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DIE FURCHE 10.10.2024

DIE

DIE FURCHE · 41 16 Literatur 10. Oktober 2024 GANZ DICHT VON SEMIER INSAYIF Poetische Demaskierungen & Magie des Materials „p opanz“ lautet der Titel des neuen Gedichtbandes von Axel Karner. Bis aufs Skelett reduziert, wird der Schein menschlicher Aufgeblasenheit in den 45 Gedichten vorgeführt, entkleidet, ja entblößt und immer wieder in unterschiedliches Licht gesetzt. Wer oder was sich da schreckgespenstmäßig aufbläst oder aufgeblasen hinters Licht geführt wird, ist nicht immer ganz klar. Und schon gar nicht hinter welches Licht? Die Titel der Gedichte sind nach dem Alphabet angeordnet. Von A bis Z, also von „arschloch“ bis „zivilfahnder“. So steht z.B. der „bettler“ neben dem „bürgermeister“, der „idiot“ neben dem „jadeschnitzer“, der „kapitalist“ neben der „köchin“ und der schneckensammler neben dem „schriftsteller“. „hudelst mit burgunderresten / stänkerst drei vier gelage / an der niere herum / zerreißt dem nachtwinkel / s grünzeug“, so die ersten Verszeilen im Gedicht „jadeschnitzer“. Eine Mischung von konkret angriffslustiger Verhöhnung, scharfer Kritik, ironischem Augenzwinkern und überraschenden Formulierungen, tragen eine produktive „Unlesbarkeit“ im Sinne von Geheimnissen in sich. Radikale Verknappungen, Alliterationen, Endreime, Ellipsen, Synkopen, und ganz besonders das rhetorische Stilmittel der Apokope, bei dem der letzte Buchstabe oder die letzte Silbe eines Wortes weggelassen wird, rhythmisieren und verstärken die blitzhaft schneidenden poetischen Attacken, die jeden verdächtigen, nichts bestätigen, keine Antworten geben und viele Fragen eröffnen. 53 Gedichte, die alle metrisch ungebunden, ohne Endreime und in freien Versen notiert sind, finden sich im noch unveröffentlichten Manuskript von Michael Jeitler, mit dem Titel „in die lohe geworfen“, wieder. Die Gedichte scheinen wie Schattenrisse einer präzisen Sinnlichkeit, im Aufeinandertreffen eines menschlichen Körpers mit Materialien verschiedenster Art, Natur, Geist und Sprache. „durchs schweigegitter dringen / vage sätze in dein haus“, heißt es in den beiden ersten Verszeilen des ersten Gedichtes. Das unerbittliche Ein- oder Vordringen von Sprache scheint alternativlos und führt zur Notwendigkeit sprachreflexiv poetischer Verarbeitung. Alliterationen sind dabei ein häufiges, klanglich rhythmisierendes Element. „schritte schreiben zeilen / nah am sockel / als ob / die leisten lesen könnten“, jede Geste, jede Bewegung des Körpers ist also in der Lage zu einem Zeichen zu mutieren, nicht nur zur Sprache zu kommen, sondern unmittelbar Sprache zu werden. Dieses umfassende und radikale Verständnis von Sprache ist so überzeugend wie bedrängend. Und die Frage, ob der Mensch die Welt liest und/oder die Welt den Menschen, ist zumindest gestellt, wenn auch bewusst nicht eindeutig beantwortet und das ist ganz im Sinne dieser poetischen Reflexionen. Eine magische Facette in den Gedichten stellt das schöpferische Zusammenkommen von Körperlichkeit und Natur dar, heißt es doch an einer Stelle: „die zungenspitze / zeichnet // in die mitte der / empörung / ein gestrüpp“. „ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (nächstes: 17.10.2024) Lyrik vor. FEDERSPIEL Sein und Haben Lob kam auf, als wir den Film „Favoriten“ besprachen, das Bewusstsein für die Probleme der Schulkinder und ihrer Lehrerin. Die Einmahnung der Pflicht des Staates, seine Bürger und Bürgerinnen zu schützen, und zwar vor achtloser Bildungspolitik, die die Jüngsten trifft, ihnen Chancen verbaut. Die Lehrerin deckte die Rollen der Sozialarbeiterin, Psychotherapeutin, Vertrauten, Integrationsmeisterin, Wissensvermittlerin, Demokratin und selbstbestimmten Frau ab. Sie war einfühlsam, las die Leviten und sorgte für emotionale Zerreißproben. Zweifel stiegen auf. Sie beurteilte nämlich vor laufender Kamera die Arbeiten der Kinder. Ab wann hätte die Kamera zurückgehen, ihren Blick vor der Verzweiflung mancher Kinder senken sollen? Gewiss, eine Frage der Wahrhaftigkeit künstlerischer Mittel. Aber Kindern droht das Gefühl der Entblößung, wenn ihre Verzweiflung gefilmt wird. Immerhin werden die Gefilmten vielfach vorgeführt, da die Doku Erfolg hat – was ihr zu wünschen ist, weil sie gut ist. Auch gut für die Probanden? Wie geht es einem Kind, wenn es popanz Gedichte von Axel Karner Wieser 2024 52 S., geb., € 18.90 „Das Persönliche ist politisch“ Foto: Getty Images / Andreas Rentz Tsitsi Dangarembga, Ehrengast beim heurigen Festival „Literatur im Nebel“: mit ihrer Literatur, ihren Filmen und Essays eine wichtige Stimme Simbabwes. Von Brigitte Schwens-Harrant sich auf der Leinwand weinen sieht, weil die Selbsteinschätzung mit dem Nicht Genügend nicht übereinstimmt? Die Grenze zwischen Entblößung und Dokumentation lässt sich wahren. Mein bitterer Beigeschmack wurde im Gespräch mit Freunden ausgekostet. Im Film „Sein und Haben“ war 2002 ein Allround-Lehrer mit seiner französischen Dorfschule porträtiert worden. Der Film war großartig, ein Bestseller. Die Dargestellten fühlten sich aber ausgenützt und wollten den monetären Anteil am Werk einklagen. Da es sich um eine Doku handelte, wurde die Klage in Frage gestellt. Was hat man vom Sein auf Leinwand, wenn man Material abgibt und sich als Nicht- Selbstbestimmter nicht distanzieren kann? Die Kinder in der Doku von Ruth Beckermann sind als Stars zu huldigen. Darf man das, oder tut man ihnen nichts Gutes damit? Die Autorin ist Schriftstellerin. Ihr Roman „Aufbrechen“ wurde 2018 von der BBC als eines der 100 besten afrikanischen Bücher ausgezeichnet, „Überleben“ stand 2020 auf der Shortlist des Booker Prize. Von Lydia Mischkulnig Erinnerung beginnt grau mit einem Zimmer, das Empfangszimmer „Die genannt wurde, und es sind keine guten Erinnerungen“, schreibt Tsitsi Dangarembga in einem ihrer Essays. „Das Zimmer war voller Spielsachen in den buntesten Farben. Das meiste davon war mir neu: Lego, eine Rennstrecke mit Autos, ein Schaukelpferd. Ich spielte mit einer Leidenschaft, die aus dem Fehlen solcher Spielsachen in den bisherigen zweieinhalb Jahren meines Lebens resultierte.“ Das Zimmer lag in einem Haus in Dover an der Südostküste Englands, die Familie war aus Südrhodesien hierhergereist. „Als ich in das Wohnzimmer hüpfte und mich umsah, bemerkte ich, dass meine Eltern nicht mehr da waren. Meinem Bruder und mir wurde gesagt, dass unsere Eltern gegangen seien und wir hier, in der Obhut der bleichen Leute, leben würden.“ Es war das Jahr 1961, jahrzehntelang hatte „das Imperium“ Afrikaner zum Studium nach England geschickt, später auch mit ihren Familien – da den Behörden aufgefallen war, dass sich die Studenten nach ihrer Rückkehr nicht mehr gut in ihre Familien integrierten und zudem Beziehungen mit Britinnen eingingen. 1955 erschien die erste Suchanzeige nach Pflegefamilien für afrikanische Kinder in einer Londoner Zeitschrift. 1960 waren bereits die Kinder von etwa 11.000 afrikanischen Studenten überwiegend in Pflegefamilien untergebracht, bei Arbeiterfamilien in Kent, Surrey, East Sussex, Hertfordshire und Essex. Tsitsi Dangarembga, die 1959 in Mutoko geboren wurde, war eines von ihnen. Die Folgen für das kleine Kind waren enorm: „Ich war ganz gewesen, als ich das Empfangszimmer verließ. Eine Guillotine fiel auf mich herab, als ich das Wohnzimmer betrat, und trennte viele Teile von mir ab, die eigentlich gemeinsam wachsen sollten, doch in diesem Augenblick auseinanderstrebten.“ Mittlerweile, schreibt Dangarembga, werden Berichte über die Unterbringung und ihre Folgen veröffentlicht: Viele waren traumatisiert, manche kamen zwar wieder zu ihren biologischen Eltern, blieben aber in England. Wer in sein Herkunftsland zurückkehrte, dem drohte ein weiterer immenser Bruch: Denn man sprach anders, nicht wie jene zuhause, man gehörte weder zu den einen noch den anderen. „Es vergeht nicht ein Tag, an dem ich nicht daran denke, wie der Kolonialismus meine Familie zerrissen hat, und obwohl ich mir als Kind die Brustwarzen wegkratzte und mich mit Glasscherben ritzte – ohne dass meine Pflegefamilie etwas davon bemerkte – und um einen Bruder trauere, der zu jung gestorben ist, gehöre ich doch zu denen, deren Erfahrungen glimpflich sind im Vergleich mit denen Millionen anderer im Lauf der Jahrhunderte“. Tsitsi Dangarembga, die 2021 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, beschreibt in ihren Essays die Auswirkungen des Imperiums auf das Leben der Einzelnen. Persönliche Erinnerungen verbindet sie mit luziden Analysen der durch die koloniale Vergangenheit bis in die Gegenwart geprägten Gesellschaft. „Der feministische Slogan ‚Das Persönliche ist politisch‘ machte mir klar, dass Entmachtung in Gemeinschaften geschieht und deswegen auch die Wiedererlangung von Macht gemeinschaftliche Elemente aufweisen muss in Kooperation mit dem Persönlichen. (...) Praktisch hieß das, dass ich mich in dem, was ich schrieb, mit der Stellung der Frau in meiner Gesellschaft und den Formen der Weiblichkeit, die mir vertraut waren, auseinandersetzen musste. Dieser Prozess mündete in die Beschäftigung mit Tambudzai, der Protagonistin von ‚Aufbrechen‘, und den Frauen um sie herum.“ Systeme und Konflikte schreiben sich in die Körper und Seelen ein. In ihrer Romantrilogie „Nervous Conditions“ (1988; dt. „Aufbrechen“), „The Book of Not“ (2006; dt. „Verleugnen“) und „This Mournable Body“ (2018; dt. „Überleben“) macht Dangarembga am Beispiel ihrer literarischen Figur Tambudzai, deren Lebensweg man folgt, die immensen Schwierigkeiten sichtbar und spürbar, als schwarze Frau im späteren Simbabwe zu einem selbstbestimmten Leben zu finden. Am 11. Oktober um 20 Uhr spricht Tsitsi Dangarembga beim Festival „Literatur im Nebel“ mit Brigitte Schwens-Harrant. literaturimnebel.at Schwarz und Frau Gedanken zur postkolonialen Gesellschaft. Von Tsitsi Dangarembga. Übers. von Anette Grube Quadriga 2023. 160 S., geb, € 22,70

DIE FURCHE · 41 10. Oktober 2024 Film 17 ANIMATIONSFILM Die Ausgebeuteten Von Sarah Riepl Manchmal plagt Sadina die Einsamkeit abseits des eigenen Zuhauses. Das Leben der Rumänin ist eintönig und kräfteraubend. Fitnessübungen und Online-Gespräche mit der Familie zuhause in Rumänien helfen ihr dann durch die Tage. Schon 14 Jahre lang hält sie jeweils drei bis fünf Monate am Stück in Österreich durch, ehe sie für einen Monat nach Hause darf. Mit derart langen Einsätzen ist sie eine seltene Erscheinung in der Branche. Die 50-Jährige ist 24-Stunden-Pflegerin. Seit Jahren kümmert sie sich mit Hingabe um die 85-jährige Elisabeth Pöschl in Bad Vöslau. Sie ist pflegende Stütze und Freundin zugleich – rund um die Uhr und ungeachtet des eigenen Gemütszustands. Etwa, wenn Elisabeth das Essen verweigert oder Sadina beim Waschen wegen eines vermeintlich kalten Waschlappens beschimpft. Doch die beiden mögen einander. Als eingespieltes Team scherzen und schimpfen sie in gelernter Routine. „24 Stunden“ fungiert als Frauenportrait und sozialpolitische Auseinandersetzung gleichermaßen. Über Sadinas Online-Kontakte mit Kolleginnen erzählt der Film zudem von der Ausbeutung in der Pflege und einer extremen sozialen Schieflage in Europa. In ruhiger Beobachtung schöpft Harald Friedls Doku ihre emotionale Kraft primär aus der Figur der einnehmenden Protagonistin Sadina Lungu. Man verspürt tiefe Bewunderung für die Rumänin, die jedes Jahr zehn Monate mit hingebungsvoller Pflege verbringt. Man merkt, dass ihr die 85-jährige Klientin ans Herz gewachsen ist, denn es ist bekümmerte Besorgtheit zu spüren, wenn sich deren Zustand verschlechtert. Friedl versteht es, geschickt die Eintönigkeit des Lebens seiner Protagonistin darzustellen, indem er alternierend die Pflege von Pöschl und Sadinas Leben abseits der Betreuung zeigt. Deren Privatleben ist von routinierten Abläufen geprägt, die sich monoton wiederholen. Friedl symbolisiert diese Monotonie, indem er immer wieder die gleichen Privatszenen zu zeigen scheint, dabei handelt es sich um verschiedene Aufnahmen. „Der Film soll Bewunderung für Frauen wie sie wecken, den Respekt vor ihnen nähren und einen Beitrag leisten, anders über Pflege nachzudenken“, sagt Friedl über den Film, der mit Eifer seine Botschaft verbreitet. Ein Weckruf, denn: Rund 62.000 Pflegerinnen, vor allem aus Rumänien und „ Seit Jahren kümmert sich Sadina Lungu mit Hingabe um Elisabeth Pöschl in Bad Vöslau. Sie ist pflegende Stütze und Freundin zugleich – rund um die Uhr. “ Nonstop kümmern Sadina (rechts) und ihre Klientin Elisabeth sind einander eng verbunden. Es ist ein positives Beispiel für die 24-Stunden- Pflege – aber die Arbeit geht trotzdem an beider Substanz. Harald Friedl folgt in seinem Dokumentarfilm „24 Stunden“ einer rumänischen Pflegekraft, die sich in Österreich monatelang am Stück und rund um die Uhr um ihre Klientin sorgt. der Slowakei, sind in Österreich derzeit in etwa 30.000 Haushalten als 24-Stunden- Betreuung engagiert. Sie betreuen Bedürftige unterschiedlicher Pflegestufen, geben Hilfestellung beim Essen, bei der Körperpflege und im Haushalt. Sie erledigen Einkäufe und koordinieren die medizinische Versorgung. Auf dem Papier verrichten sie ihre Arbeit in Selbständigkeit, werden aber meist über Agenturen vermittelt. So zahlen sie in das hiesige Sozialsystem ein, haben aber weder Anspruch auf Mindestlohn- und Arbeitszeitregelungen, noch auf bezahlten Krankenstand und Urlaub – und werden so Opfer ausbeuterischer Verhältnisse. Sie leisten Gesellschaft, entlasten Angehörige, ermöglichen einen Lebensabend in den eigenen vier Wänden, verfallen aber selbst in Isolation und Überarbeitung durch die seelisch und körperlich belastende Arbeit. Ein Film, der zeigt, was niemand sehen will. 24 Stunden Ö 2024. Regie: Harald Friedl. Dokumentarfilm. Polyfilm, 100 Min. Spielzeug- Vorgeschichte Es wird nichts mit der mythologischen Dimension der Rolle zu tun gehabt haben, dass Orson Welles 1985, nur Tage vor seinem Tod, einem planetenfressenden Roboter in einem „Transformers“- Film die Stimme lieh. Allerdings: Die Kreativen, die über die Jahrzehnte hinweg ein schier unüberschaubares mediales Universum rund um die wandelbaren Hasbro- Spielzeuge aufgebaut haben, griffen dabei immer gern auf menschliche Legenden wie die Artus-Sage zurück. Solche Versatzstücke kommen auch bei „Transformers One“ zum Tragen, wenn die Vorgeschichte eines epischen Konflikts erzählt werden soll. Die Bewohner des Planeten Cybertron haben schon bessere Tage gesehen. Ihre Lebensquelle etwa, die vor dem Krieg gegen die Quintessons in Strömen floss, muss nun untertage abgebaut werden. In dieser Welt aus Brot und Spielen wäre Orion Pax nur das kleinste Rädchen, doch der Minenroboter glaubt, dass mehr in ihm steckt. Dieser Traum beschert ihm und seinem besten Freund D-16 ständig Ärger; erst recht, als sie sich auf die Suche nach der verschollenen Matrix der Macht begeben – und die wahren Gründe entdecken, warum Cybertron kein paradiesischer Ort mehr ist... Zu hundert Prozent computeranimiert, mag das Werk zwar visuell auf der Höhe sein, narrativ ist es jedoch eine Mischung aus plumpen Dialogen und Action im ADHS-Tempo. Zwischen Marvel und Co. fehlt „Transformers One“ oft auch die eigene Handschrift: Einmal fühlt man sich an „Thor“ erinnert – nicht unbedingt, weil Chris Hemsworth in beiden mitspielt –, dann an „Alita: Battle Angel“ – aber nicht allein deshalb, weil eine der Figuren Elita heißt. Ein insgesamt wenig überzeugender Teil der Saga. (Thomas Taborsky) Transformers One USA 2024. Regie: Josh Cooley. Mit den Stimmen von Chris Hemsworth, Scarlett Johansson und Steve Buscemi. Constantin. 104 Min. Zu hundert Prozent computeranimiert, fehlt es „Transformers One“ oft an einer eigenen Handschrift. MELODRAM Trauma, Demenz und das Therapeutikum Liebe Eine ungewöhnliche Liebe entwickelt sich zwischen Peter Sarsgaard und Jessica Chastain. Der Handlungsmix, den der Mexikaner Michel Franco für sein mitnehmendes Beziehungsdrama „Memory“ zusammengebraut hat, ist nichts für schwache Nerven. Und doch entpuppt sich der Film als leidenschaftliches Plädoyer für die Liebe in unglaublichen Wirrnissen. Was der New Yorker Sozialarbeiterin Sylvia (Jessica Chastain), die in einer psychosozialen Tagesklinik arbeitet, in ihrem Leben schon widerfahren ist, bietet Stoff für mehrere Filme über ganz und gar verkorkste Leben: Sie ist eine (trockene) Alkoholikerin mit einem Missbrauchstrauma, sexuellen Belästigungserfahrungen und zerbrochenen Beziehungen sowie alleinerziehende Mutter der halbwüchsigen Tochter Anna (Brooke Timber). Vom Leben gezeichnet, scheint das Entrinnen daraus fast unmöglich. Die alles andere als piekfeine Wohnung sichert Sylvia mit mehreren Schlössern und einer Alarmanlage: Sie muss sich auch physisch schützen vor der Welt, die ihr so viel angetan hat. Immerhin kann sie gemeinsam mit Anna den 13. Jahrestag ihres Trockenseins feiern. Die Anonymen Alkoholiker sind längst Teil ihres Daseins. Und da ist noch das Jubiläumstreffen von Sylvias Highschool-Klasse, von dem sie, einsam wie je, nach Hause trottet. Doch da folgt ihr ein Mann, unheimlich. Am nächsten Tag liegt er, Saul (Peter Sarsgaard), immer noch vor ihrer Tür. Sie erkennt in ihm den einstigen Mitschüler, mit dem sie auch eine traumatische Erfahrung gemacht hat. Aber Saul erinnert sich nicht daran. Er leidet an Demenz und weiß nur, dass ihn eine unbändiger werdende Kraft mit Sylvia verbindet. Auch wenn sie es ganz und gar nicht will, gibt Sylvia dem mehr und mehr nach: Eine Liebesbeziehung zwischen der gebrochenen, fragilen Frau und dem Mann ohne Gedächtnis bahnt sich den Weg. Zwei gefallenen Königskindern, zwischen denen das Wasser eigentlich viel zu tief ist, kann man beim Zueinanderkommen zuschauen. Obwohl Melodram, legt Michel Franco seinen Film ganz und gar nicht melodramatisch an, die gesellschaftlichen und persönlichen Fallstricke bleiben. Aber das Vergessen des einen und das Nicht-Vergessen- Können der anderen hindern die Liebe nicht. Jessica Chastain spielt Sylvia brillant, Peter Saarsgard ist als dementer Saul noch besser (er bekam in Venedig 2023 den Darstellerpreis). Und die Musik – von Johann Sebastian Bach bis zum Procol-Harum Hit „A Whiter Shade of Pale“ aus 1967 – trägt viel dazu bei, dass „Memory“ ein eindrückliches Kinoerlebnis wird. (Otto Friedrich) Memory USA/MEX 2023. Regie: Michel Franco. Mit Peter Sarsgaard, Jessica Chastain, Brooke Timber. Filmladen. 100 Min.

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