterließ bleibende Narben und setzte wirtschaftliche Ausbeutung und kulturelle Zerrüttung fort. Der Begriff „Globaler Süden“ kann die unterschiedlichen Kulturen, Volkswirtschaften und Herausforderungen, mit denen die Länder in diesen Regionen konfrontiert sind, manchmal zu stark vereinfachen. Namibia selbst verfügt über eine reiche Vielfalt an Kulturen mit mindestens elf verschiedenen ethnischen Gruppen, sodass es unmöglich ist, seine Komplexität unter einem einzigen Begriff zusammenzufassen. Wie sollte ein einziges Wort die Vielfältigkeit all dieser Länder abbilden? Vielmehr führt diese Vorgangsweise in die Irre. Die Auswirkungen der Kolonialisierung und die Foto: Getty Images / Universal Images Group / Universal Archive damit einhergehende wirtschaftliche Ausbeutung sowie die „kulturellen Störungen“ beeinträchtigen Nationen des sogenannten Globalen Südens wie Nambia bis heute erheblich. Und das wiederum fehlt bei der Debatte, wenn Externe die Probleme in unseren Ländern beschreiben wollen. Interessiert verfolge ich – als Angehörige des Globalen Südens und externe Beobachterin des Globalen Nordens – auch Debatten über „Erste-Welt-Themen“, wie wir sie nen- Die Grenzen der Semantik nen. Auch wir hätten gerne den Luxus, über geschichten, in denen es um Frauen geht, die Feminismus und Wokeness intensiver nachzudenken. Aber die Realität ist: Wer sich da- beenden, oder um Babys, die nach der Geburt versuchen, ihre eigene Schwangerschaft zu rauf konzentrieren möchte, muss sich zumindest dessen sicher sein, dass die eigenen Dieses Klima der Widrigkeiten führt da- ausgesetzt werden. Oder noch Schlimmeres. Grundbedürfnisse und jene seiner Familie zu, dass Einzelpersonen und Familien außergestillt sind. Tatsächlich konzentrieren sich halb des Landes ihr Glück suchen. Verständlicherweise, will ich meinen. Der Reiz des die Gespräche und die Aufmerksamkeit in Namibia und einem Großteil lichen Möglichkeiten und relativ stabilen Globalen Nordens mit seinen wirtschaftdes Globalen Südens immer noch sehr darauf, woschen aus dem Globalen Süden an. Diese Mi- Lebensbedingungen lockt Millionen Menher wir unsere nächste gration ist nicht nur ein Fluchtversuch; es ist Mahlzeit hernehmen und das Streben nach einem besseren Leben, ein ob wir genügend Geld grundlegendes menschliches Streben. aufbringen können, um Xhuka Shortys Geschichte ist zwar herzzerein besseres Leben auf- reißend, aber ich möchte ihn als Aufruf zum zubauen. Handeln verstehen. nachzudenken. “ Gleichzeitig stehen Vor- Die Geschichten von Shorty und Millionen wie ihm müssen als Katalysator für Ver- urteile in Bezug auf Hautfarbe, Ethnie, Reli- änderung dienen und uns dazu inspirieren, unermüdlich zu arbeiten, bis der Tag gion, Geschlecht oder sexuelle Orientierung auf der Tagesordnung. So kämpft Namibia trotz jüngster rechtlicher Fortschrit- Süden“ nicht mehr Kampf, sondern Wider- erreicht ist, an dem der Begriff „Globaler te für das „Recht auf gleichgeschlechtliche standsfähigkeit und Triumph bedeutet. Der Ehe“ und den Zugang zu Abtreibungen. Die Begriff „Globaler Süden“ bleibt trotz seiner aktuelle Gesetzgebung stammt aus der Zeit Einschränkungen ein Symbol der Hoffnung. der Apartheid in Südafrika und erlaubt Abtreibungen nur unter bestimmten Umständen wie Vergewaltigung, Inzest oder wenn Journalistin aus Namibia und schreibt für Die Autorin ist eine vielfach ausgezeichnete der Fötus das Leben der Frau gefährdet. Infolgedessen hört man Tag für Tag Horror- Observer und The Namibian Medien wie den Confidente , den Windhoek . „ Ich verfolge interessiert Debatten über ,Erste-Welt- Themen‘. Wir hätten gerne den Luxus, über Feminismus und Wokeness intensiver Etwa 38.000 San leben in Namibia und machen damit die kleinste Bevölkerungsgruppe des Landes aus. Ihre Kultur und traditionelle Lebensweise drohen durch europäische Einflüsse verdrängt zu werden. Der Begriff „Globaler Süden“ führt in die Irre, sagt unsere Gastautorin aus Namibia. Tatsächlich ginge es um Regionen der manifestierten Ungleichheit. Ein Appell. Foto: Kulturcampus Marienburg Das Gespräch führte Brigitte Quint Durch die aufgezwungenen westlichen Bildungssysteme und europäischen Sprachen philosophieren afrikanische Denkerinnen und Denker automatisch interkulturell, sagt Anke Graneß. Umso größer ist die Forderung nach einer geistigen Dekolonialisierung innerhalb der Disziplin. Warum vor allem ein Rückzug in afrikanische Sprachen als Lösung angesehen wird, erklärt die Expertin im Interview. DIE FURCHE: Inwiefern spielen Denker und Philosophen des Globalen Südens in der wissenschaftlichen Lehre eine Rolle? Anke Graneß: Was mein Fachgebiet Afrika betrifft: Im deutschsprachigen Raum gibt es nur eine Handvoll Experten, die sich mit Philosophen des afrikanischen Raumes beschäftigen. Grund dafür ist die weltweite Dominanz des europäischen Bildungssystems und seine Inhalte seit der Kolonisierung. Die Lehrpläne an den philosophischen Instituten gleichen sich heute von Delhi über Addis Abeba bis nach Wien. Infolge der Universalisierung des europäischen universitären Systems und der westlichen Bildungs- und Studienpläne wird letztendlich überall „westliche“ Philosophie, also europäische und nordamerikanische, dominant gelehrt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Afrika ein Kontinent ist, der in der europäischen Philosophie und Philosophiegeschichte keine Rolle gespielt hat. Auch eine Trendwende in der Philosophiegeschichtsschreibung ab dem 18. Jahrhundert, die zu einem verengten Philosophieverständnis führte, hat zur Durchsetzung eines Paradigmas beigetragen, das davon ausgeht, dass die Philosophie bei Thales begann, was wiederum dazu führte, dass allen anderen Kontinenten im Prinzip keine Beachtung mehr geschenkt wurde. Afrika wurde im Rahmen der kolonialen Eroberung auch noch mit kolonialen Stereotypen belegt: Es hieß, es gäbe dort keine Rationalität, keine Geschichte. Diese Vorurteile wurden unter anderen Anke Graneß ist Privatdozentin am Institut für Philosophie an der Universität Hildesheim.

DIE FURCHE · 2 11. Jänner 2024 Das Thema der Woche Vom Süden aus gesehen 3 Afrikas Philosophinnen und Philosophen spielen in der wissenschaftlichen Lehre kaum eine Rolle. Anke Graneß will das ändern. Über die Notwendigkeit, multikulturell zu denken. „Körper als Kategorie von Freiheit“ von Hegel in seiner Philosophie der Weltgeschichte transportiert. Etwas anders war die Lage in China und Indien, weil es dort lange Schriftkulturen gibt. Diese waren schon im 18., 19. Jahrhundert von europäischen Philosophen in den Diskurs aufgenommen worden. Die arabische Philosophie wird indes meist auf das Mittelalter reduziert, aber hat eine Rolle gespielt. Aber Afrika oder auch Südamerika taten das in der Philosophiegeschichtsschreibung lange nicht. DIE FURCHE: Gibt es neben den oben angesprochenen kolonialen Vorurteilen noch andere Gründe? Etwa die Tatsache, dass vieles nur mündlich überliefert wurde? Graneß: Das Argument, dass Philosophie an Schriftlichkeit gebunden ist, hört man immer wieder. Die Idee dahinter: Erst die Schrift mache den Geist frei für kritisches Denken, erst wenn wir uns nicht mehr nur mit dem Memorieren beschäftigen müssen, ist Philosophie möglich. Das ist klar in Frage zu stellen. Auch wir haben von Thales, ja den meisten Vorsokratikern überhaupt, keine schriftlichen Überlieferungen. Auch in der europäischen Philosophiegeschichte gibt es Ideen, die über Jahrhunderte mündlich transportiert und erst später niedergeschrieben wurden. Durch 2000 Jahre Schriftlichkeit und dem Produzieren von Texten über Texte ist letztlich die eigentliche Verankerung der Mündlichkeit in unserer Tradition verschleiert oder vergessen worden. So entstand die Idee, das aufgeschriebene Wort sei die Grundlage für die Philosophie überhaupt. Das ist Unsinn. Auch das, was wir heute in der Philosophie machen, ist natürlich immer noch mit Mündlichkeit verbunden: Wir diskutieren, halten Vorträge, wir lehren. Und wir dürfen nicht vergessen, dass es viele einflussreiche Traditionen gibt – ich denke hier an Konfuzius, der nie selbst geschrieben hat –, die erst später aufgeschrieben worden sind. Das gilt auch für philosophische Praktiken: So hat sich die Philosophie der Pythagoreer vor allem in Lebenspraktiken ausgedrückt, wie strengen Lebensregeln, Diätregeln usw. Auch die Meditation war noch weit bis ins Mittelalter in der europäischen Philosophiegeschichte eine philosophische Praxis. „ Es wird betont, dass in afrikanischen Gesellschaften das Individuum als Teil der Gemeinschaft gedacht werden muss. Es sei nicht unabhängig, sondern der Gemeinschaft verpflichtet. “ DIE FURCHE: Inwiefern unterscheidet sich afrikanische Philosophie hinsichtlich der Inhalte von europäisch-westlicher Philosophie? Graneß: Von den Überlieferungsmethoden und Ausdrucksformen gibt es sicherlich Unterschiede. Einen Dualismus zwischen Afrika und Europa in puncto Philosophie würde ich dennoch nicht aufbauen wollen. Gerade Afrika ist ein sehr gutes Beispiel für die Verflechtung von vielen verschiedenen ideengeschichtlichen Strömungen. Afrika hat in andere Kontinente ausgestrahlt und wurde geprägt durch andere Ideengeschichten. Eine enge Verflechtung besteht etwa zur arabisch-islamischen Philosophie. Und nicht zuletzt der Kolonialismus hatte einen starken Einfluss. Durch die aufgezwungenen westlichen Bildungssysteme und europäischen Sprachen philosophieren heutige afrikanische Philosophen immer schon in einer interkulturellen Situation. Einerseits wurden sie ausgebildet in den so genannten westlichen Philosophien, andererseits sprechen sie ihre indigenen, afrikanischen Sprachen und beschäftigen sich mit den Problemen und Konzepten ihres eigenen Kontinents. Ich behaupte: Die einzigen, die komplett monokulturell arbeiten, sind Europa und Nordamerika. DIE FURCHE: Gibt es typisch afrikanische Leitideen? Etwa ein Pendant zum europäischen Universalienstreit, der Apriorifrage? Graneß: Was in der Tat ein starkes Thema geworden ist, sind Abgrenzungsfragen zu Europa. Die Suche nach einer eigenen Identität. Hier wird betont, dass afrikanische Gesellschaften eher kommunal orientiert seien, dass das Individuum als Teil der Gemeinschaft gedacht werden müsse, nicht unabhängig, sondern der Gemeinschaft demensprechend auch verpflichtet. Ein eher solidarisches, relationales Gesellschaftsmodell wird dem Individualismus Europas oft entgegengesetzt. Eine weitere große Rolle spielt die Frage, wie man mit den kolonialen Erfahrungen umgehen soll. Was bedeutet gute Regierungsführung? Was bedeutet das gute Leben? Wie kann man in durch den Kolonialismus künstlich hergestellten Immerschon-Mehrvölkerstaaten friedlich zusammenleben? Auch die Frage nach einer geistigen und begrifflichen Dekolonisierung wird gestellt. In letzter Zeit werden insbesondere Fragen zum Verhältnis zur Umwelt aufgeworfen. Wie können wir unser Verhältnis zur Natur neu definieren? In Afrika ist die Umweltkrise schon seit Jahrzehnten sichtbar und spürbar. DIE FURCHE: Hat man Antworten gefunden? Graneß: Einen Konsens zu formulieren, das ist auch in der europäischen Philosophie schwierig. Philosophie ist eine Kontroverse. So verhält es sich auch auf dem afrikanischen Kontinent. Bei der geistigen Dekolonialisierung allerdings ist eine Art Mainstream zu identifizieren. Hier wird der Rückbezug auf die afrikanischen Sprachen als Lösung betont im Sinne der Maxime: „Denke alle philosophischen Traditionen oder Grundbegriffe in deiner eigenen Muttersprache noch einmal kritisch durch und schau, ob sie plausibel bleiben.“ Einer der wesentlichen und einflussreichen Denker in dieser Hinsicht ist der verstorbene ghanaische Philosoph Kwasi Wiredu. Dieser hat mit Rückgriff auf seine Muttersprache Twi gezeigt, dass die Konsenstheorie der Wahrheit auf Twi keinen Sinn macht. Ebenso wenig die europäische Trennung zwischen Körper und Geist nach Descartes. Das Sein, die Existenz wird auf Twi immer örtlich gedacht, daher kann es keine reine, abgetrennte geistige Entität geben. Ein Geist, der ortund körperlos für sich alleine zweifelt, ist auf Twi unvorstellbar. Eine weitere wichtige Stimme ist der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong‘o. Er fordert auf, in der eigenen Sprache Literatur zu schreiben, um diese Sprachen weiterzuentwickeln oder in der eigenen Sprache zu philosophieren. Ein Leitgedanke, der auch der deutschsprachigen Philosophie guttäte. Wir sind an den Akademien längst anglophon kolonialisiert: Man muss in Peer-reviewed journals Artikel publizieren, möglichst die Bücher auf Englisch veröffentlichen und auf Englisch Vorträge halten, um für eine akademische Karriere Punkte zu sammeln. Das führt aber dazu, dass unsere deutsche Sprache – lange nicht so vernachlässigt wie afrikanische Sprachen, aber doch – ein bisschen ins Abseits kommt. Dieses Anschließen an die eigene Sprache bedeutet dann aber auch, dass man sich der eigenen Sprache und damit Die Lehre vom Sein wird auch auf dem afrikanischen Kontinent durch das „Phi“ symbolisiert. Allerdings in einem wissenschaftlichen Kontext, der westlich geprägt ist – was es langfristig zu überwinden gilt. Lesen Sie dazu auch den Text „Afrika heißt Menschen“ von Martin Zähringer (30.6.2016) auf furche.at. „ Der Philosoph Kwasi Wiredu hat gezeigt, dass die Konsenstheorie in seiner Muttersprache Twi keinen Sinn macht. Das Sein wird auf Twi örtlich gedacht. Ein Geist, der körperlos zweifelt, ist auf Twi unvorstellbar. “ den Problemen der eigenen Gemeinschaft wieder mehr zuwendet. DIE FURCHE: Was ist mit der Frage der globalen Gerechtigkeit? Graneß: Ich würde in Zweifel stellen, dass der Diskurs um globale Gerechtigkeit ein globaler ist. Das ist ein stark westlich geprägter Diskurs oder geführt von jenen Philosophen, die an Akademien des Globalen Nordens angebunden sind. Hier will ich den kenianischen Philosophen Henry Odera Oruka und seine „Theorie des menschlichen Minimums“ erwähnen. Oruka kritisiert, dass in liberalen Theorien, insbesondere bei John Rawls, die politische Freiheit immer der ökonomischen Freiheit – im Sinne der Erfüllung grundlegender Bedürfnisse – vorgeordnet wird. Er argumentiert dagegen, dass ein bestimmtes menschliches Minimum erfüllt werden müsse, bevor Menschen überhaupt in einen Diskurs eintreten oder politische Rechte und Freiheiten wahrnehmen können. Insofern liegt hier ein starker Fokus auf der körperlichen Konstitution des Menschen. Das wiederum ist ein großer Unterschied zum vorherrschenden Diskurs, wo es überwiegend um freiheitliche Fragen geht und die Körperlichkeit – der Hungernde – eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Dass diese Argumente von einem Denker aus Kenia kommen, ist nicht verwunderlich. Wer selbst Erfahrungen mit Hungersnöten gemacht hat, setzt die Prioritäten anders. Mitarbeit: Philipp Axmann Philosophie in Afrika Herausforderungen einer globalen Philosophiegeschichte Von Anke Graneß Suhrkamp 2023 685 S., kart., € 30,90 Illustration: Rainer Messerklinger

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