40 · 3. Oktober 2024 Weitere Stimmen zur Wahl – von Anton Pelinka, Eric Miklin, Julia Mourão Permoser, Hans Förster, Barbara Prainsack und Philipp Axmann – lesen Sie auf den Seiten 6–9 sowie 14–15. DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 80. Jg. · € 6,– der Bundespräsident den Bundeskanzler ernennt. Das setzt freilich „ein Mindestmaß an Vertrauen in die handelnden Personen“ voraus, wie Van der Bellen betonte. Er selbst werde darauf achten, „dass die Grundpfeiler der liberalen Demokratie respektiert werden: Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Menschen- und Minderheitenrechte, unabhän- Von Doris Helmberger gige Medien und die EU-Mitgliedschaft“. All dies widerspricht im Kern einem Kanzler Kickl. Vor allem: Der selbsternannte s war Anfang Oktober 1999, als tale) Transformation und die Herausforderungen der Migrationsgesellschaft mit ei- „Volkskanzler“ weiß zwar rund 29 Prozent Jörg Haider auf dem Stephansplatz sein Wahlkampffinale zelebrierte. Neben der Bühne stand Gegenerzählung aufzufangen. Ein „Fami- 70 Prozent haben ihn aber nicht gewählt. ner verklärten, ja esoterisch anmutenden der Wahlberechtigten hinter sich. Mehr als ein junger Mitarbeiter aus Kärnten, der angesichts all der Euphorie „ei- des Volkes“ geschehen lasse. Das Ressenti- aus drei Welten“ in Türkis, Rot und Magenlienvater“, der als „Werkzeug“ den „Willen Was also nun? Die Aussicht auf „das Beste ne Gansl haut“ bekam. Am Sonntag darauf ment als rechtspopulistische Essenz ist aber ta (oder Grün) ist mäßig inspirierend. Zumal es angesichts der Herausforderungen – erreichte Haider tatsächlich 26,9 Prozent – geblieben: Nun werden auch die „Besserwisser“ – neben den „Eindringlingen“ – zu Stichwort Budgetdefizit – eine tatkräftige und landete hinter der SPÖ von Viktor Klima auf dem zweiten Platz. Wie es weiterging, ist Legende: Bundespräsident Thomas pandemie spielen Kickl dabei in die Hände. der deutschen Ampel leuchtet grell nach Feindbildern erklärt. Die Pannen der Corona- Reformregierung braucht. Das Warnlicht Klestil gab zwar Klima den Regierungsbildungsauftrag, Wolfgang Schüssel schmie- Taktik – oder Verantwortung? Nehammer und Andreas Babler weiter frag- Österreich. Auch ist das Schicksal von Karl dete aber derweil ein Bündnis mit den Blauen – und wurde als Dritter Kanzler. „Fehler“ Haiders wird er nicht wiederholen. klassenkämpferische Töne wieder die brei- Nun stellt er den Kanzleranspruch, den lich. Die Strategie des Letzteren, durch 25 Jahre nach Haider stand vergangene Verwehrt man ihm dies, wird das seine Erzählung vom bösen „System“ befeuern. Das betrachtet werden. Auch dank Querschüste Masse zu gewinnen, kann als gescheitert Woche sein einstiger Mitarbeiter selbst auf dem Stephansplatz. „Was wäre dem Land erspart geblieben, wenn es einen Kanzler Hai- und der Steiermark zwei Landeshaupt- droht eine „Italianisierung“ Österreichs, weiß die ÖVP, die demnächst in Vorarlberg sen aus den eigenen Reihen. Insgesamt der gegeben hätte?“, rief er ins Glockengeläut des Steffl. „Diesen Fehler werden wir taktisch klug – auf Einhaltung der Usancen Dennoch: Die Alternative – Herbert Kickl mannsessel verteidigen muss und deshalb – wie Anton Pelinka vermerkt (vgl. S. 6–7). nicht noch einmal machen.“ Nun hat Herbert Kickl den Triumph seines Idols mit der Van der Bellen die Ernennung Kickls und Kompromissfähigkeit. Insbesondere pocht. Wohl wissend freilich, dass Alexan- am Ballhausplatz – zwingt zu Kreativität rund 29 Prozent der Stimmen noch übertroffen. Sein fulminanter Erfolg ist das Ergebnis menarbeit) dezidiert ausgeschlossen hat. ren Wählern Wort zu halten und sich nicht zum Kanzler (und man selbst eine Zusam- auf die ÖVP kommt es nun an, gegenüber ih- der Schwäche seiner Gegner – aber auch einer über Jahre konsequent verfolgten Strate- wonach die stimmenstärkste Partei den beugen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Tatsächlich gibt es keinen Automatismus, dem Willen mächtiger Lobbygruppen zu gie. Wie kein anderer versteht es Kickl, den Kanzler stellen müsse: Artikel 70, Absatz Frust durch Kriege, Krisen, Teuerung, (digi- 1 der Bundesverfassung sieht nur vor, dass doris.helmberger@furche.at Gewissensentscheidungen werden als Grundlage politischer Entscheidungen gesehen. Das ist nicht immer zielführend, wie ein christliches Beispiel zeigt. Seite 9 Der Kinofilm „Die Bologna-Entführung“ erzählt von der Verschleppung des siebenjährigen jüdischen Knaben Edgardo Mortara durch Schergen von Papst Pius IX. Seite 12 Hubert Gaisbauer über die Entscheidung, bei der Wahl dem Gewissen oder einer Strategie zu folgen – sowie über Hoffnung und einen ehelichen Kompromiss. Seite 14 Wer von Joaquin Phoenix’ Performance als Serienmörder Arthur Fleck noch nicht genug hat, kann ihm mit Lady Gaga im Film „Joker: Folie à Deux“ neu begegnen. Seite 21 Heute schicken auch private Unternehmen Satelliten ins All. Mithilfe spezieller Technik hat die Überwachung von oben eine neue Dimension erreicht. Seiten 22–23 @diefurche @diefurche @diefurche Die Furche Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. eist schicke ich schon vor dem Sonntag meine die rotbackigen Äpfel des Herbstes im Leben lassen wir Antwort auf Ihre Briefe an die Redaktion. Diesmal allerdings erst am Montag, denn ich wollte promisse im Partnerschafts oder Eheleben betrifft, will uns von keinem Wurm madig machen. Und was die Kom die Ergebnisse der Nationalratswahl abwarten. In der Vermutung und leider auch Befürchtung, dass sie meine Stimte über ein gutes Rezept für Kompromisse erzählen, auch ich Ihnen noch eine kleine, mir überaus liebe Geschichmungslage beeinflussen werden. So ist es auch geschehen. wenn Sie diese vielleicht schon einmal gehört oder gelesen haben. Ich erzähle sie einfach so gerne. Gibt es denn Ich werde Sie damit verschonen, aber völlig ausblenden werde ich sie nicht können. Zumal Ihre Erörterung des Begriffes „Kompromiss“ – erwartungsgemäß – in der kurzen werdenden Dunkelheit, etwas Besseres, als einander gu in der anbrechenden Zeit, der – jahreszeitlich – länger Rede des Bundespräsidenten zum Wahlausgang ein deutliches Gewicht bekommen hat. mische Dichter Ovid in seinen „Metate Geschichten zu erzählen? Zum Beispiel jene, die der rö Ich neige ja nicht dazu, im Ergebnis morphosen“ aufgeschrieben hat? Zwei eines Kompromisses Sieg oder Niederlage zu sehen. Bis Sonntagmittag, als cis hatten ein gutes Leben. Sie waren alte Leute namens Philemon und Bau wir zur Wahl gingen, hat es bei uns gastfreundlich, also haben sie einmal ja einen ehelichen Disput gegeben, auch zwei Götter beherbergt, als diese – natürlich inkognito – auf der Erde ob wir nun strategisch wählen sollen oder unserem Gewissen folgend. Nachschau hielten, ob sich denn die Da wir uns nicht einigen konnten, Menschen auch menschlich verhielten. Ein gutes Leben hatte unser altes half uns ein Kompromiss: Wir teilten uns – ich übernahm die Gewissensvariante und war damit zufrieden. keit auch nach sechzig gemeinsamen Paar, weil es offenbar seiner Zweisam Um 17 Uhr sind wir dann nicht eiligst Jahren nicht überdrüssig war. Sie lebten zwar in einer ärmlichen Hütte am zum Fernsehgerät gestolpert (dasselbe ist nämlich aus dem wohligen Wohnbereich verbannt), Stadtrand, abseits der reichen Bürgerhäuser. Sie machten sich ihr Alter und ihr einfaches Leben aber leicht sondern haben unsere Partie Rommé in Ruhe fertiggespielt – die Welt wird derweil schon nicht untergegangen und erträglich „mit heiterem Gleichmut“. So schreibt der sein. Schließlich haben wir irgendwann das Ergebnis Dichter Ovid. Eine Frucht offenbar gelungenen Kompromisses. Oder umgekehrt. Ovid schreibt, tota domus duo zur Kenntnis nehmen müssen: Unser Kompromiss hatte zwei Niederlagen nicht aufhalten können. Aber die Welt sunt, idem parentque iubentque, also dass sie die Hauswirtschaft „selber zu zweit machen“, aber schön ausge und unser Leben sollen nicht von Pessimismus bestimmt sein, schließlich habe Martin Luther gesagt, selbst wenn wogen ist, „wer gehorcht und wer anschafft“. Schön ausgewogen: Auch das ist Kompromiss. Es gibt noch viele für morgen der Weltuntergang angesagt wäre, würde er heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen. Nun, für ein weitere Beispiele – und es wird sie auch in näherer Zukunft geben. Mit dieser Hoffnung grüße ich Sie Apfelbäumchen ist es im Jahreslauf schon zu spät. Aber herzlich. denen der FPÖ im Speziellen ein Mindestmaß an Mündigkeit zu, genen Standpunkt toleriert werden, auch sollte man sich deren vorrangige Wahlkampfthemen ansehen. wenn natürlich nicht jedes Verhalten toleriert werden muss. Der Staat hat lediglich Bei den FPÖWählern waren das Zuwanderung (67 Prozent), Teuerung (61) und Kriminalität/Terrorismus (52). die Legalität, nicht die Moralität zu kontrollieren, differenzierte Immanuel Kant. Obwohl Eigeninteressen le und Journalisten die Lage. Wie das sein könne, was das über das Es kann freilich bezweifelt werden, dass die FPÖ hier überall Land aussage, wieso so viele eine Protestpartei wählten. echte Lösungen bietet. Auf die Teuerung hätte sie in einer Regierung wohl kaum weniger populistisch reagiert als ÖVP und Grüpel: „Ich will dieses oder jenes.“ Stattdessen nehmen moralische gitim sind, argumentiert aber heute kaum noch jemand ganz sim Schwenkt der Blick raus aus der parlamentarischen Journalistenblase, hinaus aufs Land, offenbaren sich ein paar Antworten: Draußen auf dem Land fehlen die Ärzte, in Wien bekämpf mit seiner BVTRazzia nachhaltig geschadet, und bei der Zuwannen stecken oft genug Interessen und Machtansprüche. ne, dem Terrorismusschutz hat Herbert Kickl als Innenminister Argumente überhand. Auch das ist legitim. Doch auch hinter ihten sich im Sommer migrantische Banden, der Konflikt wurde derung zeigt die FPÖ kaum Interesse daran, dass sich die Leute integrieren (können), die sich faktisch im Land befinden. Die mal pädagogisch anmutenden Charakter von Politik und ja, auch Diese Erkenntnis erlaubt einen kritischen Blick auf den manch von „Ältesten“ der tschetschenischen und der syrischen Seite beigelegt, das staatliche Gewaltmonopol hatte höchstens das Monopol po des Zuzugs im letzten Jahrzehnt heißt es da etwa. Oder: Die Wähler müssten nur „besser abgeholt“ blaue Kritik an Ausmaß und Tem Journalismus. „Wir müssen unsere Politik nur besser erklären“, auf die erste Reihe im Publikum. ist freilich authentisch. Und eine werden. Im selben Satz mit dem Eingeständnis der Wahlniederlage wird verkündet, man müsse die „Ängste der Bürger ernst Im ganzen Land steht das Pflegesystem vor dem Kollaps, Lehrerin nehmen“. Wer abgehängte Bürger abholen will, soll Taxifahrer legitime politische Position. nen, Lehrer und Fachkräfte fehlen. Legitime Interessen werden; wer Ängste heilen will, Psychotherapeut. Wer es vielleicht doch wagen will, Interessen und Meinungen zu vertreten, In CovidZeiten hat die Regierung Aber sind wir nicht moralisch Milliarden ohne großen Nutzen verpflichtet, Geflüchtete aufzunehmen? Die Frage deutet auf den Wer Politik oder gar Journalismus mit reiner Moral verwech der könnte es ja mit Politik versuchen. verschenkt – und damit vor allem die Inflation angeheizt. Österreich springenden Punkt, den so manche Politiker und Politikkommentatoren nicht einsehen (wollen): Nährboden für Aufhetzer wie Kickl. Die amerikanische Journaselt, unterliegt einem anmaßenden Irrtum. Er ist der fruchtbare steht wirtschaftlich schlechter da als die meisten Nachbarländer. Und da hat man allen Ernstes so gar kein Verständnis für Protest Politik und Demokratie sind wesentlich Verhandlung von Macht listin und Autorin Joan Didion, im Dezember würde sie 90 werden, formulierte bereits 1965 in einem Essay mit dem Titel „On und Unzufriedenheit – manifestiert in einer FPÖStimme? und Gerechtigkeitsfragen. Es geht um Interessen und Vorstellungen dessen, wie die „gemeinsame Sache“, der Staat, aussehen soll. Morality“ prophetisch: „Wenn wir nicht mehr sagen, dass wir et Kickls hetzerische Rhetorik und seine illiberalen bis autoritären Drohungen gegen Medien seien hier mit keinem Wort geleugnet oder gerechtfertigt. Ein Blick auf die Motive der Blauwähnen Interessen zu bekunden und zu verteidigen. Egal, ob sie egoperativ ist, dass wir es bekommen, dann kommen wir in große Es ist in jeder Verhandlung notwendig und legitim, seine eigewas wollen oder brauchen, sondern, dass es ein moralischer Imler lohnt sich trotzdem. Nur zwei Prozent wählten die FPÖ wegen istisch, moralisch oder religiös (vgl. Seite 9) begründet sind. Genau das macht den liberalen Staat aus: dass er keine Gesinnung Knapp 60 Jahre später dürften wir auch in Österreich erken Schwierigkeiten. Und ich nehme an, wir sind schon dort.“ des Spitzenkandidaten, 45 dafür wegen inhaltlicher Standpunkte. Gesteht man Wählerinnen und Wählern im Allgemeinen und vorschreibt, dass also alle möglichen Begründungen für den einen, dass wir längst schon dort sind. (Philipp Axmann) Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Aboservice: +43 1 512 52 61-52 Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl aboservice@furche.at Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (CvD), Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. Schwens-Harrant, Mag. Till Schönwälder, Anzeigen: Georg Klausinger Dr. Martin Tauss +43 664 88140777; georg.klausinger@furche.at Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Produziert nach Art Copyright ©Bildrecht, Wien. den Richtlinien des Österreichischen Dem Ehrenkodex der österreichischen Umweltzeichens, Presse verpflichtet. Druck Styria, UW-NR. 1417 Bitte sammeln Sie Altpapier für das Recycling. DIE FURCHE · 41 12 Diskurs 10. Oktober 2024 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Wohltuend Wessen Wille geschehe? Von Doris Helmberger Nr. 40, Seite 1 Wie wunderbar zusammengefasst. Danke, dass Sie aus einer gewissen unvoreingenommenen Distanz so treffend formuliert haben. Die überwiegende Mehrheit will keinen selbsternannten „Volkskanzler“. Ich lese Ihre Beiträge mit wachsender Zustimmung und Interesse. Sehr unaufgeregt und wohltuend. Robert Graf, 1230 Wien Niedergang der Sitten? Versuchen wir, FPÖ-Wähler zu verstehen. Von Philipp Axmann Rechte Narrative: Die neue Normalität. Von Barbara Prainsack Aula der Begegnung Von Martin Tauss Nr. 40, Seiten 14, 15 und 23 Hässlich sein? Verboten! Bühne für das Fremde Das Urgestein der Radiounterhaltung Botoxbehandlungen und Co. boomen. Der von Die Kunstbiennale widmet sich in Venedig heuer 100 Jahre Radio in Österreich: Hörspiele haben sozialen Medien befeuerte Selbstoptimierungstrend einem äußerst aktuellen Thema: „Foreigners eine lange Tradition. Doch gehen sie heute in der ist nur einer der Auslöser. · Seite 13 everywhere!“ · Seite 17 Flut von Inhalten unter? · Seite 20 E Herbert Kickls FPÖ hat die Nationalratswahl fulminant gewonnen. Doch 70 Prozent haben den selbsternannten „Volkskanzler“ nicht gewählt. Nebst aller nötigen Selbstkritik muss man diesem Votum für die liberale Demokratie Rechnung tragen. Wessen Wille geschehe? „ Auf die ÖVP kommt es nun an, Wort zu halten und sich nicht dem Willen von Lobbygruppen zu beugen. “ GLAUBENSFRAGE Foto:APA / Georg Hochmuth Foto: APA / AFP / Ahmad Gharabli „Ich erhebe meine Stimme“ Hat das Verschwinden des Journalisten Jamal Khashoggi in der saudi-arabischen Botschaft in Istanbul das Land verändert? · Seite 24 Das Thema der Woche Seiten 2–5 und 10–12 Spirale der Vergeltung Ein Jahr nach dem genozidalen Massaker der Hamas in Israel eskaliert die Situation im Nahen Osten. Ein Fokus zum 7. Oktober und seinen Folgen mit Stimmen von Dan Ashbel, Tom Segev und Markus Bugnyár. AUS DEM INHALT Wie viel Gewissen braucht Politik? Vom Vatikan entführt Trotzdem einen Apfelbaum pflanzen Ein psychotisches Paar „Big Brother“ aus dem Weltraum Dreister Bußakt furche.at lichen Konsens ernst zu nehmen, ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr.“ Es gab nie eine Zeit, in der es eine Selbstverständlichkeit war, wissenschaftlichen Konsens ernst zu nehmen – und nationalistische Positionen gehörten immer zur politischen Mitte in Österreich, zumindest seit es den Nationalismus als politische Strömung gab. Sehr gut gefallen hat mir der Kommentar von Philipp Axmann über das Besserwissertum. Patrick Falmbigl, via Mail Angst vor sozialer Kälte Zur Wahl und zur FURCHE- Berichterstattung Es ist tatsächlich eingetroffen, was zwar vorausgesagt, von humanistisch gesinnten Menschen aber doch nicht erwartet wurde. Es wurde zwar von vielen vor einem Sieg der FPÖ gewarnt, letztlich hat es nichts genützt. Auch ich mache mir den Vorwurf, in meinem Umfeld nicht noch mehr Aufklärungsarbeit geleistet zu haben. Warum ist es etwa einem Drittel der österreichischen Bevölkerung egal, wenn ein Parteiobmann unseren Bundespräsidenten eine „senile Mumie“ nennt? Und warum wird eine Partei, die vor dem Klimawandel warnt wie die Grünen, derart abgestraft? Eine mögliche Regierungskonstellation ist nun Blau/Schwarz, wobei es zweitrangig ist, ob Herbert Kickl Kanzler wird oder ein anderer Freiheitlicher – sein Einfluss in der FPÖ wird immer maßgeblich sein. Noch mehr Angst als die Klimaerwärmung macht mir die soziale Kälte, die diese zukünftige „Festung Österreich“ erfassen wird. Die Probleme außerhalb dieser Festung, Armut, Krieg, Flucht ec. – gehen uns offenbar nichts an. Und auch innerhalb Österreichs wird sich das wahre Gesicht des „Volkskanzlers“ zeigen, der Arbeitslose oder nicht arbeitsfähige Menschen – die gibt es aus körperlichen und psychischen Gründen – als „Sozialschmarotzer“ bezeichnet und deren Unterstützung streichen oder zumindest drastisch kürzen will. Abgesehen von der Wahl bereitet mir auch das digitale Verhalten unserer Kinder und Jugendlichen große Sorge. Die Computerspiele der Kinder handeln großteils von Freund-Feind Konstellationen, vom Schießen und töten. Das prägt doch die Entwick- Mich ärgert, in Kommentaren immer wieder vom Niedergang der politischen oder gesellschaftlichen Sitten zu lesen, wie im Gastkommentar von Barbara Prainsack: „Positionen, die noch vor wenigen Jahren als nationalistisch galten, sind heute zur politischen Mitte geworden.“ Oder bei Martin Tauss: „Wissenschaftlung der jungen Menschen, unserer nächsten Generation. Hier sind wir, die Eltern und Großeltern-Generation, sehr gefordert, um den sozialen Frieden zu üben und nicht nur das Recht des Stärkeren zu fördern. Mir geht hier auch ein Aufschrei von Psychiatern und Soziologen ab, wo doch Jugendkriminalität, Mobbing und auch psychische Krankheiten stark zunehmen. Umso mehr ein großes DANKE an DIE FURCHE für die ausgewogene, interessante und das Gemeinwohl fördernde Berichterstattung. Andreas Falschlunger, via Mail DIE FURCHE · 40 14 Diskurs 3. Oktober 2024 KOMMENTAR ERKLÄR MIR DEINE WELT Wir lassen uns die Äpfel nicht madig machen ahlsonntag, kurz nach 17 Uhr im Medienzentrum im Parlament. Nachdem in der Säulenhalle auf mehreren W Bildschirmen gleichzeitig die blauen Balken in die Höhe geschossen sind, kommentieren die ersten Journalistinnen M Versuchen wir, FPÖWähler zu verstehen „ Wer abgehängte Bürger abholen will, soll Taxifahrer werden. Wer es doch wagen will, Interessen zu vertreten, der könnte es ja mit Politik versuchen. “ „ Es gab einen ehelichen Disput, ob wir strategisch wählen sollen oder unserem Gewissen folgend. Da half uns ein Kompromiss. Wir teilten uns. “ Weg vom „Grundkonsens“? Die Setzkästen der Nationalsozialisten. Von Otto Friedrich Nr. 39, Seite 15 Wie soll die nunmehr stimmen- und mandatsstärkste Partei „den Grundkonsens verlassen“ haben, der ohne bzw. gegen sie errungen worden ist? Nicht nur, weil sie von ranghohen Nazifunktionären (Anton Reinthaller) und SS-Leuten (Friedrich Peter) als braunes Auffangbecken gegründet wurde, war sie von Anfang an die absolute Antithese zu diesem „Grundkonsens“, der das Fundament der Zweiten Republik bildet. (Haiders „ideologische Missgeburt“ oder Hofers „große deutsche Volks-und Kulturgemeinschaft“ und viele andere Aussagen machten deutlich, dass diese Leute mit dem Grundkonsens schon rein gar nichts zu tun haben.) Lic. phil. Emanuel-Josef Ringhoffer 1040 Wien Von Hildegund Keul Steuergerechtigkeit Mehr als Schicksal Von Doris Helmberger, Nr. 38, S. 1 Mit dem dogmatischen Schlachtruf „Keine neuen Steuern“ sind sich ÖVP, FPÖ und Neos einig gegen die Forderung nach „Steuergerechtigkeit“ von Grünen und SPÖ. Dabei versteckt sich hinter dem Hauptziel der drei in Wirklichkeit konservativen bis wirtschafts-liberalen Parteien klassenkämpferischer Kapitalismus: meilenweit entfernt von christlichen Gesinnungsresten einer Partei der Mitte, einer „Sozialen Heimatpartei“ oder einer „Reformpartei“. Wirklich „Retro“ sind diese Drei, die uns weismachen wollen, dass man mit von Wahl zu Wahl neu versprochenem Bürokratieabbau einem vermeintlichen Ausgabenproblem im Budget Herr werden könnte. Obwohl sie wissen, dass der Rucksack von Budgetbelastungen wie die (teilweise) korruptionsverdächtigen 19 Milliarden Corona-Förderungen und neuerdings die Hochwasserschäden sowie die Renaturierungsmaßnahmen für den Klimaschutz mehr Mittel erfordern. Ja, sparen bei den Ausgaben – aber dort, wo es vertretbar ist, wie bei den aufgeblähten politischen Büros von Ministern und Landesräten, aber nicht im Gesundheitswesen, bei Bildung, Sozialer Gerechtigkeit. Angesichts der großen Aufgaben ist endlich Steuergerechtigkeit einzuführen: Mit hohen Freibeträgen, die den Mittelstand verschonen, aber von den Superreichen doch erkleckliche Milliarden holen. Es ist eine Ausrede, sie würden die Flucht antreten, denn ihre auch durch niedrige Gewinnsteuern angehäuften Riesenvermögen an Immobilien werden sie nicht wegschleppen können. Gerechtes Besteuern und Klimaschutz dienen auch der Planungssicherheit der Wirtschaft. Die ÖVP wird weniger eine Regierungsbildung mit der FPÖ, als eher eine mit SPÖ und Neos anstreben, wobei die SPÖ aufpassen muss, nicht über den Tisch gezogen zu werden. Karl Semmler, Bad Blumau Erratum Im Gespräch mit Hospizrektor Markus Bugnyár (FURCHE Nr. 40, Seiten 10–11) spricht der Interviewer von „tausenden Geiseln“, die von der Hamas verschleppt worden seien. Tatsächlich wurden nach offiziellen Angaben rund 250 Menschen entführt. Wir bedauern den Fehler. (red.) In dieser Ausgabe der FURCHE finden Siebezahlte Beilagen von Biblische Reisen und Plan International. Am Freitag, den 11. Oktober bringt die nächste Lotto Bonus-Ziehung wieder 300.000 Euro extra Bonus-Ziehung: Kristina Sprenger „ermittelt“ im Lotto Studio Kristina Sprenger, die beliebte Schauspielerin und Romy- Preisträgerin, bekannt als „Kommissarin Kofler“ aus SOKO Kitzbühel, wird am kommenden Freitag, den 11. Oktober 2024, erstmals die Lotto Bonus-Ziehung moderieren, bevor sie am 26.10 bei der ORF-Show „9 Plätze - 9 Schätze“ als Gastmoderatorin jenen der neun Orte präsentiert, der sich aus dem Bundesland Tirol gegen die „harte Konkurrenz“ in den Länder-Vorausscheidungen durchgesetzt hat. Bei der Lotto Bonus-Ziehung geht es wieder um einen Extra- Gewinn von 300.000 Euro, der gleich im Anschluss an die Bonus-Ziehung unter allen mitspielenden Tipps verlost wird. Die Regeln der Bonus-Ziehung sind die gleichen wie bei den Ziehungen am Mittwoch und Sonntag: Als Spielrunde gliedert sie sich in den Ziehungsrhythmus ein, gleichzeitig finden die Ziehungen von LottoPlus und Joker statt. Auch eventuelle Jackpots werden in die Runde mitgenommen. Annahmeschluss für die Bonus- Ziehung ist am Freitag, den 11. Oktober 2024 um 18.30 Uhr, die Ziehung gibt es um 18.47 Uhr live in ORF 2 zu sehen. Kristina Sprenger moderiert die Lotto Bonus Ziehung im Oktober Foto: ORF / Günther Pichlkostner Bevor vergangene Woche die letzte Sitzungsrunde der Weltsynode begann, fand im Petersdom ein „Bußakt“ statt. Dabei bat ein Kardinal in päpstlichem Auftrag um Vergebung „besonders im Namen von uns Männern, die wir uns schämen für all die Zeiten, in denen wir die Würde der Frauen nicht anerkannt und verteidigt haben“. Als hätte sich das mittlerweile geändert. Als Krönung des Ganzen trug der Papst eine lila Stola, wie sie Priester beim Hören der Beichte tragen. Dabei trägt er selbst auf globaler Ebene zur Missachtung von Frauen bei. Das zeigte sein Auftritt in der Katholischen Universität Louvain-la- Neuve in Belgien. „Frau ist fruchtbares Empfangen, Sorge, lebendige Hingabe – deshalb ist die Frau wichtiger als der Mann“, meinte der Papst feststellen zu können – um ihr dann in der Kirche einen Platz in sicherer Entfernung vom Altar zuzuweisen. Der klerikalen Wesensbestimmung von Frau und Mann (immer schön im Singular, damit kein Gedanke an Diversität aufkommt) widersprach die Universität mit klaren Worten: sie sei deterministisch und reduktionistisch. Dass der Papst später seinen wissenschaftlichen Kritikerinnen und Kritikern vorwarf, dass sie „nicht scharf genug nachdenken“, legt einen von Ressentiment geprägten Umgang mit Kritik frei. Widerspruch kam indirekt auch von anderer Seite. Zu Beginn der Weltsynode kritisierten mehrere südafrikanische Frauen öffentlich das päpstliche Vorgehen beim verweigerten Diakonat von Frauen. Die Theologin Nontando Hadebe beklagte, dass die Kirche weit hinter dem gesellschaftlichen Standard zurückbleibe: „Afrika führt die Welt mit der höchsten Anzahl weiblicher Parlamentarierinnen an. In Ruanda zum Beispiel sind 60 Prozent Frauen.“ Klar ist: Ein glaubwürdiger Bußakt ist erst möglich, wenn eine Frau mit lila Stola am Altar des Petersdoms steht. Die Autorin ist katholische Vulnerabilitätsforscherin an der Universität Würzburg. DIE FURCHE EMPFIEHLT Ende des Öko-Projekts? Die „Letzte Generation“ hat aufgegeben, grüne Parteien verlieren. Ist das ökologische Projekt am Ende? Darüber und über das Buch „Unhaltbarkeit“ von Ingolfur Blühdorn diskutieren – mit diesem – Katharina Block, Stephan Lessenich, Veith Selk und Doris Helmberger (FURCHE). Do, 17.10., 18.30 Uhr, WU-Campus, Gebäude LC. Anm: IGN@wu.ac.at RELIGION IN KÜRZE ■ Rufe nach Frauenweihe Die „Frauenfrage“ dominierte die erste Woche der Weltbischofssynode in Rom. Verschiedene Frauengruppen hatten etwa angekündigt bei der Synode für die Weihe von Frauen zu demonstrieren. Die „Internationale Vereinigung römisch-katholischer Priesterinnen“ (ARCWP) gab bekannt, am 17. Oktober in Rom weitere Frauenweihen veranstalten zu wollen. Beobachter gehen davon aus, dass bei der Synode, die noch bis 24. Oktober andauert, keine Beschlüsse zur Weihe von Frauen zu Diakoninnen oder Priesterinnen zu erwarten sind.
DIE FURCHE · 41 10. Oktober 2024 Literatur 13 Von Ann Cotten Als ich mich niedersetze, um diese Rede zu verfassen, die die Vorstellung von Christine Lavant als Dichterin und die Geste der Verleihung eines Preises an eine zeitgenössisch arbeitende Person mit Sinn ausfüllt, liegt hinter mir eine seltsam deprimierte Nacht, um nicht zu sagen eine ruhige Nacht in einer ganz ruhigen Verzweiflung, unter Freunden geteilt. Seltsam, weil ich mit freundlichen, klugen Kollegennnie* ausschließlich sinnvolle, verständnisvolle, zugeneigte Gespräche über unsere jeweiligen Tätigkeiten führte, in gut abgesessenen, populären Lokalen, und wir uns doch in eine Art Rage der empfundenen Sackgassen oder Betonwände redeten. Überall, wo wir im Gespräch virtuell hinleuchteten, schien uns oder schien mir – ich redete ungewöhnlich viel, wie ein deprimierter Wasserfall –, dass hilflose Kritik parallel zu einer rücksichtslosen, gedankenlosen wirtschaftlichen und politischen Wirklichkeit stattfinde. Einer Wirklichkeit, die in einem so kunstfreundlichen Land wie Österreich auch einmal anhält, um die Kritik anzuhören, sie zu loben, und mit dem grausamen Schaden weiterzumachen. Jedre einzelne Akteurni etwas unsicher, doch dann bei Linien bleibend, die mit dem Bauch als sicher gefühlt werden – eine Täuschung, wir leben bloß schon so lange in toxischen, falschen Normalitäten, dass das Bauchgefühl oft falsch liegt. Und das ist natürlich verwirrend. Wir tasten nach kräftigen, klingenden Sätzen. Dass sie wirklich greifen, wagen wir, fürchte ich, nicht mal zu hoffen. Schnittstelle zu den Herzen Es ist eigentlich so klar, was für große Wenden nötig sind, um ein Überleben des Planeten als Lebensraum für biologische Lebensformen wie der humanen zu erlauben. Es ist gut, dass sehr konkret über Technik gesprochen wird, Batterieleben, Seltene Erden und ihr Abbau, Stromnetzwerke, Solar- und Windstrom, bis hin zu Wasserstofflokomotiven. Es besteht aber die Gefahr, dass diese Mittel die Frage nach dem Zweck verdecken, und zwar vor allem die quantitative Frage. Gerade mit Christine Lavant, die ihre künstlerische Souveränität, gedankliche Stärke und auch ihre Eleganz in und aus der extremen Armut entwickelte, können wir über die ästhetischen Seiten des Wirtschaftsabbaus nachdenken, und über das Design einer wirtschaftlich und vom ökologischen Fußabdruck her mikroskopischen Lebensform. Es wird so getan, als würde man nicht begreifen, dass nicht alles immer weiter wachsen kann. Das begreift eigentlich jedes Kind, so darf man es aber keineswegs sagen, denn seit dem Wirtschaftswunder sind wir erzogen worden, zu glauben, dass Wirtschaft konterintuitiv funktioniert. Durch illusionäre Interfaces, die unserem Individualismus und unserer Gedankenlosigkeit als einer (falschen) Form von Subjektivität schmeicheln, schon längst mürbe und bereit, für eine sprechende Türklingel Familie und Freunde zu verraten (schon mal die Einwilligung zur Verarbeitung der Social-Media-Daten gegeben?), fehlt uns das Selbstvertrauen für unsere ansatzweise vorhandene Skepsis. Hier kann eine großsprecherische minoritäre Form wie Dichtung oder Songwriting eine Schnittstelle zu den Herzen finden, eventuell. Bei uns ist aber die Gefahr, dass wir vielleicht zu schnell rühren und dann wieder als zu rührend abgetan werden. Oder wir sprechen zu technisch und rühren die Rührbaren nicht. Oder wir sprechen zu allgemein und werden von den Expertys für Quantenkugellager nicht ernstgenommen. Es gibt immer einen Grund, sich nicht mit Dichtung zu beschäftigen, es ist die unverbindlichste Art zu sprechen bzw. zu schreiben überhaupt, deswegen zieht sie mich doch, trotz meiner Hassliebe, immer wieder an. Degrowth. Man muss nicht gleich, wie Lavant, krank werden, weil man für die Hochzeitssuppe die falschen Wurzeln aus dem Wald gesammelt hat. Aber Wissen ist ein Thema. Es wird, wenn über Menschheit, Humanismus und so weiter gesprochen wird, gern der pluralis majestatis benutzt, wir haben all das erfunden, den Stahl, das Glas, die Hochhäuser, die TV- Box. Aber wer von uns wäre in der Lage, am Küchenherd Eisen zu schmieden, auch nur eine Zahnbürste herzustellen? Müssen wir nicht, müssen wir nicht. Es gibt die Sprache, die sich mit der Arbeitsteilung entwickelt hat – halb, um sich in Freundschaft und Solidarität zu koordinieren, halb, um einander zu bescheißen. Aus diesen unverlässlichen Verhältnissen gebiert sich der Humanismus, ein Pathos, mit dem man bei Bedarf fuchteln kann. Als Sprachbenutzernnnie haben wir gewissermaßen automatisch Teil am Bescheißen ebenso wie am Verständigen; an der Empathie und an deren Missbrauch. Im Licht dieser humanistischen Tradition kann man dankbar sein, wenn es gelingt, ineffektiv zu sprechen, die Effekte zumindest abzudimmen, indem so etwas wie das perfekte Grau erzeugt wird, eine nicht-reflektierende, nicht-resonierende Oberfläche. Wer ineffektiv redet, also dier, derssen Wort nicht gefürchtet und nicht geachtet wird, merkt es ja. Die Kulturindustrie und ihre Am 6. Oktober wurde die Schriftstellerin Ann Cotten mit dem Christine Lavant Preis ausgezeichnet. Lesen Sie hier die erste Fassung ihrer Dankesrede. „Brich nur weiter das gelobte Brot!“ formale, ökonomische Professionalisierung hat sie in eine Blase eingeschlossen, wie jedes andere Expertnnnietum: Ein Stall von Lieferantnnnie von Wortmaterial sind wir jeweils, oder von Studien und Gutachten, wie eine Gärtnerei. Wir ziehen echte Blumen, Bäume, Ziergehölze usw, herzergreifend epische Gewächse, die hohe Levels an Wissen und Zuwendung brauchen – und damit werden, wenns hoch kommt, – die Hallen und Leben der Leute verhübscht, die auf ganz anderen Baustellen arbeiten, die als relevanter gelten, weil sie mit mehr Geld zu tun haben, und mit mehr Geld umgeben sind, weil sie für relevanter gehalten werden: eine zirkuläre Argumentation. Schreiben verlangt wie Gärtnern (wovon ich nichts verstehe) sehr viel Weltwissen, aber verträgt auch etwas weniger Konstanz in der Zuwendung als ein Garten. Man kommt um scharfe Beobachtung der nichtschriftlichen Umwelt nicht herum, um den Worten im Kopf die richtigen Lebensbedingungen zu schaffen. Je länger ich schreibe, desto klarer wird mir, dass wir um keinen Preis in dieses Modell der Professionalisierung hineintanzen dürfen, in der wir als Kleinunternehmernnnie, Selbständige, Ich-AGs unsere Selbst als Wert oder Produkt repräsentieren, PR-Abteilung, Buchhaltung, Büro, Produktionsstätte, Managerni, Arbeiterni, Controllerni Die Autorin 1982 in den USA geboren und in Wien aufgewachsen, hat Ann Cotten ein umfangreiches und vielfältiges Werk geschrieben: unter anderem Lyrik, Prosa, essayistische und wissenschaftliche Arbeiten sowie Übersetzungen. „ Es wird so getan, als würde man nicht begreifen, dass nicht alles immer weiter wachsen kann. “ Foto: Bogenberger / Suhrkamp Verlag * Gendering Ann Cotten wendet in dieser Rede das von ihr so genannte „polnische Gendering“ an: Bei diesem Verfahren kommen „alle für alle Geschlechter nötigen Buchstaben in beliebiger Reihenfolge ans Wortende“. und Reinigungskraft in einem, tretend nach unten gegen den mit Alter, Doofheit, Krankheit ständig drohenden Abgrund, schon deswegen immer gefällig, immer zu Diensten, immer vermittlungsbereit. Mit so einer Psychologie ders Einzelkämpfernis wären wir wie die Protagonistin von Kobo Abes „Frau in den Dünen“, diese Frau, deren Dorf in einer Düne versinkt, sodass sie sich wie jeder andere Haushalt im Dorf allmorgendlich freischaufeln muss, was den Sand ringsum umso höher auftürmt. Der Ich-Erzähler versucht, die Dorfbewohnerin zu überreden, einfach fortzugehen, aber das kommt für sie irgendwie nicht infrage, stattdessen wendet sie allerhand Propaganda und psychologische Tricks an, um auch ihn zum Dableiben und Mithelfen zu bewegen. Als ich die Geschichte – in englischer Übersetzung – las, hat mich dessen Realismus frappiert. Von der Zusammenfassung und Aufmachung her hatte ich einen Surrealismus oder Symbolismus erwartet. Doch es ging ganz konkret um den Umgang mit diesem Umweltproblem – der in real life derartig tiefenpsychologisch ergiebige Bilder aufwirft. Ratlos steht der Erzähler vor der Entscheidung, allein wegzugehen oder mitzuhelfen, die Situation weiter auszuhalten. Präzisionsarbeit Was den realistischen Impact der Geschichte letztlich ausmacht, ist die Anerkennung der komplexen und schwer beweglichen Geflechte von Verbindungen, die es Menschen plausibel erscheinen lässt, in unlogischen, widersinnigen Situationen immer weiter zu verharren. Widersinnig ist freilich ein gefährliches Wort, es klingt bald nach rationalistischer Besserwisserei. Zu einem gewissen Grad soll es das auch, denn das rationalistische Theater ist weiterhin ein Muß bei der Überzeugung der Mitmenschen. Das ist auch gut, sollen wir einander etwa ständig emotional manipulieren? Kritik speziell an der aristotelischen Manier, einem Rationalismustheater scholastischer Bauart, wo alles in Genealogien und Kategorien eingeordnet ist, heißt nicht, dass die Benutzung rationaler Denkmittel an sich etwas Schlechtes sei. Bei Sokrates und den Sophisten und Kynikern war dieses Spiel der Argumente eine Art, um vorgefasste Meinungen in Bewegung zu bringen. Es ist nicht die einzige Art. Welcher Stil von Rationalität auch immer angewandt wird, sie bleibt das Antidot zur Maßlosigkeit und Relationslosigkeit der emotionalen Appelle, die zwischenmenschlich und von der Werbeindustrie eingesetzt werden. Da möchte man eigentlich als Dichterni nicht einstimmen. Wenn auch die Mischung sinnlicher, sentimentaler und kognitiv-kombinatorischer Aspekte in der Dichtung kaum vermeidbar ist, kann man immerhin versuchen, mit Metaphern und genauer Bezeichnung Präzisionsarbeit zu leisten. Also schon rationalistische Besserwisserei – aber im Mikrobereich. Und emotionale Manipulation auch fein dosiert. Beispielsweise durch Reime und Metrik, durch Sachen, die gut klingen, dem Zeigen, dass sie gut klingen und deswegen ... ein transparentes Maskenspiel. Man kennt sich nicht in jeder Sekunde FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
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