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DIE FURCHE 10.10.2024

DIE

DIE FURCHE · 41 20 10. Oktober 2024 Illu: RM Von Manuela Tomic Fernflug MOZAIK Zu seinem 65. Geburtstag funkte mich Vater an. Die ganze Familienhorde versammelte sich auf dem Display meines Handys, meinem „Babyphone“, wie mein Freund gerne scherzt. Alle hatten sich in Tomići im Gasthaus meiner Oma versammelt, wo sie schon zum Frühstück Šljivovica tranken. Vater filmte surreale Prosciuttoberge und zeigte uns einen rosigen Fisch, der wie ein Embryo in einer Auflaufform schmorte. Ich gluckste vor Schreck. Dann quasselten alle durcheinander und versuchten, in das Fischauge der Kamera zu glotzen. Da torkelte Onkel Boso ins Bild und winkte. Boso, Vater und ich haben die größten Nasen und Ohren. Ich ähnle Onkel fast mehr als Vater. Boso, der eben aus Dortmund eingeflogen war, erzählte von seiner Reise. Er scherzte, er habe Vater am Flughafen von Sarajevo schon von weitem erkannt. Unsere Segelohren seien unverkennbar. Wir drei würden uns sogar am Flughafen von Los Angeles wiederfinden. Alle lachten, die Kamera kapitulierte. Ich starrte in den schwarzen Schirm, mein Kopf schwirrte, meine Ohren sausten. Ich fürchte mich vor Flugzeugen. Lieber würde ich mit meinen eigenen Ohren nach Los Angeles segeln. Wer weiß, vielleicht weht der richtige Wind, wenn ich 65 bin. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Von Milena Österreicher Alicia Kozameh lugt neugierig über den Brillenrand hervor. Die Autorin sitzt im Lesesaal des Österreichischen P.E.N.-Clubs und wird aus ihren Büchern lesen sowie von ihrem bewegten Leben erzählen. Sie versucht, eine rote Locke hinters Ohr zu streichen, die nach vorne gesprungen ist. „An manchen Tagen sind meine Haare so widerspenstig wie ich“, sagt sie mit einem Lächeln. Widerspenstig könnte man ihren Lebensweg durchaus nennen. Es ist das Leben einer Frau, die nie aufhörte politisch zu sein, und dafür auch ins Gefängnis musste. Kozameh wurde 1953 in Rosario geboren, der drittgrößten Stadt Argentiniens. Die Tochter eines libanesischen Christen und einer syrischen Jüdin beginnt mit vier Jahren die ersten Wörter auf Papier zu kritzeln. Seither begleitet sie das Schreiben als ihre Art, sich auszudrücken: „Wenn ich nicht schreibe, habe ich das Gefühl, ich bleibe stumm.“ Politisches Erwachen „ Wir sind alle auf eine Art verantwortlich für das, was passiert, egal, ob wir diese Verantwortung übernehmen wollen oder nicht. “ Die Argentinierin stört sich früh an den Ungerechtigkeiten, die sie umgeben: Dass ihre Eltern ihr ein Eis kaufen können, während andere Kinder auf der Straße um Geld betteln. Dass Studierende für freie Bildung protestieren müssen. Den finalen Anstoß zum politischen Aktivismus gab ihr der Tod ihres Onkels. Der Arzt wurde 1974 von der „Triple A“ (Alianza Anticomunista Argentina), einer regierungsnahen paramilitärischen und rechtsextremistischen Gruppierung, erschossen. Kozameh schließt sich daraufhin dem „Partido Revolucionario de los Trabajadores“ an, einer linken Oppositionspartei. Es sind unruhige Zeiten im Argentinien der 1970er Jahre: Die Wirtschaftslage ist schlecht, linke Guerillatruppen und rechte Paramilitärs liefern sich Auseinandersetzungen, ein Großteil der Bevölkerung lebt in Angst und Terror. 1976 putscht das Militär und errichtet unter General Jorge Rafael Videla eine der brutalsten Diktaturen Lateinamerikas. Die argentinische Schriftstellerin Alicia Kozameh hörte nie auf zu schreiben. Auch nicht als politische Gefangene unter der Militärdiktatur. Unbeirrbar äußert sie sich bis heute zu Ungerechtigkeiten und politischen Missständen. Ein Leben lang Mit 22 Jahren muss Kozameh selbst in Haft. Sie kommt in die für Folter berüchtigten Haftanstalten: zunächst ins Frauengefängnis des Polizeipräsidiums in Rosario und später nach Buenos Aires. Dennoch gelingt es ihr auch in der Haftzeit weiterzuschreiben. Sie kreiert Wörter und Ausdrücke, die die Zensur nicht verstehen würde, und schreibt sie in das einzige Notizheft, das sie besitzen durfte. „Es war nicht einfach, in dieser Zeit zu schreiben, aber es war für mich ein Teil des Überlebens“, sagt sie heute. Über die Zeit im Gefängnis, die Erfahrungen mit Folter, Einsamkeit und Ungewissheit, schreibt sie später mit anderen Ex-Gefangenen das Buch „Nosotras, presas políticas: obra colectiva de 112 prisioneras políticas entre 1974 y 1983“ („Wir, die politischen Gefangenen: Gemeinschaftswerk von 112 weiblichen politischen Gefangenen zwischen 1974 und 1983“). Nach einer Weihnachtsamnesie kommt Alicia Kozameh 1978 frei und geht wenig später nach Mexiko und in die USA, während die Militärdiktatur noch weitere fünf Jahre andauert. Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen zufolge wurden rund 30.000 Menschen unter der Diktatur „verschwunden gelassen“. Heute sind sie als „Desaparecidos“ (die Verschwundenen) bekannt. Kozameh kehrt nach Ende der Diktatur wieder in ihr Heimatland zurück. Sie veröffentlicht Kurzgeschichten und Artikel, in denen sie über die Diktatur und ihre Verbrechen berichtet. Und erhält dafür laufend Drohungen, sie möge sich nicht weiter öffentlich dazu äußern. 1987 publiziert sie ihren ersten Roman „Schritte unter Wasser“ (dt. Ausgabe 1999, Milena-Verlag), in dem sie ihre und die Erfahrungen ihrer Mitgefangenen in fiktionalisierter Form verarbeitet. Nach der Buchpräsentation in Buenos Aires stehen zwei Beamte beim Ausgang und legen ihr nahe aufzuhören und das Land zu verlassen, sonst würde nicht nur ihr, sondern auch ihrer vierjährigen Tochter etwas passieren. „Der Repressionsapparat war trotz der offiziellen Rückkehr der Demokratie noch immer intakt“, erzählt die Autorin. So verlässt sie kurze Zeit später das Land und lebt seither in Kalifornien, in der Nähe von Los Angeles. „Ein sonniger Ort zum Schreiben“, sagt sie. Ob sie sich mit ihrem Land inzwischen versöhnt habe? „Ich liebe Argentinien sehr, ich muss mich nicht mit ihm versöhnen“, antwortet Kozameh. Die aktuelle Situation, in der das Land sich befindet, mache sie aber wütend, traurig und ohnmächtig. 2023 gewann dort der libertäre Kandidat Javier Milei die Präsidentschaftswahlen. Seither erfährt Argentinien einen harten Sparkurs: Staatliche Subventionen für den öffentlichen Verkehr wurden reduziert, das Budget der öffentlichen Universitäten um mehr als zwei Drittel gekürzt, zahlreiche Ministerien aufgelöst, Geldflüsse an die Regionen reduziert. Die Antidiskriminierungsbehörde INADI wurde geschlossen, Gelder zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt gekürzt. Anfang des Sommers gingen Hunderttausende auf die Straßen, um gegen die Sparpolitik zu protestieren. Kampf um die Erinnerung Kozameh macht auch Sorgen, dass Präsident Milei und seine Anhänger und Anhängerinnen öffentlich die argentinische Erinnerungspolitik in Frage stellen. Sie sprechen über die Verfolgung der Diktaturverbrechen als Schikane und Demütigung des Militärs. Die Offenlegung der militärischen Archive wird verzögert. Die Zahl der geschändeten Erinnerungsstätten nahm zuletzt zu. „Ich habe den Eindruck, dass die Gesellschaft nicht sehr erinnerungsfreudig ist“, sagt die Autorin. Wenn man aber die Vergangenheit nicht aufarbeite, spüre man die Folgen in der Zukunft. Sie verweist auch darauf, dass die Polizei zunehmend repressiver gegen Protestierende vorgeht. „Wir sind alle auf eine Art verantwortlich für das, was passiert, egal, ob wir diese Verantwortung übernehmen wollen oder nicht“, sagt sie. „Bei euch steht bald eine Wahl an, oder?“, fragt Alicia Kozameh nun in die Runde. Mindestens zehn Mal sei sie inzwischen in Österreich gewesen. Die Übersetzerin ihrer Bücher ins Deutsche, Erna Pfeiffer, kommt aus Österreich. Die beiden verbindet mittlerweile eine 36-jährige Freundschaft. Sie reisen zusammen zu Lesungen und Konferenzen im deutschsprachigen Raum, denn Kozameh möchte weiter aktiv Erinnerungsarbeit leisten. Sie nennt die Unternehmungen „Arbeits-Roadtrips“, Urlaub mache sie nie. Deshalb sei es gut, wenn die Reisen auch erfreuliche Aspekte enthielten: lange Gespräche während der Autofahrten, genüssliche Kaffeepausen sowie die vielen Grünschattierungen der Landschaft in Österreich, von denen sie auch nach dem zehnten Besuch wieder aufs Neue beeindruckt ist. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Foto: Alexander Chitsazan Motivation zum Aktivismus Alicia Kozameh stört sich früh an den Ungerechtigkeiten, die sie umgeben. Den Anstoß zum politischen Aktivismus gab ihr der Tod ihres Onkels. Der Arzt wurde 1974 von einer regierungsnahen Gruppierung erschossen.

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