4 Das Thema der Woche Grabredner Gottes DIE FURCHE · 41 10. Oktober 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 3 DIE FURCHE: Klingt recht individualistisch und wenig sozial, wenn es immer nur um die eigene Entwicklung geht... Musalek: In diesem Punkt kritisiere ich Nietzsche sehr. Dass er das Soziale außen vor ließ, hatte wohl mit seinen Krankheiten und seiner Persönlichkeitsstruktur zu tun. Aber es ist eine verpasste Chance. Denn gerade in der Gemeinschaft bieten sich unzählige Möglichkeiten, zu werden, wer man ist. Wir sehen das etwa im Mannschaftssport: Ein einzelner Sportler kann hart an sich arbeiten und sich entwickeln, aber elf sehr gute Einzelkönner machen noch keine sehr gute Fußballmannschaft. Dazu braucht es ein Miteinander. Aber Nietzsches Theorie um einen sozialen Aspekt zu ergänzen, tut seiner Idee keinen Abbruch: Ich kann ja gerade auch im Kollektiv persönlich über mich hinauswachsen. „ Wohlproportioniertheit ist völlig unerotisch. Erst die Abweichung davon macht dieses besondere Gefühl aus, dass wir von jemandem angezogen werden. “ DIE FURCHE: Nietzsche schrieb ein Buch „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“. Was versteht er denn unter Wahrheit? Musalek: Jedenfalls nicht das, was die meisten darunter verstehen. Nietzsche ist auch hier seiner Zeit um mindestens hundert Jahre voraus. Er ist der Urvater der Postmoderne. Sein wesentliches Credo ist, dass es nicht eine letzte Wahrheit gibt, sondern viele Wahrheiten. Nietzsche ersetzt den Warheitsbegriff mit der „Redlichkeit“. Das ist ganz fern von der Beliebigkeit, die der Postmoderne zu Unrecht vorgeworfen wird. „Anything goes“ hat nie gemeint „ich kann alles behaupten, es ist eh alles wurscht.“ DIE FURCHE: Sie haben dem „Willen zur Macht“ in zwei Büchern den „Willen zum Schönen“ gegenübergestellt. Was soll das sein? Musalek: Meine These ist, dass unser Urtrieb nicht die Fortpflanzung ist, nicht das Leben und auch nicht das Über-sich-Hinauswachsen – sondern das Schöne. Das treibt uns letzlich an. Einer meiner Gründe für diese Annahme ist, dass Menschen erst seit recht kurzer Zeit vom Zusammenhang zwischen Sexualität und Fortpflanzung wissen. Die Forschung zur Geschichte der Menschheit legt nahe, dass unsere Vorfahren vor etwas mehr als 10.000 Jahren noch nicht wussten, dass der Sexualakt mit der Fortpflanzung zusammenhängt. Sexualität hat man betrieben, weil es so schön war. Wir sehen dafür ein extremes Drängen zu allem Schönen in der ganzen Natur und speziell beim Menschen. Das beginnt schon beim Saugakt des Babys an der Mutterbrust. Das löst eine Zufriedenheit, ein Glücklichsein aus, das weit mehr als bloßes Sattsein ist. Es ist ein Geborgensein – das ist wahnsinnig schön für ein Baby! Wir sehen die Schönheit aber auch im Rest der Natur, schon die Gehäuse der prähistorischen Ammoniten entsprechen dem goldenen Schnitt. Oder wenn man sich einen Falter anschaut! Dieses Angezogenwerden vom Schönen, dieses Gedrängtwerden dahin, bezeichne ich als Wille zum Schönen. DIE FURCHE: Nietzsche selbst hat auch über das Schöne philosophiert. Etwa im Buch „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Was ist denn der Geist der Musik? Musalek: Seine Idee war, dass es zwei Formen des Schönen gibt: Das apollinische, ausgewogene, wohlproportionierte, symetrische Schöne – und das dionysische, begeisternde, ekstatische, überschäumende Schöne. Beides brauchen wir in unserem Leben, und das spiegelt sich in der Musik wieder. Eine Tonleiter kann wunderschön sein, aber wenn man da eine kleine Dissonanz hineinbringt und die dann wieder auflöst, dann wird Musik erst richtig schön. Wohlproportioniertheit ist völlig unerotisch. Erst die leichte Abweichung davon macht dieses besondere Gefühl aus, dass wir von jemandem angezogen werden. DIE FURCHE: Dionysos ist der griechische Gott des Weins und der Ekstase. Nietzsche gilt als Philosoph des Rausches... Musalek: Die Bedeutung der Ekstase sehe ich sogar in der Therapie: Wir haben Module eingeführt, in denen Menschen tanzen, musizieren und trommeln. Das ist sehr befreiend, man fühlt sich nachher wohl, auch wenn es anstrengend war. Rausch ist wunderbar! Es ist nur wahnsinnig schade, dass wir in Österreich zuerst an den Alkoholrausch und dann an den Drogenrausch denken, dabei sind das die ödesten. Alkohol wirkt ja betäubend, da spüre ich meinen Rausch gar nicht! Schade drum. Einen viel besseren Rausch bewirken Tanz, Natur, Musik, Geschwindigkeit, etwa beim Skifahren, oder wenn wir beim Sport in einen Flow kommen. Einer der besten ist die akute Verliebtheit, das ist fantastisch. Aber wenn man da zu viel getrunken hat, ist auch das gar nicht mehr so lustig. DIE FURCHE: Dostojewski schrieb: „Schönheit rettet die Welt.“ Stimmen Sie zu? Musalek: Zu hundert Prozent! Nicht nur rettet sie die Welt, sondern sie macht die Welt überhaupt erst lebenswert. Eine Welt ohne Schönheit ist nicht vorstellbar. Das Schöne ist eine echte Kraftquelle. Ein schöner Herbststag, eine schöne Beziehung, all das lässt uns aufleben. Ich kann Dostojewksi nur zustimmen. Insofern: Schön, dass jemand so einen Satz formuliert hat! Foto: iStock/Alan_Lagadu Grabredner statt Mörder Gottes „Gott ist tot!“ Noch heute schmieren Studenten Nietzsches Ausruf auf die Tischreihen der Hörsäle, noch heute liest man ihn auf so mancher Hausfassade. Er ist Nietzsches meistzitierter – vor allem aber sein meist missverstandener Satz. Nietzsche tat den Ausruf nicht euphorisch, wie er heute oft vorgetragen wird, sondern erschüttert, ergriffen, überwältigt. Völlig verkehrt ist es, den Satz als Wunsch zu lesen. Er ist eine Analyse. Nietzsche ist nicht der Mörder Gottes, sondern sein Grabredner. Das zeigt der Aphorismus 125 in der „Fröhlichen Wissenschaft“, in der Nietzsche den berühmten Satz in den Mund des „tollen Menschen“ legt: tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzünde- „Der te, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚ich suche Gott! Ich suche Gott!‘ – Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? „ Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? “ Jetzt sind beide tot Den Tod Gottes rief Nietzsche 1882 aus. Acht Jahre später starb Nietzsche selbst. Sein letztes Lebensjahr verbrachte er geistig umnachtet. BUCHTIPP: Die fröhliche Wissenschaft Von Friedrich Nietzsche Reclam 2000 326 S., kart., € 8,– Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‘ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. ‚Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan!‘ – Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: ‚Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?‘“ Nächste Woche im Fokus: Am 24. Oktober treffen sich die neu gewählten Mandatare zur konstituierenden Sitzung im Parlament – und wählen das Präsidium. Wieviel Macht geht mit diesen Ämtern einher? Und: Droht der Republik nach dem FPÖ-Sieg der Umbau? Eine Analyse und ein Gespräch mit Wolfgang Sobotka.
DIE FURCHE · 41 10. Oktober 2024 Politik 5 Von Wolfgang Machreich Was in der österreichischen Bund e sr e g ier u n g der Streit um das EU-Renaturierungsgesetz war, ist in der Vorarlberger Landesregierung der Konflikt zwischen ÖVP und Grünen um die Bodenseeschnellstraße S18. Dort wie da unter türkisem Beschuss steht die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler, die bei diesem seit Jahrzehnten umstrittenen Schnellstraßenprojekt vom Norden Vorarlbergs in die Schweiz die Stopp-Taste drückte. Dass ihr das bei den Nationalratswahlen nicht zum Nachteil gereichte, zeigt ihr Vorzugsstimmen-Ergebnis in Vorarlberg. Mit 1790 Vorzugsstimmen war sie vor allem im Rheintal der erklärte Politik-Liebling der Grün- Wählerinnen und -Wähler, erhielt mit ihrer Ansage es müsse „bessere Lösungen geben als eine Autobahn durch ein Naturschutzgebiet und die Trennung von Wohngebiet und Naherholungsraum“ sogar dreimal soviel persönlichen Zuspruch als ihr Parteichef Werner Kogler. Auch bei der Landtagswahl am Sonntag könnte dieser Gewessler- Bonus den Vorarlberger Grünen, die im Rheintal statt einer Straße eine Ringstraßenbahn („Ringflitzer“) bauen möchten, noch einmal nützen. Doch ähnlich der nationalen Ebene ist die Marke Gewessler nach dieser Landtagswahl eine schwere Hypothek für Grüne Regierungsverhandlungen mit der Vorarlberger ÖVP. Vor allem dem ÖVP-Wirtschaftsflügel dient der Grüne S18-Widerstand als abschreckendes Beispiel und breit ausgewalztes Argument gegen eine Fortsetzung der seit zehn Jahren aufrechten Koalition. Duell-Karte gezogen Foto: APA / Dietmar Stiplovsek Die Umfragen prognostizieren einen massiven Stimmenzugewinn der Freiheitlichen bei der Landtagswahl am Sonntag in Vorarlberg – eine von mehreren Parallelen zur Nationalratswahl. Am Bodensee macht die Politik blau Koalition auf Abruf? Ob sich ÖVP-Landeshauptmann Markus Wallner (li.) und sein Grüner Koalitionspartner, Landesrat Daniel Zadra, auch nach der Wahl die Regierungsbank teilen, ist höchst ungewiss. Die ÖVP betreibe gegen den Grünen Regierungspartner „seit Monaten eine Politik der verbrannten Erde“, um damit den Boden für eine künftige Koalition zwischen der Volkspartei und den Freiheitlichen vorzubereiten, sagt Hanno Loewy im FURCHE-Interview (siehe nächste Seite). Um das zu verhindern, initiierte der Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems gemeinsam mit anderen Prominenten der Vorarlberger Zivilgesellschaft einen „Aufruf für Demokratie“. Das Unterschriftenpaket für eine Zusammenarbeit der „demokratischen Kräfte“ im Ländle und gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ wird vor dem Wahlsonntag noch im Landtag in Bregenz deponiert. Dass die FPÖ nach der Landtagswahl in diesen gestärkt einziehen wird, ist laut Wahlprognosen bereits eine ausgemachte Sache. Fraglich ist nur noch, wie hoch der Stimmenzuwachs für die Freiheitlichen ausfällt; oder ob gar das bis dato in der Vorarlberger politischen Landschaft Unmögliche eintreten und die FPÖ die ÖVP vom Gipfel der stimmenstärksten Partei stoßen kann. Neben schwachen Vertrauenswerten für den Landeshauptmann ist die juristische Aufarbeitung der Wirtschaftsbund-Affäre um Inseratengelder ein Klotz am ÖVP-Bein. Nach der Auszählung der Vorarlberger Stimmen für die Nationalratswahl, bei der die FPÖ die ÖVP in den Bezirken Dornbirn und Feldkirch überholte, hat Landeshauptmann Markus Wallner vorsorglich das Duell um den Landeshauptmann ausgerufen. Auch das wieder eine Parallele zum „Kanzlerduell“ bei den Nationalratswahlen, mit dem für die ÖVP wenig berauschenden Ergebnis. In Vorarlberg hatte die Volkspartei aber mit dieser Zuspitzung schon einmal Erfolg: 2009 rief der damalige Landeshauptmann Herbert Sausgruber einen Zweikampf mit dem FPÖ- Spitzenkandidaten Dieter Egger aus. Der hatte im Wahlkampf eine antisemitische Verbalattacke gegen Museumsdirektor Hanno Loewy geritten (vgl. Seite 6). Das damalige Landeshauptmann- Duell ließ die Wahlbeteiligung auf über 68 Prozent ansteigen – ein Wert, der seit der Aufhebung der Wahlpflicht vorher und nachher nicht erreicht wurde. Mit ihrer klaren Ansage gegen die FPÖ schaffte die Sausgruber-ÖVP vor 15 Jahren 50,79 Prozent und regierte fortan mit absoluter Mehrheit; die FPÖ flog aus der Landesregierung und ist seither in Opposition. Jetzt rechnet FPÖ-Spitzenkandidat Christof Bitschi bereits fix mit einer Regierungsbeteiligung „auf Augenhöhe“. Von einem Duell um Platz eins will er aber nichts wissen, der FPÖ gehe es nicht „ FPÖ-Spitzenkandidat Christof Bitschi rechnet bereits fix mit einer Regierungsbeteiligung ‚auf Augenhöhe‘. “ um Machtpositionen, vielmehr um „einen Dialog mit der Bevölkerung“. Zugegeben eine angemessenere Formulierung als Herbert Kickls unmoralisches „Euer Wille geschehe“-Angebot. Die Umfragedaten scheinen Bitschis Zuversicht zu bestätigen. Laut denen stürzt die ÖVP von über 43 Prozent 2019 auf gut 30 Prozent ab, während die 2019 Ibiza-Gategebeutelten Freiheitlichen dieses Mal ihr damaliges Ergebnis von knapp 14 Prozent verdoppeln könnten. Die Grünen erreichten 2019 knapp 19 Prozent und Platz zwei hinter der ÖVP; der ist dieses Mal sicher weg, plusminus 18 Prozent und damit ein deutlich KLARTEXT besseres Ergebnis als bei der Nationalratswahl trauen ihnen die Umfragen aber zu. Die Neos wollen ihre 8,51 Prozent von vor fünf Jahren dieses Mal auf „Mitregierungsgröße“ ausbauen. Nach der Wahl wird sich zeigen, ob die den Neos prognostizierten plusminus zehn Prozent dafür reichen werden; gleiches gilt für SPÖ, die sich mit Umfragewerten von rund zwölf Prozent als Juniorpartner einer schwarz-roten Koalition in Vorarlberg anbietet. Von dem von Landeshauptmann Wallner zur Mobilisierung der eigenen Anhänger ausgerufenen Zweikampf mit der FPÖ wollen sowohl Grüne, als „Die Angst vor den Grünen“ ging am 18. Oktober 1984 nach deren Einzug in den Vorarlberger Landtag um; nachzulesen auf furche.at. US-Wahlen: Reagiert die EU? Zufällig war es Oakland, die Geburtsstadt von Kamala Harris, wo ich im Zuge einer Kalifornien-Reise vor wenigen Tagen die Fernsehdebatte zwischen den beiden Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz und JD Vance verfolgte. Zunächst dominierten überraschend versöhnliche Töne zu den drängendsten Wahlkampfthemen – von der Migration bis zur wirtschaftlichen Lage. Vance suchte sichtlich nach einer Profilierung als moderater Mitkämpfer des Polit-Rabauken Trump. Dann aber wurde der 6. Jänner 2021 zum Thema – und hier hatte Tim Walz alle Punkte auf seiner Seite. Denn Vance verweigerte jedes Eingeständnis, dass Donald Trump damals einen Staatsstreich angezettelt hatte. Dabei belegt ein zuletzt aufgetauchtes Tonbandprotokoll in aller Deutlichkeit, wie brutal er damals vorging. Als nämlich Trump inmitten des Sturms aufs Kapitol darüber informiert wurde, dass sich sein damaliger Vizepräsident Mike Pence in höchster Gefahr befand, reagierte er mit einem lapidaren „So what?“. auch SPÖ und Neos nichts wissen. Der Wahlkampf 2009, bei dem sie in dieser Duell-Konstellation aufgerieben wurden, ist abschreckendes Beispiel genug. Als eine weitere Parallele zur Nationalratswahl vor zwei Wochen zeichnet sich aber auch bei dieser Landtagswahl ein Wählerstrom vor allem von der ÖVP zur FPÖ ab ‒ Hanno Loewy sagt im Interview „Selbst-Kannibalisierung der ÖVP“ dazu. Teurer CH-Speckgürtel Der von ihm und anderen verbreitete „Vorarlberger Aufruf für Demokratie“ mahnt ein, dass immer mehr Menschen im Land „tatsächlich abgehängt“ werden. Das zeigt sich auch darin, dass die Themen leistbares Leben und Wohnen im Vorarlberger Speckgürtel der Schweiz bei dieser Wahl ganz oben stehen. Scharf kritisierte die Vorarlberger Armutskonferenz die Wohnungspolitik der bisherigen Landesregierung. Das Ziel, 4000 neue gemeinnützige Wohnungen zu bauen, sei nur zur Hälfte umgesetzt und damit „krachend verfehlt“ worden. Krachen wird es im Vorarlberger politischen Gebälk aller Voraussicht nach auch am Abend des kommenden Wahlsonntags. Bei dem zu erwartenden Siegesjubel auf der einen und Verliererjammer auf der anderen Seite sollte aber dieser Hinweis im „Vorarlberger Aufruf für Demokratie“ nicht untergehen: „Unsere Demokratie lebt davon, einander zuzuhören, nicht davon, Menschen gegeneinander auszuspielen.“ FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE Einen Kandidaten mit einem so drastischen demokratiepolitischen Sündenregister zur Wahl antreten und damit an die Schalthebel der Welt zu lassen, ist mehr als ein inneramerikanisches Problem. Noch größer ist der Kollateralschaden, den Trumps Kandidatur in all jenen Ländern anrichtet, die jahrzehntelang die USA als Ordnungsmacht akzeptiert haben. Die american rule verliert an Glaubwürdigkeit, das Fehlen ernsthafter Friedensinitiativen in den aktuellen Kriegsgebieten treibt die Fragmentierung der politischen Kräftezonen weiter voran. Umso entscheidender wäre, dass es Europa angesichts dieser amerikanischen Herausforderung endlich gelingt, ein eigenständiges außenpolitisches Profil zu entwickeln. Immerhin gab es ja Zeiten, „als das Wünschen noch geholfen hat“! Der Autor ist Ökonom und Publizist. Von Wilfried Stadler
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