DIE FURCHE · 32 6 Politik/Geschichte 10. August 2023 Das Gespräch führte Muamer Bećirović Es war Anfang April, als der französische Staatspräsident Emmanuel Macron nach seinem China- Besuch weltweit für Aufsehen sorgte. Europa müsse in der Frage von Taiwan (das Peking als Teil der Volksrepublik ansieht) einen „eigenständigeren Kurs“ entwickeln, erklärte er in einem CNN-Interview – gleichsam in Äquidistanz zu Washington und Peking. Die Aussage sorgte für Empörung, insbesondere in den USA. Faktisch ist Europa freilich weit davon entfernt, sich als „dritte Supermacht“ zu etablieren. Auch nicht nach der von Olaf Scholz diagnostizierten „Zeitenwende“ vom 24. Februar 2022. Das zeigt nicht nur das aktuelle Beispiel Niger, wo man sich von der ehemaligen europäischen Kolonialmacht ab- und lieber Russland zuwendet; das zeigte auch die jüngste Konferenz zum Ukrainekrieg im saudi-arabischen Dschiddah, wo Europa nur einer unter vielen blieb – und der Globale Süden seinen Platz am Schachbrett der Macht einforderte. Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, sieht Macrons Vision einer „Supermacht Europa“ zwar als möglich an – doch die eigene Vergangenheit (insbesondere jene Deutschlands) stehe diesem Ziel entgegen. Aber warum? Der Politikwissenschafter und Historiker Muamer Bećirović, dessen Biografie über Clemens von Metternich im Jänner 2024 erscheint, hat mit Masala für DIE FURCHE gesprochen. Ob Ukraine oder Niger: Der globale Einfluss Europas ist überschaubar geworden. Politikstratege Carlo Masala über die historischen Hintergründe dieser (Ohn-)Macht – und die besondere Rolle Deutschlands und Frankreichs dabei. Europa – ein Imperium? DIE FURCHE: Wir wollen über Europas (Ohn-) Macht sprechen – und dazu in die Geschichte blicken. Zwei Weltkriege lang hat Deutschland versucht, Hegemonie über Europa zu erlangen – was zur Katastrophe führte. Als es darum ging, Deutschland wieder in die europäische Staatengemeinschaft zu führen, zielte die Strategie des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer darauf ab, sich unter den Schutz der Amerikaner zu begeben – und im Windschatten der europäischen Einigung Frankreich auszubalancieren, bis man wieder moralisch und wirtschaftlich weitgehend rehabilitiert sei. Wie würden Sie heute diese Maxime beschreiben? Carlo Masala: Adenauers Maxime war „Integration durch Kontrolle“. Er ließ Deutschland von Frankreich und den USA durch die Europäische Integration und durch die NATO kontrollieren. Dafür bekam Deutschland seine wirtschaftliche und moralische Wiederherstellung in Europa. Foto: christophbusse.de Carlo Masala lehrt seit 2007 Internationale Politik in München. 2022 erschien sein Buch „Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusion des Westens“ in der 4. Auflage (C.H. Beck). DIE FURCHE: Ist hier ein politisches Kunststück gelungen? Masala: Das kann man so sehen. In den 1950er Jahren kehrt Deutschland mit dem Wirtschaftswunder wieder auf die europäische Bühne zurück. Bis 1990 sagt man, dass in Europa die Balance zwischen der deutschen Mark und der französischen Atombombe gehalten worden war. Deutschland überragt damals Frankreich ökonomisch bei weitem – doch Frankreich hat die ultimative Waffe. So hält sich in Europa das Gleichgewicht. Beide können auf Augenhöhe um Einfluss am Kontinent ringen. Ab 1973 fällt Deutschland aber immer mehr eine Vermittlerrolle zu. Mit dem Beitritt Großbritanniens beginnt Deutschland zwischen den unterschiedlichen Europavorstellungen Frankreichs, die mehr Europa – aber immer mit dem eigenen Führungsgedanken im Hinterkopf – vor Augen haben, und den skeptischen Briten die Vermittlerrolle einzunehmen, weil die deutsche Europavision zwischen diesen beiden Rändern liegt. Ab 1960 nimmt Deutschland eine zweite, diesmal sicherheitspolitische Vermittlerrolle zwischen Frankreich und den USA Von Muamer Bećirović lesen Sie auf furche. at auch „Der amerikanische Dirigent des globalen Großmächtekonzerts“ (6.6.2019). wahr. Charles De Gaulle sagt 1963 bei einem Treffen zu Adenauer: „Herr Bundeskanzler, glauben Sie wirklich, dass die USA bereit sind, die Vernichtung New Yorks für die Befreiung Hamburgs zu riskieren?” Frankreich versucht hier, eine europäische Sicherheitsarchitektur unter französischer Führung zu schaffen, während die USA Europa schön im Rahmen der NATO und nicht einer europäischen Integration festlegen wollen. „ Bis 1990 sagt man, dass die Balance zwischen deutscher Mark und französischer Atombombe gehalten wurde. “ DIE FURCHE: Wobei sich dann die Balance deutlich ändert: 1990 stimmt Frankreich der Wiedervereinigung Deutschlands zu – aber nur dann, wenn sich Deutschland unwiderruflich an Europa bindet. Das heißt: Währungsunion, Arbeit an gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik. Diese Kompromisse mit Frankreich ändern nichts an der Tatsache, dass Deutschland zu diesem Zeitpunkt wieder dabei ist, in Europa dominant zu werden. Masala: Absolut! Das passiert 1990 mit einer gewissen Verzögerung, weil die neuen Spielräume erst mal mental in die Köpfe der politischen Eliten einsickern. Deutschland beginnt dann mit seiner Wirtschaftskraft immer öfter, eine quasi hegemoniale Politik in Europa zu betreiben. Nicht immer erfolgreich, aber das lässt sich erkennen. Zum Beispiel an der Griechenlandkrise: Da versucht Deutschland seine Vorstellungen in Bezug auf die Rettung Griechenlands durchzusetzen, wird aber dann mit der Gegenmacht Frankreichs und des Südens ausbalanciert. Am Ende kommt ein Kompromiss heraus. Es stimmt aber zweifellos, dass Deutschland nach 1990 beginnt, seine Macht offen auszuspielen. DIE FURCHE: Helmut Kohl hat mehrfach gesagt: „Ich verneige mich dreimal vor der Trikolore, bevor ich mich vor Schwarz- Rot-Gold verneige“ – wohl um Frankreich nach der Wiedervereinigung zu beruhigen. Nachdem das Ziel aber erreicht war, hat Deutschland seinen Fokus auf Osteuropa ausgerichtet. Sein Nachfolger Gerhard Schröder ist dann derjenige, der Deutschlands Einfluss nach Osten trotz Widerstands von Frankreich ausdehnen will, um mit Mittel- und Osteuropa Frankreichs West- und Südeuropa auszubalancieren – und letztlich Europa zu dominieren. Ist das der Zugang nach 1990 gewesen? Masala: Das würde ich nicht so sagen. Ja, Osteuropa ist nach der Wiedervereinigung im Fokus Deutschlands – und alles, was davon wegführt, wird von Deutschland blockiert. Mitte der 1990er Jahre löst die Ostöffnung eine Debatte in Europa aus, weil sich der Süden hier nicht vernachlässigt fühlen will. Frankreich übernimmt hier die Führung und versucht, die Osterweiterung durch eine Südpolitik auszubalancieren. Da gibt es harte Verteilungskämpfe um Gelder zwischen Süd und Ost. Deutschland aber ignoriert diese Anliegen nicht, sondern bindet sich mit ein, um auch im
DIE FURCHE · 32 10. August 2023 Politik/Geschichte 7 „ Wie einfach wäre es für Frankreich, die eigene Nuklearstrategie zu ändern und allen europäischen Staaten Nuklearschutz anzubieten. Tut es das? Nein! “ Süden Einfluss zu erwirken. Damit dort ja nichts passiert, was seine Interessen im Osten konterkarieren würde. DIE FURCHE: Die außenpolitische Bilanz von Adenauer bis Schröder wirkt jedenfalls beeindruckend. Würden Sie sagen, dass das strategielos abgelaufen ist? Masala: Wenn man sagt, Deutschland sei strategielos, dann bezieht sich das auf die große Rolle Deutschlands in Europa und auf der Welt. Hier hatte Deutschland kein klares Konzept. Aber im konkreten Moment, in dem Mittel- und Osteuropa nicht mehr unter sowjetischem Einfluss standen, wurden in Deutschland Strategien entwickelt. Es ist kein Zufall, dass der erste Politiker, der sich für die NATO-Osterweiterung in Ungarn, Tschechien und Polen aussprach, 1993 der deutsche Verteidigungsminister Völker Ruhe war. Dafür wurde er kräftig von den Amerikanern geprügelt. Wie man sieht, können wir Strategie – aber immer nur in konkreten Situationen. Das war kein großer Masterplan, sondern das waren immer historische Zeitfenster, die Deutschland für sich am Besten ausgenutzt hat. DIE FURCHE: Im Rückblick sieht es aber so aus, als hätte man einen Plan gehabt... Masala: Das ist richtig, aber man sieht auch die Bruchlinien. 1961 ist eine solche: Adenauer muss damals nach der Kubakrise realisieren, dass seine erfolgreiche Praxis, die westliche Allianz dazu zu verpflichten, die DDR als Staat nicht anzuerkennen und nur in Kontakt mit der Sowjetunion treten zu dürfen, wenn es Erleichterungen in den deutsch-deutschen Beziehungen gibt, bei Kennedy nicht mehr funktioniert – weil dieser nicht mitspielt. Adenauer wehrt sich lange dagegen, aber Deutschland passt sich als Mittelmacht den neuen Gegebenheiten der vorherrschenden Tendenzen der internationalen Politik an, um die eigenen Interessen besser verfolgen zu können. DIE FURCHE: Gleichzeitig beginnt nach 1990 die Konkurrenz mit Russland um den Einfluss in Osteuropa... Masala: In der Anfangszeit konkurriert man nicht mit Russland, weil es komplett am Boden liegt. Man nutzt strategische Spielräume des Niedergangs aus. Deutschland stößt in dieses Vakuum hinein. Als sich Russland aber stabilisiert, geht man auf Moskau wieder zu, womit sich der Raum dazwischen wieder ordnet. DIE FURCHE: Wobei Osteuropa entscheidend dafür bleibt, in Europa die Mehrheit zu haben, seinen Willen am Kontinent durchzusetzen. Masala: Absolut. Aber das Problem der Deutschen war und ist, dass sie immer nur auf dem wirtschaftlichen Standbein Attraktivität anbieten. Deutschland ist immer noch der wichtigste Handelspartner jedes neuen EU- und NATO-Mitglieds im Osten. Das Problem dabei ist nur, dass man den zweiten Teil nicht anbieten will, den diese Staaten aber wollen – und das ist die Sicherheitsgarantie. Deshalb gehen sie dafür zu den USA. Deutschland ist letztlich wegen mangelnder militärischer Mittel zu schwach für die Hegemonie über den europäischen Kontinent. DIE FURCHE: Helmut Kohl hat einmal gesagt: „Deutschland ist zu groß, um unter Gleichen der Erste zu sein; aber zu klein, um in Europa zu dominieren.“ Wobei sich die ökonomische Kraft schnell in militärische umwandeln lässt. Wie ist zu erklären, dass Deutschland sein Militär nie aufgebaut hat? Masala: Weil es nach 1990 keine Bedrohung mehr gab… DIE FURCHE: Was war mit den Kriegen auf dem Balkan, dem Überfall auf Georgien und Tschetschenien bzw. der Krim-Annexion? Masala: Das waren alles far, far away countries aus unserer Perspektive. Nach der Intervention am Kosovo hat Deutschland gelernt, dass man sich künftig selbst um den Balkan kümmern muss, weil die Amerikaner es nicht mehr tun werden. Und wie es die Amerikaner gemacht haben, war es nicht gut. Davon hat man sich in Berlin sehr schnell verabschiedet. 1999 spricht man noch in der EU von einer 60.000 Mann Eingreiftruppe, am Ende kommen Battlegroups mit höchstens 1500 Mann heraus. Der Balkan ist nur deshalb ein Thema für Deutschland, weil wir beinahe eine halbe Million Asylsuchende hatten. Wenn die alle in Österreich oder anderswo hängen geblieben wären, würde ich im Nachhinein nicht mit Geld darauf wetten, dass die Deutschen dort dieselbe Politik betrieben hätten, wie sie es taten. DIE FURCHE: Lassen Sie uns kurz rekapitulieren: Bis 1990 findet die moralische, machtpolitische und wirtschaftliche Wiedervereinigung Deutschlands statt. Ab 1990 bemüht man sich, Osteuropa unter seinen Einfluss zu bekommen – aber nicht mit der Konsequenz, wie man sie von 1945 bis 1990 gewohnt war. Nach 1990 sieht vieles nach Herumwursteln aus, obwohl man am Balkan Ordnungsmacht sein könnte. Masala: Natürlich ist es ein Herumwursteln, weil es Deutschland an Strategie fehlt. Es gibt eine ökonomische Strategie, aber keine auf militärischem Gebiet. Die Befürchtung Deutschlands war immer die: Wenn wir ein Militär entsprechend unserer Wirtschaftskraft bauen, das in der Lage wäre, Osteuropa Sicherheitsgarantien zu geben, dann drehen Frankreich und unsere unmittelbaren Nachbarn durch. DIE FURCHE: Wäre das heute inmitten des Ukrainekrieges und der notwendigen Aufrüstung auch noch so? Masala: Ja, ich glaube schon. Wenn die Deutschen alle Mittel in die Hand nehmen, um die größte konventionelle Streitmacht Europas zu bauen, dann wird das nicht spurlos an den Franzosen vorübergehen. Die werden sich in bilateralen Gesprächen nicht darüber freuen. DIE FURCHE: Aber wäre das nicht der wichtigste Bruch, der stattfinden müsste? Masala: Der wichtigste Punkt ist, dass die von Olaf Scholz diagnostizierte „Zeitenwende“ dafür sorgen muss, dass dieses Land und seine Bevölkerung sein Verhältnis zu seinen Streitkräften ändert. Die hundert Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr sind nice to have. Wenn wir aber nicht grundlegend die Rolle der militärischen Macht in der deutschen Außenpolitik und Diplomatie überdenken und sie neu definieren, dann kann man dieses Geld auch in die Bildung stecken, wo es notwendiger wäre. Denn dann haben wir zwar in acht Jahren eine voll ausgerüstete Bundeswehr – aber dieselben Probleme. Deutschland muss wieder militärische Macht als politisches Mittel nutzen. DIE FURCHE: Denken wir das weiter. Was wäre, wenn sich die Amerikaner wegen Taiwan aus Europa zurückziehen würden. Welche Alternative hätten die Osteuropäer, außer sich Deutschland in die Arme zu werfen? Masala: Das ist richtig. Deswegen versucht Warschau alles, damit die Amerikaner wenigstens in Polen bleiben. Schon unter Trump hat man realisiert, dass die USA aus Europa rausgehen wollen, während man sicherheitspolitisch weder von Frankreich noch von Deutschland abhängig sein will. DIE FURCHE: Es wird aber der Punkt kommen, an dem die Amerikaner ihre Ressourcen ganz auf Asien konzentrieren müssen. Europa zum Machtfaktor zu machen, wird aber nur Deutschland und Frankreich gemeinsam gelingen. Warum fällt es beiden Mächten so schwer, einen nationalen Bedeutungsverlust hinzunehmen, um im zweiten Schritt eine europäische Supermacht zu ermöglichen? „ Die ,Zeitenwende‘ muss dafür sorgen, dass Deutschland sein Verhältnis zu seinen Streitkräften ändert und militärische Macht wieder als politisches Mittel nutzt. “ Masala: Weil das genau in der letzten Frage, nämlich jener der Sicherheit, für beide Staaten ein No-Go ist. Wir haben die Kooperation auf allen Ebenen, aber nicht im Bereich der Sicherheit. Der 2010 verstorbene deutsche Politikwissenschafter Peter Weilemann hat in seiner Doktorarbeit über die Gründung von EURATOM geschrieben, dass die ganze europäische Integration nur möglich war, weil die Europäer sich über ihre Sicherheit keine Gedanken machen mussten. Wenn diese Frage auch noch offen gewesen wäre, wäre Europa heute nicht so integriert, wie es jetzt ist. Wenn man sich die Entwicklung der europäischen Integration ansieht, dann war sie nicht immer einfach, aber wo es richtig anfängt zu stocken, ist nach 1990. Warum? Weil die Frage der Sicherheit für Frankreich in Bezug auf Deutschland und für Deutschland in Bezug auf Russland und für beide in Bezug auf die USA hinzukommt. Da fängt es an, ruckelig zu werden. Wenn es um Sicherheit geht, dann wollen Staaten sich nicht in den Händen supranationaler Ebenen sehen. KLARTEXT Unter „Olaf Scholz und seine passive Rolle im Ukraine-Konflikt“ (27.4.22) lesen Sie eine Analyse von Brigitte Quint auf furche.at. Eine Welt ohne Fugen Zeit ist aus den Fugen.“ Wenn dieser zum Generalthema der Salzburger „Die Festspiele gekürte Satz aus Shakespeares Hamlet damals schon gegolten hat – um wie viel mehr trifft er dann auf unsere Zeit zu! Wurden frühere mediale Sommerpausen meist noch mit Mutmaßungen über das Ungeheuer von Loch Ness überbrückt, droht uns heute ein pausenloser Informationsstrom über unlösbar erscheinende Konflikte zu überfordern. Der nach dem Ende des Kalten Krieges aufblühende Traum von einer fortschreitenden „Verwestlichung“ der Welt ist zur Illusion verkommen. Die Geschehnisse in Niger, wo ein demokratisch gewählter Präsident über Nacht von einer Militär-Junta entmachtet wurde, die auch Moskaus Unterstützung genießt, machten dies zuletzt drastisch bewusst. Neueste Waffentechniken unterstützen diese Entwicklung: Man muss nicht mehr mit der Atomwaffe drohen, um Abschreckungswirkung zu entfalten. Noch wirksamer sind Rohstoffe, die die ganze Welt benötigt. Sie zwingen DIE FURCHE: Aber kann das „Ruckelige“ in der deutsch-französischen Achse nicht auch daran liegen, dass Deutschland eher merkantilistisch ist und keine Schulden will, während Frankreich kein Problem damit hat; dass Deutschland ein subsidiäres Land und ein Bundesstaat ist – Frankreich hingegen zentralistisch und ein Einheitsstaat; dass Deutschland eine soziale Marktwirtschaft hat und Frankreich Etatismus betreibt? Die Grundfesten sind so unterschiedlich, dass sie kaum Einigung zulassen. Masala: Ich würde Ihnen zustimmen, dass es in diesen Feldern Konfliktpotenziale gibt. Aber der Kern ist dennoch die Sicherheitspolitik, weil Staaten dafür selbst sorgen müssen und sie diese nicht aus der Hand geben. Wie einfach wäre es für Frankreich, die eigene Nuklearstrategie zu ändern und allen europäischen Staaten Nuklearschutz anzubieten! Tut es das? Nein: Der französische Präsident Macron hält zwar zig Reden wie jene nach seiner China-Reise, bei denen danach die Hütte brennt; aber bei seiner jährlichen Nuklearrede ist er der konservativste überhaupt und sagt, was alle Präsidenten vor ihm gesagt haben: Die Atomwaffe ist eine rein nationale Waffe, sie schützt nur uns und keinen anderen. Frankreich hätte es in der Hand, das zu ändern, will es aber nicht. DIE FURCHE: Was also ist das Fazit? Frankreich und Deutschland könnten eine europäische Supermacht begründen, wenn sie das nur wollen und dafür etwas nationale Macht opfern würden? Masala: Genau! Sie wollen es auch nicht, weil sie diese Supermacht nicht anführen und darin nur einer unter vielen wären – und das wäre mit dem französischen Anspruch, Führungsmacht zu sein, nicht vereinbar. Solange Frankreich davon nicht abrückt, wird aber auch Deutschland das nicht tun. Wenn aber Frankreich eine entscheidende Wendung herbeiführen würde, könnte sich auch in Deutschland einiges bewegen. Eine europäische Supermacht ist also letztlich eine Führungsfrage Frankreichs und Deutschlands. den Westen in nüchterner Abwägung von Gesinnungsund Verantwortungsethik dazu, mit diktatorischkorrupten Rohstoff-Reichen im Geschäft zu bleiben. Das Ziel, von solchen Staaten – wie auch von China – künftig weniger abhängig zu werden, beeinflusst wiederum die Preisbildung unzähliger Güter und hält die Inflationsraten hoch. Die Notenbanken werden gut daran tun, diesen Faktor einzubeziehen, bevor sie an weitere Zinserhöhungen zulasten der Konjunktur denken und an einem wohl längere Zeit unrealistischen, zweiprozentigen Inflationsziel festhalten. Europa jedoch steht im Jahr vor der Wahl zum EU-Parlament vor der höchst anspruchsvollen Aufgabe, seine innere Verfassung zu stärken, um all diesen geopolitischen Herausforderungen mit ausreichender Fugendichte begegnen zu können. Der Autor ist Ökonom und Publizist. Von Wilfried Stadler
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