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DIE FURCHE 10.10.2024

DIE

DIE FURCHE · 41 14 Literatur 10. Oktober 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 13 fix aus, wird aber gewiegt. Durch regelmäßige Rhythmen vor allem wird eine infantile Leseszene hergestellt, in der man sich dem Text aussetzt wie einerm Liebhaberni – oder seine Windeln nimmt und weggeht, wenn man die Schnauze voll hat. Das passiert oft und ist verständlich. Man kann aber auch ruhig gelegentlich auf ein kleines Geschaukel wiederkommen, in diesen Momenten fällt manchmal das eine oder ander im Hirn an den richtigen Platz. Diese milde offene Geduld geht beim Anbieten von Gedichten, bei der Klimapolitik leider nicht. An Degrowth oder Wirtschaftsberuhigung führt kein Weg vorbei, die Frage ist nur, ob freiwillig und einigermaßen geordnet und selbstbestimmt, idealerweise elegant, oder eben unfreiwillig. Im zweiten Szenario arbeiten wir weiterhin, auch in der Kulturindustrie, der Kontinuität der Profitstrukturen zu, ihren kulturellen Belohnungssystemen, mit den entsprechenden Werten. Dem Wahn nahe Dass Unternehmen sich eine Person wie Lavant aneignen, kann eigentlich nur nationalistisch verstanden werden: im internationalen Größenvergleich sind wir, wie Lavant, schwächliche Loser, wenn man es so betrachtet, aber wir haben etwas Besonderes. Wir sind dem Wahn nahe. Wir empfinden eine synästhetische Poesie in der Ordnung der Dinge und pflegen die obsessiv. Das finde ich als Ösy selbst auch wirklich gut. Wir müssen halt schauen, dass wir nicht in einen lächerlichen Größenwahn verfallen und uns nicht einreden lassen, man müsse unsere Kleinheit und Niedlichkeit zum global erfolgreichen Business expandieren. Aber vieles geht tatsächlich leichter in einem kleineren Land. Doch Selbstverniedlichung verschweigt, wie auch die niedlichsten Käfer einander die Köpfe ausreißen können. Christine Lavant hat die Spannungen gespürt, die in einem Dorf daher kommen, dass man sich fast nicht verstecken kann, dass fast alle fast alles voneinander wissen. Ein Dauerstress, denkt man, als Städterni. Und bewundert den Mut, den Gleichmut, den gegenseitigen Respekt oder zumindest Toleranz, die am Land zu finden sind, in der Anerkennung, dass alles nicht so einfach ist, gerade, wenn alte und neue Strukturen nebeneinander existieren und ineinandergreifen, wenn immer wieder unklar ist, ob neue Ideen spinnerter Quatsch sind oder am Ende die Business-Idee des Jahres, oder beides zugleich. Lesen Sie hier die Dankesrede von Yevgeniy Breyger: „Christine Lavant Preis 2023 geht an Yevgeniy Breyger“, 11.10.2023, furche.at Gibt das geschriebene Wort hier Stabilität? Oder bringt es durcheinander: dass Habitus und Intention, Selbstverständnis, Selbstbild und Erscheinung nach außen die Seh- und Urteilsgewohnheiten durchbrechen? Als Ausgeburt einer Generation, der es selbstverständlich schien, niemals über andere dem Aussehen nach zu urteilen, und die es trotzdem die ganze Zeit taten, merke ich doch, wie ich auch zulassen muss, dass sich meine Bilder auflösen, vielleicht ohne, dass sich neue formen. Wer Freude hat, Freunde, Wissen, Umsicht, Skills, und vielleicht auch Eleganz, der nicht käuflichen Sorte – die einfach bedeutet, dass man irgendwas verstanden hat und nicht blind ohne Plan versucht irgendwas zu imitieren – braucht sich vor Armut nicht fürchten. Sie ist vielmehr die Bedingung für Eleganz, mit der bekanntlich auch der gute Geschmack der Adeligen flirtet, von der auch jeder Reichtum abhängig ist, produziert Reichtum doch notwendig Armut, oder vice versa? Zur Vernunft der Armut muss aber die furiose Diva dazukommen, mit Monika Rinck modernisiert und problematisiert, das Fordern von Spezifischem, das nicht mit Geld oder Prestige aufgewogen werden kann. Zeit also und „ Wenn alle in Hysterie verfallen, einander nachplappern, sich unterwürfig verhalten angesichts scheinbarer Sachzwänge, muss sie kühlen Kopf bewahren. “ verbindliche Unterhaltung. Forderung eines Grundstandards im Realismus oder Naturalismus, der nicht grundlegende Fakten der Physik und Vernunft verweigert, wie so vieles der gegenwärtig verbreiteten Lebens- und Schreibarten. Angebote kommodifizierender Verhältnisse, Reduktionen müssen dazu verweigert werden, „beides wahrscheinlich ganz nett“ geht nicht. Die Bedingungen der Heiterkeit ernst zu nehmen, verlangt die Diva. Wenn alle in Hysterie verfallen, einander nachplappern, sich unterwürfig verhalten angesichts scheinbarer Sachzwänge, muss sie kühlen Kopf bewahren. Wenn alle die Resignation predigen, wenn überall die Glocken zum Kompromiss läuten, dann muss die Diva aber wiederum die Möglichkeit des scheinbaren Irrsinns nicht scheuen, das wilde Sprechen, die Zerstörung, die Laune, den amor fati in die Szene einführen, ohne zu wissen, was daraus werden wird. Sie garantiert gegen die Sicherheit des Mediokren, die nicht einmal wirkliche Sicherheit ist, nur ein weitergegebenes Etikett, auf dem „Sicherheit“ draufsteht. Dichtys sind natürlich irgendwie keine Diven, sondern in ihrer Nachdenklichkeit (hoffentlich) naturalberne Figuren. Wir müssen da durch, stehen wir doch berufshalber notwendig außerhalb der Gesellschaft. Sollen wir auch – um anders sprechen zu können, um die Sprache verändern können; nicht kreativ oder planlos, sondern nach genauestem Studium der Sachlagen in allen möglichen Bereichen. Man sieht uns unsere selbstgemachten Haarschnitte und abgewetzten Billigschuhe nach, und das sei auch zugeraten. Wir sind der Schlüssel zu eurem Schloss. ner sehr fatalen Verbesserungswut anzusehen ist, so hat sie mit der Einführung der Schulpflicht ihr eigenes Korrektiv mitgeliefert. Wenn, wie Hans Kohn über Martin Buber, ihn zitierend, schrieb (und ich wiederum zitiere das alles nach einer Anstreichung von Paul Celan, präsentiert in einem Aufsatz von Axel Gellhaus), „das Sinnbild Gottes, mit dem ihn der menschliche Geist erfasst“, immer näher (herznäher) angesiedelt wird („der es vor fünftausend Jahren in den Sternen schaute, erblickt es heute im Auge des Freundes“), so liest es sich nach Walter Benjamin („Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“) als Kommodifikation und ist auf jeden Fall eine Horizontverengung. Die technologische Näherrückung bringt ja nicht mit sich die Fähigkeit, mit Fremdem und Fernem umzugehen. Aus meiner Sicht ist es aber weder eine Begrüßung der neuen Nähe, noch auch ein Bedauern des Verlusts einer derartigen Lesbarkeit der Sterne, die Celan zur Anstreichung bewegt, sondern die gedankliche Überbrückung der Distanz, die zugleich eine Wahrnehmung, ein Zurkenntnisnehmen der Distanz ist – nicht ihre Eingemeindung, Überwindung, Eroberung oder Auffüllung. Auch bei Lavant, die aus anderen Gründen eine Außenseiterin der Gesellschaft war, kann und darf die nachträgliche Anerkennung nicht distanzlos werden. Celan zieht in seiner Anstreichung die Verbindung zum Gedicht „Windgerecht“ aus „Sprachgitter“, in der es „Die Stimmen:“ sind, die „windgerecht, herznah, brandbestattet“ erscheinen. Wenn es bei Paul Celan zentral um das Thema des Schreibens oder Weiterschreibens in deutscher Sprache geht, nachdem es dazu gekommen ist, dass das System deutsche Sprache das bewusste Ignorieren und Absehen von Konzentrationslagern, Zwangsarbeit, Verfolgungen und Denunziationskultur beinhaltet, dann ist Distanz keine mit ja oder nein beantwortbare, ja überhaupt keine beantwortbare Frage. Die Unmöglichkeit, auf dieselbe Weise weiter zu schreiben, hat mit diesen Stimmen zu tun und der Notwendigkeit, die Strecke offenzuhalten, die Wellenlänge bereitzustellen, auf der sie – die Toten – denen mithilfe von Anwendungen der Gelobtes Brot „Brich nur weiter das gelobte Brot“, schreibt Lavant 1956 in „Die Bettlerschale“ und darin sind so viele Töne. Mit dem „gelobten Brot“ könnten wir 2024 ganz banal die Lebenswirklichkeit verknüpfen, dass es schwer geworden ist, gutes Brot zu finden, während die Supermärkte damit werben, dass sie ihre gefrorenen Teiglinge den ganzen Tag lang frisch aufbacken. Als Städterin kann ich damit leben, doch wie ein Wunder stelle ich fest, dass das wirklich gute Brot gut eine Woche hält, und noch, wenn es trocken ist, schmeckt wie ein ganzer Wald voller Vogelgesang. Bzw. wie ein Weizenfeld voller Vogelgesang. Aber die populäre Massenproduktion – standardisiert, wollte ich schreiben, aber auch die traditionelle Brotkunst ist genau und nicht kreativ oder beliebig. Das mit dem gelobten Brot darf nicht kitschig missverstanden werden, Landwirtschaft war immer hart, Höfe haben sich in ihrer Kultur immer unterschieden, in der europäischen Ethnologie werden sie mal idealisiert und mal schwarzgemalt, in Wirklichkeit wie immer gemischte Sache. Menschheit war ganz bestimmt nie besser und nie schlechter, durchschnittlich aufgerechnet, als heute. Spezifischer mediengeschichtlich und noch spezifischer sprachgeschichtlich ist aber interessant, wer wie das Verständnis hatte, jenseits von ererbter, formalisierter Macht, aus dem heraus sinnvolle Veränderungen möglich werden. Wenn die Aufklärung, auch die Maria Theresianische Förderung der Verbesserungsvereine, in mancher Hinsicht als der Anfang eideutschen Sprache, auch Schriftsprache, schon zu Lebzeiten ihr Leben genommen wurde – zugleich nah und fern den Schmerz beantworten können. Nur sie können antworten. Diese Sprache, auch Schriftsprache, ist es aber auch, die Christine Lavant ein volles Leben, eine Kommunikation mit fernen Menschen erlaubte. Es hätte auch Englisch oder Chinesisch sein können. Wie man sich auf einen neuen Menschen einlässt, so auch auf eine neue Sprache, und wenn es möglich wird, dabeizubleiben, eröffnen sich dadurch neue Welten. Die Sprache, die in einer Funktion Todesurteile in hohnvoller Sprache formulierte und performierte, war und ist dieselbe Sprache, die Kindern und Jugendlichen einen Ausweg aus ihrem dumpfen, hoffnungslosen, kleinkarierten Zuhause verschafft. Diese Spannung kann nicht weggeputzt werden, die Sprache ist die beste, vieldeutigste, liebenermöglichendste Art von Denk- und Mahnmal, die wir haben, weil wir sie nicht unter Kontrolle haben. Sowohl Celan als auch Lavant gingen mit der Sprache extrem vorsichtig, ja hypersensibel um, hyperaufmerksam auf jede Nuance und Neigung. Diese Genauigkeit gibt der Fachfrau, dem Fachmann Halt, und festigt siehn gegen die immer anbrandende Ignoranz und Achtlosigkeit der alltäglichen Geschäftigkeits- und Geschäftstüchtigkeitssprache. Dank ihr kann man sich in der schmalen Ritze zwischen Psychose und Hochfunktionalität eine durchaus stabile Arbeitsform erbohren und erblühen. Die Blume, aus dem Asphalt gestampft, das war kein leeres Versprechen. Ohne Empfängerni aber bleibt sier ein Gespenst. „Brich nur weiter das gelobte Brot“, schreibt Lavant, in einem Ton, dessen Stoßrichtung man auf Anhieb nicht recht einordnen kann. Brot soll man ja brechen, da das Schneiden die Krume anders desorganisiert, und dies als Symbol für das gesellschaftliche Umfeld des Brotbrechens gelesen wird. Eine dieser physischen Metaphern, die ein Eigenleben anzunehmen scheinen. Was ist die Drohung in diesem Ton? Wird hier etwa an der Stelle von „Brot“ auch der „Krug“ als Echo gehört, der so oft zum Brunnen geht, bis er bricht? „ Wie man sich auf einen neuen Menschen einlässt, so auch auf eine neue Sprache, und wenn es möglich wird, dabeizubleiben, eröffnen sich dadurch neue Welten. “ »Großes, episches und sehr cineastisches Direct Cinema.« DOK.fest München Ein Film von Harald Friedl

DIE FURCHE · 41 10. Oktober 2024 Literatur 15 Eine besonders grausame Ausprägung von Gewalt und die Auswirkungen toxischer Familienbeziehungen auf das gesamte Leben erzählt Valerie Fritsch in ihrem Roman „Zitronen“. Sie ist damit für den Österreichischen Buchpreis nominiert. „Das Rettende wuchs nirgendwo“ Von Maria Renhardt Zitronen lassen an das Aroma von Sommer, Sonne und kühlender Erfrischung denken. Tatsächlich repräsentieren sie im vierten Roman der österreichischen Autorin und Fotokünstlerin Valerie Fritsch – er trägt den schlichten Titel „Zitronen“ – auch bittersüßes Glück und Freiheit, vor allem aber „ein Gefühl radikaler Lebendigkeit“, wie es hier heißt. Fritsch, die einen Großteil des Jahres auf Reisen ist, fotografiert und schreibt, kann als junge Autorin bereits auf beachtliche literarische Erfolge zurückblicken. 2015 hat sie in Klagenfurt bei den „Tagen der deutschsprachigen Literatur“ für ihren Text „Das Bein“ den Kelag- und den Publikumspreis erhalten. Ein Jahr später wird sie mit dem bei Suhrkamp erschienenen Roman „Winters Garten“ bekannt. Auch für den nächsten Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“ bekommt sie einen renommierten Literaturpreis und viel Lob von der Kritik. In ihrer neuen Prosa setzt sie sich thematisch mit vielfältigen Facetten von Gewalt und den daraus resultierenden psychischen Folgen auseinander. Dafür hat Fritsch im Vorfeld intensiv recherchiert und „in verwirrend erschöpfenden Nachmittagen“ zahlreiche Gespräche mit Tätern und Opfern geführt: „Ich habe mit Mördern Kaffee getrunken“, sagt sie im Interview mit dem deutschen Domradio. Anderswo erklärt sie, sie habe beide Seiten ausloten, sich über Intentionen klar werden und Persönlichkeitsdispositionen genauer verstehen wollen. Im Zentrum des Geschehens steht das Einzelkind August Drach. Der Junge leidet unter den Familienverhältnissen, nimmt sie aber hin, da sich ihm kein Rettungsanker bietet. „Die Grausamkeiten hielten den Vater aufrecht, waren die Stützmuskulatur gegen den großen inneren Zusammenbruch.“ Weil alle wegschauen, ist er in dieser verlogenen Welt auf sich selbst zurückgeworfen. Augusts Mutter wagt es nicht, sich dem Wüten ihres Mannes entgegenzustellen, sondern wählt den Weg der „ausgebreiteten Arme“. Trost und Schweigen als Antwort: „Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung.“ Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins bleibt auch, als der Vater die Familie verlässt. Er, der den Sohn stets tyrannisiert, gedemütigt, gekränkt und geschlagen hat, hinterlässt keine Lücke des Schmerzes. Im Gegenteil. Auch die neue Situation bringt keinen Neuanfang. Zunächst macht sich Entfremdung zwischen Mutter und Sohn breit, denn Trostspenden sind jetzt nicht mehr nötig. Nach einer Verkühlung, die sich August im Spiel mit Freunden am See zugezogen hat, eröffnet sich für die Mutter die Möglichkeit, sich mit Zuwendung wieder Nähe zurückzuholen. Sie begreift, dass es eine stabile Krankheitssituation braucht, um diesen Status aufrechtzuerhalten. So wächst sich der handfeste mütterliche Wunsch zu heimtückischer Gewalt aus. Tagtäglich mischt sie Tabletten, die sie noch von der früheren Pflege alter Menschen hat, und anderes Gift in Augusts Nahrung, sodass er nie mehr richtig auf die Beine kommt. Kindsein und Jugend rauschen an ihm vorbei, gefangen im dunklen Krankenzimmer und in den klammernden Fängen der Mutter. Diese psychische Störung, die zunächst einem egoistischen Impetus entspringt und sukzessive immer neurotischer zutage tritt, beschreibt Fritsch in anschaulichen und eindringlichen Bildern: „Wahnsinnige Ideen wachsen unter der Stirn wie ein zweites Herz.“ Je enger die Mutter den Sohn durch das künstlich herbeigeführte Kranksein an sich bindet, desto freier und blühender entwickelt sich ihr eigenes Leben. Eine Leuchtspur Eine Reise in den Süden zum Ferienanwesen des Hausarztes Otto Ziedrich – er hat Gefallen an Lilly Drach gefunden – bringt kurzzeitig Entspannung. Denn sie hat den Rucksack mit den heimlich mitgenommenen Medikamenten in einer Raststation vergessen. Nach dem ersten Schock macht sich langsam doch Erholung breit. Und die Zitronen führen wie ein Wasserzeichen als Leuchtspur durch diesen Sommer: „Die Schönheit des Ortes rahmte die Erzählung, der fette Sommer, das orgelnde Meer, die Zitronenhaine zwischen Feld und Wasser.“ Zu Hause stehen vertrocknete Zitronenbäumchen im Glashaus sinnbildlich für das Versiegen der Vitalität im weitgefassten Sinn, hier pflückt August die sonnengereiften Früchte als Zeichen für Lebenskraft und Genesung. Auch viel später noch glänzen für August Zitronen „am dunklen Himmel … wie Sterne“. Foto: APA / Georg Hochmuth „ Ist eine emotionale Bindung ohne Verlust des eigenen Ichs möglich, wenn man die Hoheit über den eigenen Körper so lange verloren hat? “ 2011 veröffentlichte Valerie Fritsch (*1989) ihren ersten Roman. 2015 nahm sie erfolgreich am Ingeborg Bachmann Wettbewerb teil. „Winters Garten“ wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert. Die Phase der Rekreation endet so jäh wie der Sommer am Meer. Mit Hilfe des Hausarztes gelingt August aber doch irgendwann der Absprung und die Flucht in die Stadt, in der Hoffnung, dass ihn das neue Umfeld aus seiner Hilflosigkeit herausführen könnte. „Das Rettende wuchs nirgendwo.“ Später heißt es: Er war „ein Speicher der unsichtbaren Beschädigungen“. Aber was, wenn man dann auf die große Liebe trifft? Fritsch wagt sich tief in das Thema Familie hinein und zeichnet auf reduziertem Raum stilsicher und mit präziser, atmosphärisch dichter Metaphorik die Folgen toxischer Kindheits- und Jugendprägungen auf. Dort, wo die Balance zwischen Nähe und Distanz aus den Fugen geraten ist, entsteht ein Gefühlsvakuum. Matrix des Scheiterns und Suchens Zurichtungen, vorgenommen im höchst privaten Raum, finden ihren Ausdruck in Selbstverletzung, Angst, Schmerz und Schuld. Wenn sich der Protagonist einer introspektiven Schau unterzieht, findet er „in der Schachtelpuppe seines Ichs immer kleinere und noch kleinere Versionen seiner selbst“. Fritsch interessiert sich für diese Matrix des Scheiterns und Suchens, des Ringens um Begegnung und Liebe inmitten von Unbehaustheit und Leere, angesichts fundamentaler Wunden und Narben – und für Fragen, die ins Philosophische hineinführen. Ist eine emotionale Bindung ohne Verlust des eigenen Ichs möglich, wenn man die Hoheit über den eigenen Körper so lange verloren hat? Dieses schwierige Thema braucht viel Feingefühl und großes erzählerisches Potential. Fritsch verfügt über beides. „In jedem Leben gehen Bestimmung und Selbstbestimmung, Glück, Unglück und Zufall mit stiller Wirkmächtigkeit gegeneinander an, zerren an der Linie, die zwischen Geburt und Tod gespannt ist, und wehen die auf ihr Balancierenden wieder und wieder vom Weg.“ Zitronen Roman von Valerie Fritsch Suhrkamp 2024 186 S., geb, € 24,70 LEKTORIX DES MONATS Lyrische Selbsterkundungen Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur was keiner kapiert Von Michael Hammerschmid Illustrationen v. Barbara Hoffmann Jungbrunnen 2024. 112 S., geb., € 15,– Ab 13 Jahren Von Kathrin Wexberg Die Dimensionen des eigenen Ichs ausloten. Eine eigene Sprache finden. Die Merkmale der Lyrik und die Entwicklungsaufgaben der Jugend haben eigentlich einiges gemeinsam – dennoch ist Lyrik, die explizit an Jugendliche adressiert ist, überraschend selten zu finden. In Österreich setzte Elisabeth Steinkellner 2016 mit ihrem bemerkenswerten Band „die nacht, der falter und ich“ einen wichtigen Akzent und kombinierte dabei lyrische und Prosatexte. Danach kam lange nichts – bis zu diesem Buch. Schon die Buchgestaltung fällt auf: Ein Taschenbuch mit Klappenbroschur, Vorund Nachsatzpapier in knalligem Neon- Orange. Ansonsten gibt es nur einen Farb- Illustration: Barbara Hoffmann aus „was keiner kapiert“ © 2024 Verlag Jungbrunnen Wien akzent, sowohl in der Schrift als auch in den Illustrationen von Barbara Hoffmann: ein dunkles Blau, das der sprachlichen Intensität der Gedichte wunderbar entspricht. Sehr variantenreich ist hingegen die Typographie: So steht ein in blauer Schrift auf weißen Grund konventionell gesetzter Text neben einem handschriftlich anmutenden, der aber in weißer Schrift auf blauem Grund zu lesen ist. Auch sprachlich zeigt Michael Hammerschmid, der 2018 mit dem Josef-Guggenmos-Preis für Kinderlyrik ausgezeichnet wurde, was alles möglich ist im Gedicht: Gereimt und nicht gereimt, durch Zeilenumbrüche akzentuiert, in ganzen Sätzen oder aneinandergereihten Worten, in wenigen Zeilen oder über eine ganze Doppelseite. Thematisch werden nicht nur naheliegende Fragen wie Liebe und Sexualität behandelt, sondern auch gesellschaftliche Ungerechtigkeiten oder der Umgang mit Nachrichten über den Krieg. Wobei nicht der Eindruck entstehen soll, es handle sich hier um „Themengedichte“, die Texte bestechen vielmehr durch ihre Offenheit sowohl in der Form als auch im Inhalt. Die Frage „Worum geht es hier“ oder gar das leidige „Was wollte uns der Autor damit sagen?“ ist hier in den seltensten Fällen eindeutig zu beantworten – diese Mehrdeutigkeit macht es umso reizvoller, sich mit ihnen immer wieder und immer neu auseinanderzusetzen. Auch die eindrucksvollen Illustrationen entziehen sich einer eindeutigen Lesbarkeit, manchmal gegenständlich, dann wieder ganz abstrakt oder ornamental geben sie lediglich Andeutungen. Michael Hammerschmid ist ein Könner der sprachlichen Gestaltung und zeigt, wie poetisch Sprache sein kann – schreckt aber auch vor (jugendlicher) Derbheit nicht zurück. Eines der 80 Gedichte trägt den treffenden Titel „beschissen“ und was wortgewandt mit „elegie vom geld“ überschrieben ist, endet drastisch mit: „heast scheiß nochamal heast oasch“.

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