DIE FURCHE · 2 14 Literatur 11. Jänner 2024 FAMILIENGESCHICHTE „Viereinhalb Jahrzehnte lang Stockrosen“ Der isländische Schriftsteller Jón Kalman Stefánsson überzeugt mit einer groß artigen Reise in die Vergangenheit. Von Maria Renhardt Eine Familie aus Brünn und aus dem Kärntner Kirchbach in den 1940er Jahren, mitten im Krieg. Weil die Ehe aufgrund der Untreue ihres Mannes zerbrochen ist, geht Emma nach Davos, um in der Schweiz Geld zu verdienen. In dieser schwierigen politischen Situation gibt es in der Kernfamilie keinen Halt mehr für die Kinder; sie befinden sich an unterschiedlichen Orten und gehen teilweise schon ihren eigenen Weg. Wie so oft schreibt das Leben selbst die interessantesten und eindringlichsten Geschichten. Auch die in Graz lebende Autorin Ursula Wiegele hat in ihrem Roman „Malvenflug“ auf ihre eigene Familiengeschichte zurückgegriffen und ihr Schicksal zum Thema gemacht, wie sie bei einer Lesung im Café Central erzählt. Der Titel kristallisiert sich mit fortlaufender Handlung als eine Art Leitmotiv heraus. Die Samen der Malvenblüten stehen für eine besondere Erinnerung. Helga, die älteste Tochter der Familie, kultiviert sie und streut sie an besonderen, ihr lieb gewordenen Orten in verschiedenen Ländern aus. Die bald darauf üppig blühenden Stockrosen sollen das Andenken an ihre ins KZ deportierte taubblinde Freundin Irene hochhalten. Im ersten polyphon erzählten Teil stellt Wiegele die Perspektiven unterschiedlicher Familienmitglieder dar und umreißt damit auch deren Umgang mit dem beginnenden Nationalsozialismus. Die minderjährigen Zwillinge Lotte und Fritz befinden sich bei den Großeltern in Brünn, da man sie dort zunächst sicher glaubt. Den älteren Sohn Alfred möchte die Mutter, die mit den Nazis sympathisiert, nach Davos holen und ihm dort über NSDAP-Verbindungen einen Platz im Fridericianum verschaffen. Weil es nicht klappt, kommt er nach St. Paul ins ehemalige Stiftsgymnasium, das die NAPOLA nach der Vertreibung der Benediktinermönche übernommen hat. Später wird er Priester, bis er eine Familie gründet. Die älteste Tochter Helga tritt in einen Orden ein und der Vater, der nach seiner zweiten Heirat noch einen Sohn bekommt, verhält sich als Opportunist. Im zweiten Teil steht Helgas Perspektive im Mittelpunkt. Viele Jahre sind seither vergangen; sie hat das Kloster verlassen und reflektiert ihr Leben und ihre Bindungen zur Familie in einer Art Rückschau. Ihr Glück hat sie erst später gefunden. Wiegele zeigt diese Familie in einem zartbitteren Beziehungsgeflecht, in dem jeder angesichts schmerzvoller Narben in der Eltern-Kind-Beziehung, Entfremdungserfahrungen und vererbter Kälte seine Position zu finden sucht. Irgendwann findet man wieder zusammen. Als markanter Subtext durchzieht dieses feinfühlige Familienporträt eine Auseinandersetzung mit den leidvollen Kriegsjahren, mit „der Vertreibung der Brünner Deutschen“ und dem Nationalsozialismus. Vieles von früher kann erst langsam aus der Retrospektive aufgearbeitet werden. Und bei den traditionellen Treffen in Italien, zu denen Helga all die Ihren einlädt, verteilt sie schließlich auch die Malvensamensäckchen in der Familie, wenn durch dieses besondere südliche Licht sanft gewisse Bilder zu wandern beginnen. Malvenflug Roman Von Ursula Wiegele Otto Müller 2023 225 S., geb., € 25,– Foto: iStock/Raulhudson1986 Von Rainer Moritz Wollte man die bedeutendsten europäischen Erzählerinnen und Erzähler auflisten, so dürfte der Name des 1963 geborenen Isländers Jón Kalman Stefánsson auf keinen Fall fehlen. Seine Bücher – darunter „Himmel und Hölle“ und das für den Man Booker International Prize nominierte „Fische haben keine Beine“ – sprühen vor Fabulierlust und zeugen von einer künstlerischen Risikobereitschaft, wie man sie nicht alle Tage findet. Wo sich nicht wenige seiner Kollegen damit begnügen, unter dem Deckmantel des „Autofiktionalen“ Alltagsbefindlichkeiten auszubreiten oder Familiengeschichten in eine plane Chronologie zu bringen, weiß Stefánsson um die Komplexität dessen, was es heißt, von menschlichen Schicksalen angemessen zu erzählen. Verloren und auf der Suche Sein neuer, großer Roman „Dein Fortsein ist Finsternis“ ist dafür ein gutes Beispiel. Er setzt ein, mit einem Mysterium, das alles Weitere bestimmt und nach und nach in die Tiefen der (isländischen) Geschichte führt. Ein Mann, der namenlos bleibende Ich-Erzähler, erwacht irgendwo in einer Kirche, die in den Westfjorden Islands steht, und vermag sich an nichts mehr zu erinnern. Wer er ist und was sein Leben zuvor ausgemacht hat, erschließt sich ihm nicht: „Ich weiß nicht, was ich für eine Arbeit habe, wo meine Fähigkeiten liegen, ob ich geliebt werde, nicht einmal, ob ich Kinder habe. Wie kann man das vergessen? Meine Erinnerungen sind spurlos verschwunden, und nur ein wehes Vermissen ist mir geblieben. Es fühlt sich an (…) als sei mir genommen, was mein Ich ausmacht.“ Zögerlich macht er sich auf, seiner verlorenen Identität auf die Spur zu kommen. Auf dem Friedhof, wo eine Grabsteininschrift wie der Romantitel „Dein Fortsein ist Finsternis“ lautet, begegnet er einer Frau namens Rúna, die ihn wiederzuerkennen scheint. Sie schickt ihn zu ihrer Schwester Sóley, die in der Nähe ein Hotel betreibt. Mit ihr hatte der Erzähler in seinem früheren Leben offensichtlich ein Liebesverhältnis, doch auch davon ist nichts zurückgeblieben. Ängstlich darauf bedacht, seinen Erinnerungsverlust zu kaschieren, nimmt er am Hoteltresen Platz und beginnt den Geschichten der Einheimischen zuzuhören – Geschichten, die weit in die Vergangenheit reichen und über Generationen hinweg irgendwie mit ihm zu tun haben. Dieses so einfache wie reizvolle Setting gibt Stefánsson die Möglichkeit, sein schier unerschöpfliches Füllhorn des Erzählens zu öffnen, den Menschen des abgeschiedenen Fjords Konturen zu verleihen und unvergessliche Landschaftsbilder zu malen. Hintergrund ist ein Island, das lange Zeit kein Interesse hatte, seine Rückständigkeit abzuschütteln. Noch im 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung das europäische Festland radikal veränderte, waltet in „ ‚Dein Fortsein ist Finsternis‘ verschränkt aberwitzige Episoden miteinander, aus denen andere Romanciers mehrere eigenständige Bücher gemacht hätten. “ Ein Mann sucht sein Leben Island ein „verdammter Stillstand“, der die Bewohner(innen) in den Bann schlägt: „In Europa und Amerika wuchsen Fabriken und Städte, Züge fuhren immer schneller, Pistolen wurden immer treffsicherer, aber hier wurden nicht einmal die Vögel scheu, wir liefen weiterhin in ungeeigneten Schuhen mit permanent nassen Füßen herum, patschten weiterhin in dieselben dunklen Schafställe und niedrigen Kuhställe und mähten bucklige Wiesen nach tausendjähriger Gewohnheit.“ Panoptikum an Geschichten Fjordland Island und seine Bewohner und Bewohnerinnen stehen im Mittelpunkt von Stefánssons neuem Roman. Die deutsche Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig wurde 2023 mit dem Christoph- Martin-Wieland- Übersetzerpreis ausgezeichnet. „Dein Fortsein ist Finsternis“ verschränkt aberwitzige Episoden miteinander, aus denen andere Romanciers mehrere eigenständige Bücher gemacht hätten. Da kommt es zu außerehelichen Schwangerschaften, da erweisen sich syrische Schwestern als Meisterköchinnen, da sind Bäuerinnen in der Lage, Motoren jeder Art zu reparieren oder Stiere während des Deckens zu bändigen, und da schießt einer mit seiner Schrotflinte auf ungeliebte Lastwagen. All das ist phantasie-, lust- und liebevoll erzählt und von Karl-Ludwig Wetzig auf gewohnt souveräne Weise ins Deutsche gebracht. Zu den – wahrlich nicht wenigen – unvergesslichen Figuren des Romans zählt die Bäuerin Guðríður, die sich nicht allein mit Schafen beschäftigen will, sich ständig Wissen aneignet und einen Aufsatz über den Regenwurm schreibt, den sie der Fachzeitschrift „Natur und Welt“ einreicht. Deren Redakteur, Pfarrer Pétur, ist wie vor den Kopf gestoßen und kann nicht begreifen, dass eine schlichte Bäuerin in der Lage ist, sich auf so fundierte Weise mit dem Wunder des Regenwurms zu befassen. Prompt macht er sich auf den Weg, um die scheue Verfasserin auf ihrem Hochlandhof persönlich in Augenschein zu nehmen – ein folgenreicher Besuch, der von ihrem Mann Gísli argwöhnisch verfolgt wird. Ach ja, nicht übergehen dürfen wir Aldís, jene Städterin aus Reykjavík, die mit ihrem Verlobten eine Reifenpanne hat. Bauer Haraldur, ein leidenschaftlicher Bob-Dylan- Fan (Popmusik von Tom Waits bis Bruce Springsteen spielt im ganzen Roman eine wichtige Rolle!), eilt zu Hilfe, und binnen weniger Sekunden schlägt der Liebesblitz ein: Aldís zieht kurzerhand auf Haraldurs Hof und wird Mutter der beiden Mädchen Rúna und Sólvey – womit wir wieder beim Erzähler des Romans angekommen wären. Jón Kalman Stefánsson hat mit „Dein Fortsein ist Finsternis“ einen großen Wurf gelandet, keine Frage. Wie er die Identitätssuche seines Protagonisten mit den Geschichten von Kári, Eirikur, Halldór, Skúli oder Páll verwebt – von einem rätselhaften Busfahrer ganz zu schweigen –, das ist ein raffiniertes Meisterstück, das ohne Netz und doppelten Boden auskommt. „Ich existiere, weil Welten aus den Fugen geraten“, lautet folglich eine der klug gewählten Kapitelüberschriften. Dein Fortsein ist Finsternis Roman Von Jón Kalman Stefánsson Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig Piper 2023. 544 S., geb., € 25,70
DIE FURCHE · 2 11. Jänner 2024 Literatur 15 Neben dem Schreiben war die Kunst Helena Adlers große Leidenschaft. Das merkt man ihrer Literatur an. Sie ist bildgewaltig im wahrsten Sinne des Wortes. Am 5. Jänner ist die Schriftstellerin mit nur 40 Jahren gestorben. Ein Nachruf. Die Infantin wird fehlen Von Veronika Schuchter An diesem Cover wären beim Stöbern in der Buchhandlung wohl die wenigsten vorbeigekommen. Darauf ist das Schwarzweiß-Foto eines kleinen Mädchens im Rüschenkleid zu sehen, bunt übermalt mit zwei Hörnern und einer Augenklappe. Auch das Stofftier im Arm hat eine Augenklappe und eine rausgestreckte Zunge verpasst bekommen. In pinker Kinderschrift steht da „Die Infantin“, ergänzt von „trägt den Scheitel links“ in Druckschrift. Helena Adlers zweiter Roman erschien eine Woche vor dem ersten Corona-Lockdown, weshalb das Stöbern in Buchhandlungen erstmal auf Eis gelegt war. Trotz der erschwerten Situation wurde der Roman ein großer Erfolg. So kreativ die Künstlerin bei der Gestaltung ihres Covers war, so kreativ war sie auch bei der Vermarktung. Sie bat einen Buchhändler, ihr Buch im Bestsellerregal zwischen Größen wie T. C. Boyle, Monika Helfer und Saša Stanišić platzieren zu dürfen – und postete davon ein Foto auf Instagram. Es dauerte nicht lange, und sie musste diese Position nicht mehr augenzwinkernd mit einem Trick selbst besetzen. Bald war ihr Roman nicht nur auf der Bestsellerliste, sondern auch auf der Longlist des Deutschen und der Shortlist des Österreichischen Buchpreises zu finden. Brueghelʼsche Universen Adler wurde 1983 in – so behauptet es zumindest die Vita im Klappentext – einem Opel Kadett geboren, der sich wohl zum Zeitpunkt der Geburt in Oberndorf bei Salzburg befand. Vielleicht begann damals schon ihr „Existenzzorn“, die Wut darauf, ungefragt geboren worden zu sein und sich fortan in dieser Welt durchschlagen zu müssen, ob man nun will, oder nicht. Adler wuchs auf einem Foto: APA/Herbert Neubauer „‚Fretten‘ von Helena Adler: Kein Zuckerschlecken“: Den Beitrag von Veronika Schuchter vom 23.11.2022 können Sie nachlesen: furche.at. Bergbauernhof in Anthering auf, studierte später Psychologie, Philosophie und Malerei. Das Germanistik-Studium hatte sie, nach eigenen Angaben, rechtzeitig abgebrochen. Neben dem Schreiben war die Kunst Adlers große Leidenschaft, das merkt man auch ihren Romanen an. Ihre Texte sind bildgewaltig im wahrsten Sinne des Wortes. In der „Infantin“ und in Adlers leider letztem Roman „Fretten“ wird man in ein bäuerliches Universum Brueghelʼscher Prägung geworfen, mit all den Grauslichkeiten, die es dort zu sehen gibt. Nicht die vielzitierten Größen der Anti-Heimatliteratur von Bernhard bis Jelinek und Winkler waren Adlers literarischer Bezugspunkt. Dreh- und Angelpunkt ihres Schreibens war ihre Herkunft, das sieht man schon am eingangs beschriebenen Cover. Das darauf zu sehende Mädchen ist nicht Adler selbst, sondern ihre Mutter. Autobiographisches wird übermalt und verzerrt, bleibt aber durchaus kenntlich. In der titelgebenden Infantin hat sich Adler ein Stück weit selbst inszeniert und porträtiert, die Wut ihrer kindlichen Protagonistin auf die Zumutungen dieser bäuerlichprovinziellen Gesellschaft ist auch ihre. Am Schluss der tragischkomischen Bildbegehung lässt die Infantin den elterlichen Hof in Flammen aufgehen. Im 2022 wie der Vorgänger bei Jung und Jung erschienenen Roman „Fretten“ Helena Adler Ihre Literatur fiel auf, ihr Leben war viel zu kurz (1983–2024). „ In der titelgebenden Infantin hat sich Adler ein Stück weit selbst inszeniert und porträtiert, die Wut ihrer kindlichen Protagonistin ist auch ihre. “ schrieb Adler die Geschichte der Infantin fort, wechselt aber mit der Mutterschaft der Figur die Tonlage. Versöhnlicher wird sie dabei nur bedingt, das Muttersein und die gesellschaftlichen Ansprüche daran sind nicht weniger ein Gfrett als das zermürbende Landleben. Entflohen ist Adler diesem trotzdem nie. Mit ihrem Mann, dem Künstler Thomas E. Stadler, und ihrem kleinen Sohn lebte sie in Salzburg am Land, in der Nähe von Oberndorf. Kurzfristig abgesagt 2023 hätte Adler beim Bachmannpreis lesen sollen, musste aber aufgrund ihrer Krankheit kurzfristig absagen. Wie sehr hatte man gehofft, sie nächstes Jahr dort erleben zu dürfen, für sie, für das Publikum, das eine begnadete Performerin erleben hätte können, und für die Literatur, die Adler mit Leib und Seele vertrat. Wie oft hört oder liest man, dass jemand eine außergewöhnliche literarische Stimme sei. Was Helena Adlers Tod aus literarischer Sicht so tragisch macht, ist, dass es in ihrem Fall keine Phrase war, kein überschießendes Lob. Geboren wurde sie als Stephanie Helena Prähauser. Um nicht mit der ähnlich klingenden Teresa Präauer verwechselt zu werden, wählte sie das Pseudonym Helena Este Adler (eine spielerische Form ihres Ehenamens Stadler). Wer Adler traf oder ihre Texte las, weiß, dass diese Sorge völlig unbegründet war, denn sie war und bleibt so unverwechselbar wie ihre Literatur. Und auch das ist keine Phrase. Mit der Infantin ist ihr eine Figur gelungen, die man nicht vergisst. Gerne wäre man Adler noch in viele literarische Bildhöllen gefolgt. Die österreichische Literatur ist am 5. Jänner deutlich ärmer geworden. KREUZ UND QUER LEBENSFREUDE DI 16. JÄN 22:35 Lebensfreude kann ansteckend sein. Die Protagonisten des Films, Josef, Sandesh und Marion, stehen für drei zentrale Quellen von Lebensfreude: Körper, Geist und Kontakt zu Mitmenschen. Der Eisschwimmer, der rappende Franziskanermönch und die Altenpflegerin machen spürbar, dass Lebensfreude auch unter schwierigen Bedingungen gedeihen kann. religion.ORF.at Furche24_KW02.indd 1 19.12.23 14:05
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