DIE FURCHE · 41 10 Diskurs 10. Oktober 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Das setzt mich so unter Druck, dass ich schreien möchte Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Meiner Daily-Routine entsprechend bin ich nach meinem morgendlichen Spaziergang nach Hause gekommen und habe mich mit einem frisch gebrühten Kaffee auf die Couch gesetzt, um Ihren Brief zu lesen. Nachdem ich Ihren ersten Satz gelesen hatte, musste ich jedoch meinen Laptop zuklappen, aufstehen und die Küche aufräumen. Jedes Mal, wenn ich versucht habe, mich Ihrem Text zu widmen, fiel mir eine neue Aufgabe ein, die ich schnell erledigen wollte: den Wassernapf auswaschen, das Mittagessen vorbereiten, Kaffee machen, den Geschirrspüler ausräumen, meine Mutter zurückrufen und mit dem Hund Gassi gehen. Jetzt ist es Montagnachmittag, und das Gefühl, eine totale Versagerin zu sein, weil ich es nicht schaffe, mich mit Ihrem Text zu beschäftigen, setzt mich so unter Druck, dass ich am liebsten laut schreien würde. Okay, schreien möchte ich nicht – mir ist schon das sporadische Gebelle meiner Mitbewohnerin unangenehm. Aber der Druck ist trotzdem da und unangenehm. Kennen Sie dieses Phänomen? Ich muss meine Antwort an Sie jetzt wirklich langsam abschicken, denke ich mir, und beginne deshalb mit einer kleinen Jammerei. Eigentlich finde ich nicht, dass es eine Jammerei ist; ich beschreibe lediglich einen sehr nervigen, wiederkehrenden inneren Prozess. Dass ich dazu „Jammerei“ sage, ist eigentlich ein Schutzmechanismus – lieber stecke ich mich selbst in eine Schublade, damit potenzielle Kritikerinnen und Kritiker es nicht tun können. Mir fällt auf, dass ich Ihnen noch gar nicht den Grund für meinen Abwehrmechanismus erklärt habe. Sie „ Wie schaffen Sie das? Ich bewundere Menschen, die nicht prokrastinieren, sondern ihre To-Do- Listen weit vor der allerletzten Deadline abarbeiten können. “ schreiben, dass Sie Ihre Briefe meist schon vor dem Sonntag an die Redaktion schicken. Wie schaffen Sie das? Ich bewundere Menschen, die ihre To-Do-Listen weit vor der allerletzten Deadline abarbeiten können. Woran glauben Sie, liegt das? In meinem Fall weiß ich, dass es sich um Prokrastination handelt. Ich meine, darüber schon mit Ihnen gesprochen zu haben, aber wie Sie sehen, beeinflusst mich dieses Verhalten noch immer (und viele meiner Freundinnen und Freunde). Eine Freundin hat mir heute Morgen einen Screenshot eines Textes geschickt, in dem steht, dass Prokrastination eine belohnende Wirkung auf das Gehirn haben soll, weshalb manche Menschen zu diesem Verhalten neigen. Besonders betroffen seien Personen, die großen Stress bei der Vorstellung haben, gewisse Dinge zu erledigen. „Je drängender und wichtiger die Aufgabe, umso größer ist zwar die Belohnung bei Vermeidung, umso größer werden aber auch die Probleme, wenn die Aufgabe nicht erledigt wird“, steht in dem Artikel. Das Ärgerliche daran ist, dass ich mich beim Aufschieben nicht nur extrem faul fühle; anscheinend verbraucht das ständige Vermeiden laut dem Beitrag auch enorm viele kognitive Ressourcen, zu denen sich Stress und Scham gesellen. Wie also kann man aus diesem Verhalten herauswachsen? Haben Sie eine Idee? Kennen Sie dieses Phänomen überhaupt? In meiner fast schon kindlich naiven Vorstellung prokrastinieren die Generationen über mir, die echten Erwachsenen, nämlich nie etwas. Ich freue mich auf Ihre Antwort. KOMMENTAR Warum in der Demokratie nicht nur die Mehrheit entscheidet Seit der Wahl dreht sich alles um die Frage, wer die nächste Regierung bilden soll. Für viele ist klar: Die Wahlsiegerin, die Partei, die die meisten Stimmen gewonnen hat. Dazu wird auf die Bundesverfassung verwiesen, die an etlichen Stellen das Mehrheitsprinzip betont. Das wird durch ein in der Bevölkerung und bei Journalisten verbreitetes Verständnis unterstützt: Demokratie heißt, die Mehrheit entscheidet. Demokratie wird von der Mehrheit her gedacht. Ein genauerer Blick auf die Verfassung und ihre Auslegung zeigt ein vielfältigeres Bild. Demokratie wird ebenso vom Ausgleich, der Gleichberechtigung und von Minderheiten her gedacht. „ Es gibt nicht ,ein‘ Volk, dessen Willen klar in Erscheinung tritt. Es gibt viele Gruppen mit unterschiedlichen Ansichten. Die Parlamente müssen diese sichtbar machen. “ Von Minderheiten, weil es sowohl um deren Schutz als auch um den Schutz vor einer Minderheit geht, die ihre Ressourcen nutzt, um der Demokratie zu schaden. Nicht zuletzt wird Demokratie immer nur mittelbar verstanden. Niemand soll unmittelbar herrschen können. Bereits in Artikel 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes heißt es: „Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Es geht weder um das Recht, noch um die Herrschaft des Volkes. Ihr bezieht sich darauf, dass Recht in genau festgelegten Verfahren geschaffen wird – und dass das nur unter Einbindung vieler anderer passieren kann. Der zweite Angelpunkt der Demokratie findet sich in Artikel 26, der das Prinzip der Verhältniswahl festlegt. Es soll die parlamentarische Vertretung aller Parteien von zahlenmäßiger Bedeutung sichern. Von Beginn an war den großen Parteien klar, dass sie nur in Ausnahmefällen mit einer absoluten Mehrheit rechnen können. Sie haben sich dennoch für ein System entschieden, das Zusammenarbeit verlangt. Hans Kelsen, der maßgeblich an der Entstehung der Verfassung mitgewirkt hat, betonte, dass sie Ausgleich fordert und daran erinnert, wie rasch jeder Minderheit werden kann. Alternativen wie ein Mehrheitswahlrecht sind in mehr als hundert Jahren Randthemen geblieben. Der dritte Punkt ist der direkt gewählte Bundespräsident, der die Bundesregierung ernennt und entlässt. Er sollte 1929 als antiparlamentarische Kraft geschaffen werden, hat sich aber nach 1945 zum Garanten des demokratischen Rechtsstaats entwickelt. Entscheidend ist: Eine Regierung kann nur Bestand haben, wenn sie sein Vertrauen und jenes der Mehrheit im Nationalrat hat. Der vierte Punkt ist die hohe Dichte von Verfassungsrecht in Österreich. Wer etwas in der Staatsorganisation, aber auch in Bereichen wie Energie oder Wohnen ändern möchte, braucht rasch eine verfassungsrechtliche Grundlage und damit eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat. Seit langem heißt das, dass mindestens drei Parteien zusammenkommen müssen. Der fünfte Punkt umfasst alles, was „durchregieren“ verhindert: Detaillierte Gesetzgebungsverfahren und Minderheitenrechte in Parlamenten, Föderalismus, Informationszugang und Partizipation, Verfassungsgerichtsbarkeit, Rechnungshofkontrolle und Mitgliedschaft in der EU sowie internationalen Organisationen. Die Bundesverfassung ist von einem realistischen Blick auf Staat und Gesellschaft geprägt: Es gibt nicht ein Volk, dessen Wille klar in Erscheinung tritt. Es gibt eine Vielzahl von Menschen und Gruppen mit unterschiedlichen Ansichten und Konflikten. Die Organe des Staates, vor allem die Parlamente sind dazu da, um das sichtbar zu machen und sichtbar zu halten. Gesetze sind auch Ergebnis von Uneinigkeit. Diese Demokratie hat die Minderheit im Blick und ist auf Kompromiss ausgerichtet. Kelsen meinte, dass die Realität der Demokratie „[…] mehr auf einem Sich-gegenseitig-vertragen [beruht]“, während es in der Diktatur „nur gilt, die gemeinsame Last der Herrschaft zu ertragen.“ Die zuletzt verstorbenen Wissenschafter Eva Kreisky, Wolfgang Mantl, Theo Öhlinger oder Manfried Welan haben in ihrem nüchternen Blick auf Demokratie in Österreich festgestellt, dass es Politiker, Juristen und Medien verabsäumt haben, ein Verfassungsbewusstsein aufzubauen. Verfassungsrecht ist für sie eine technische Angelegenheit geblieben. Kompromisse, wie sie österreichische Politik seit 1945 prägen, wurden ausgehandelt, aber selten erklärt. Jene, die dabei waren, wissen, wie schwierig Demokratie sein kann. Viele andere konnten diese Erfahrung nie machen. Kelsen hat gesagt, dass Demokratie keinen Autopiloten hat. Er wusste aus Erfahrung, wie demokratische Verfahren in ihr Gegenteil verkehrt werden können. Die Verantwortung dafür, dass das nicht passiert – und auch das ist ein zentrales Element der Bundesverfassung – liegt bei den politischen Parteien und deren Bereitschaft, in der Verfassung mehr als technische Regeln zu sehen. Der Autor ist Jurist und Politikwissenschafter. Von Christoph Konrath Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (CvD), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Mag. Till Schönwälder, Dr. Martin Tauss Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. 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DIE FURCHE · 41 10. Oktober 2024 Diskurs 11 Dass Judenfeindschaft im recht(sextrem)en Lager verbreitet ist, mag eine Binsenweisheit sein. Doch Antisemitismus im Gewand linker „Israelkritik“ ist um keinen Deut ungefährlicher. Nützliche Idioten des Antisemitismus Als Alon Ishay letzten Donnerstag auf der Wiener Großkundgebung gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ das Wort ergriff, versuchte eine Gruppe „propalästinensischer“ Demonstranten, mit Gebrüll, Pfeifen und Fahnen das Statement des Präsidenten der „Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen“ zu verhindern oder zumindest zu behindern. Ishay sagte unter dem Gejohle: „Bei jungen Jüdinnen und Juden läuten die Alarmglocken“ – und dass er selber überlege, bei einem FP-Kanzler, das Land zu verlassen. Einem jüdischen Vertreter, der gegen den Rechtsruck in Österreich auftritt, das Wort abzudrehen, kann nur als antisemitisch qualifiziert werden. Es ist ebenso entlarvend wie verstörend, dass die Urheber der Aktion nicht Rechtsradikale, sondern linke, antiisraelische Aktivisten waren, die einem Juden anno 2024 das Recht auf öffentliche Rede absprechen. Wer nur den Hauch einer Ahnung davon hat, was vor gut 80 Jahren Juden in diesem Land widerfahren ist, dem muss es kalt über den Rücken laufen: Nicht nur der Antisemitismus von rechts feiert fröhliche Urständ – man erinnert sich: Martin Sellner, der Ober- Identitäre, der auch auf den Siegesfeiern der FPÖ nach den Wahlen zu sehen war, wurde dadurch bekannt, dass er Hakenkreuze an Synagogen anbrachte. Rechte wie linke Verschwörungserzählungen Nun sind es aber „Linke“, die sich analog gerieren. Es ist klar antisemitisch, Jüdinnen und Juden das Recht zu öffentlicher Artikulation zu verweigern. Wenn es nicht gelingt, diesen linken Antisemitismus fernzuhalten, wird man auch an den Donnerstagsdemonstrationen nicht teilnehmen können, so wichtig zivilgesellschaftliche Manifestationen „gegen rechts“ sein mögen. Ob Judenfeindschaft nun aus einer „völkischen“ Motivation gespeist wird oder aus der Vorannahme, Juden wären für die vielen Toten in Nahost verantwortlich, macht die Sache um keinen Deut besser. Wenn man genauer hinschaut, so wird man verstörende Parallelen zwischen dem Antisemitismus der Rechten und der Linken erkennen. Ein für sich sprechendes Beispiel dafür war in den Ankündigungen für den „Palästina-Kongress Wien“ zu finden, der letztes Wochenende stattfand und wo alles, was gut, links und antisemitisch ist, versammelt war. Eine ähnliche Veranstaltung in Berlin war vor dem Sommer von der Polizei aufgelöst worden. In Österreich hatten die Veranstalter zwar Mühe, Orte für die Pressekonferenz und den Kongress selber zu finden – Betreiber der geplanten Locations hatten kalte Füße bekommen, als sie gewahr wurden, wer sich da tummeln würde. Aber letztlich fand sich doch ein Saal in Wien-Favoriten. Das inhaltliche Programm des Kongresses war ZEIT- WEISE Von Otto Friedrich „ Nicht die Israelkritik des Palästina Kongresses ist antisemitisch, sondern die Ausblendung des Hamas-Terrors. “ ein antiisraelisches Pamphlet, das über die Verbrechen der Hamas vom 7. Oktober, die Vergewaltigungen und Geiselnahmen kein Wort verlor, dafür aber dann ausschließlich auf die Toten des Gaza-Krieges einging. Begriffe wie Völkermord, Genozid, ethnische Säuberung, Apartheid – natürlich von Seiten Israels – flossen den Veranstaltern leicht aus ihren Federn. Da findet sich der Satz: „Es geht darum, der Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher, die die Unterstützung des Völkermordes durch die herrschenden Eliten nicht mittragen wollen und für die Neutralität eintreten, eine Plattform zu bieten.“ Derartige Aussage gleicht in der Wortwahl Verschwörungserzählungen von rechts, wie sie seit der Corona-Pandemie Informationsplattformen überschwemmen. Und unter den Hauptproponentinnen des „Palästina-Kongresses Wien“ finden sich – neben der israelfeindlichen BDS-Bewegung – Altbekannte aus der Schwurbler-Szene, etwa die deutsche Politikwissenschafterin Ulrike Guérot, die bekanntlich vor einem Jahr das „Goldene Brett vorm Kopf“, den Negativpreis für ihre Position als „Leitfigur der Verschwörungstheoretiker-Szene“, erhielt. Mehr als 300 Personen haben die Forderungen des „Palästina-Kongresses Wien“ unterzeichnet, darunter auch katholische Aktivisten und ein Pfarrer sowie zwei altkatholische emeritierte Bischöfe. Man kann sich schon fragen, wie man ein derartiges Programm, in dem mit keinem Wort auf Hamas oder Hisbollah eingegangen wird, unterstützen kann. Antisemitisch ist das Pamphlet ja nicht deswegen, weil es israelkritisch ist, sondern weil es den Terror der palästinensischen Seite völlig ausblendet. Ein Grundübel der Gesellschaft Klar ist, dass der Nahostkrieg, der auf die Anschläge der Hamas folgte, eine humanitäre Katastrophe ist – aber auch schier unlösbar scheint. Das Agieren der Regierung Netanjahu und die Tatsache, dass in ihr auch Rechtsradikale sitzen, ist natürlich ebenso Gegenstand der Kritik wie Fragen der Verhältnismäßigkeit, mit der dieser Krieg geführt wird. Es gibt bekanntlich auch in Israel starke Opposition gegen diese Politik. Antisemitismus ist dennoch ein Grundübel der Gesellschaft hierzulande. Es darf nicht sein, dass er, als Israelkritik verbrämt, wieder salonfähig wird. Der rechte Antisemitismus – siehe die vielen „Einzelfälle“ rund um die FPÖ – war nie verschwunden und kommt mit dem Erstarken dieser Partei wieder in die Mitte der Gesellschaft. Über die Kritik an Israel dringt er dann von links auch in die Mitte vor und breitet sich weiter aus. Für die Jüdinnen und Juden in diesem Land ist das wirklich keine gute Aussicht. Der Autor war bis April 2024 stv. Chefredakteur der FURCHE. ZUGESPITZT Freundschaft. Oder: Bussi Fußi! Hiermit nutze ich als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Österreichs und kraft der am Grazer Parteitag 2023 beschlossenen Statutenänderung mein Mitbestimmungsrecht und unterstütze die Kandidatur von Rudolf Fußi zum SPÖ-Parteivorsitzenden. Nachdem der Klassenkampf gegen die Superreichsten in der verblendeten Arbeiterschaft nicht ganz so großartig angekommen ist, wie sich das Andreas Babler, Natascha Strobl und Robert Misik gedacht haben, braucht es endlich wieder einen Menschen an der Spitze der Sozialdemokratie, der die Sorgen und Nöte der Menschen situationselastisch versteht. Rudi Fußi ist in dieser Hinsicht vollkommen zuverlässig. Ein Mann, der schon bei der Jungen ÖVP, der FPÖ- Abspaltung „Die Demokraten“, dem LIF, dem Team Stronach und dem schwarzen Wiener Wirtschaftsbund war und dessen Solidarität mit dem jeweiligen SPÖ-Chef die Halbwertszeit eines Tweets hat, der hat sicher auch das Zeug dazu, die Sozialdemokratie in eine Dreierkoalition mit ÖVP und Neos zu führen und das Budgetloch zu stopfen, das Magnus Brunner vier Tage nach der Wahl spontan entdeckt hat. Viel Vertrauen wurde in der Politik verspielt. Mit Rudi Fußi können wir es endlich wiedergewinnen. Freundschaft! Doris Helmberger PORTRÄTIERT Pionier der Genforschung mit Draht nach Wien Wie entfalten sich Gene? Lange Zeit dachte man nur an einen Weg: Spezielle Eiweißstoffe binden an Regionen des Erbguts (DNA) und übersetzen die dortigen Informationen in eine Messenger-RNA. Diese mRNA fungiert in der Zelle als Bote und erteilt quasi den Auftrag, ein bestimmtes Protein aufzubauen. So werden z.B. Insulin, Muskel-Eiweiß oder Antikörper produziert. Doch Gene können auch anders. Die Forschung der beiden Medizin-Nobelpreisträger Victor Ambros und Gary Ruvkun eröffnete „eine neue Dimension, an die überhaupt niemand gedacht hat“, wie Julius Brennecke vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der ÖAW die Preisverleihung kommentiert. Die beiden US-Forscher hatten 1993 einen weiteren Weg vorgestellt, wie die Aktivität von Genen reguliert wird – und zwar über microRNAs, die die Produktion von Eiweißstoffen nicht anstoßen, sondern unterbinden. Die bahnbrechenden Entdeckungen dazu machten sie in ihrer Laborarbeit mit dem Millimeter-kleinen Fadenwurm. Die ersten Erkenntnisse stießen auf wenig Widerhall, bis das Team um Ruvkun seit Ende der 1990er-Jahre zeigen konnte, dass dieses neu entdeckte Grundprinzip der Genregulation keineswegs den Fadenwürmern vorbehalten ist. Auch in komplexen Organismen spielt es eine Rolle; im menschlichen Erbgut sind mittlerweile mehr als tausend microRNAs identifiziert. In klinischen Studien wird bereits untersucht, wie diese therapeutisch nutzbar sein könnten, etwa gegen Hepatitis C oder Krebskrankheiten. Der 72-jährige Gary Ruvkun ist Professor für Genetik an der renommierten Harvard Medical School und arbeitet auch am Allgemeinen Krankenhaus in Massachusetts. In seinem Team habe er eine „starke Neugierde“ und „mutige Wissenschaft“ vermittelt, die sich weder von „komischen Fragestellungen“ noch von Rückschlägen abschrecken ließ, wie eine ehemalige Mitarbeiterin berichtet. Die Entdeckung der microRNA gilt heute als eine der größten Revolutionen in der Molekularbiologie seit Jahrzehnten. Ruvkun ist übrigens Mitglied im Beratergremium des IMBA und war in dieser Funktion unlängst in Wien. Beim Anruf aus Schweden am 7. Oktober war es an der US-Ostküste noch sehr zeitig in der Früh. Im Gegensatz zu seinem Ex-Kollegen Victor Ambros schaffte er es ans Telefon; die Müdigkeit verflüchtigte sich rasch. Der Nobelpreis ist mit 969.000 Euro dotiert und wird traditionell am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters, Alfred Nobel, überreicht. (Martin Tauss) Foto: APA / AFP / Lauren Owens Lambert Der 72-jährige US-Forscher Gary Ruvkun teilt sich den heurigen Medizin-Nobelpreis mit seinem Ex- Kollegen Victor Ambros.
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