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DIE FURCHE 10.04.2025

DIE FURCHE · 1518

DIE FURCHE · 1518 Literatur10. April 2025Von Veronika SchuchterSchon viele Schriftstellerinnenund Schriftsteller habenüber das Verhältniszwischen Mensch und Tiergeschrieben, über die Beziehungim Allgemeinen oder ihreeigene ganz spezielle Verbindung zueinem Tier.Hundegedichte füllen auch ohne„Ottos Mops“ noch ganze Regalmeter,Virginia Woolf widmete mit „Flush“einem Cocker Spaniel eine ganze Biografie,Sigrid Nunez trauert in „DerFreund“ mit einem Hund um dentitelgebenden Freund, vielleicht istauch der Hund irgendwann der eigentlicheFreund. Wem Marie vonEbner-Eschenbachs „Krambambuli“nicht das Herz bricht, wer nicht inTränen ausbricht, wenn in MarlenHaushofers „Die Wand“ Luchs auf derAlmwiese von einem Eindringling erschlagenwird, der ist kein Mensch.Hier mögen einige die Stirn runzeln:Wer Tiere nicht als Gefährtenbetrachtet, wer nicht um Tiere trauert,um fiktionale noch dazu, der ist keinMensch? Genau solche Fragen, dieFrage nach der Bindung zum Tier,nach der Betrauerbarkeit, die immerauch eine Frage nach der Möglichkeitvon Liebe ist, stehen im Zentrum vonMaxi Obexers Roman „Unter Tieren“.Keine Verklärung„Unter Tieren“ spielt größtenteils imbäuerlichen Milieu am Land. Dort, wodie Beziehung zum Vieh traditionelleine besonders enge ist, räumlich,aber auch sozial, dort, wo miteinanderleben und voneinander leben sich gegenseitigbedingen, dort, wo auch derTod Teil einer Vereinbarung ist, die nurvon einer Seite unterschrieben wird.Agnes wächst bei ihrer Tante Antoniaauf einem kleinen Bauernhof auf.Antonia versorgt ihre Tiere gut, hältaber emotional jene Distanz, die esbraucht, um Nutztiere zu halten undvon ihnen zu leben. Agnes hingegenhat einen anderen Zugang. Als sie dieHündin Pirat bekommt, ist es, als würdeihr Leben erst beginnen. Plötzlichist sie nicht mehr allein, „also nichtverloren“. Wo eine Bindung so eng ist,sind auch die Angst und der SchmerzFoto: © Weinfranz / Entgeltliche EinschaltungFeinfühlig, aber mit einem schonungslosen Blick erzähltMaxi Obexer von der Beziehung zwischen Mensch und Tier.Nicht mehrverlorenverbringt Agnes mit den Kälbern desDorfes und Pirat allein auf der Alm,oder eben nicht allein, denn sie ist jaunter Tieren. Jedes Kalb hat seineneigenen Charakter, seine Vorlieben,Agnes erkennt aber auch, wie ihreBauern sie behandelt haben. Spurlosgeht der Kontakt mit Menschen ankeinem Tier vorbei.Am Ende dieses Sommers werdendie Bauern die Kälber holen, einigemit boshafter Brutalität. Agnesmuss mit ansehen, wie die Tiere genichtweit: „Wir hatten Angst umeinander,sorgten uns, wenn, dann umden anderen. Verwundbar, wir ahntenes, waren wir allein durch den Verlustdes anderen.“Als Agnes, die den Hof verlassenhat, um Philosophie zu studieren, zurückkehrt,erinnert sie sich. An ihreunzuverlässige Mutter, Annie, die sieeinfach zurückgelassen hat, an dasLeben mit den Tieren und die Grausamkeit,mit denen diese von vielenbehandelt werden. Einen SommerFestival jüdischer Musik16.–18. & 24.–25. Mai 2025ehemalige-synagoge.atJetzt Tickets sichern!Dr. Karl Renner-Promenade 22, 3100 St. PöltenFoto: iStock/ecobotreten werden, während man die Kälberfür den touristischen Almabtriebschmückt. „Es war eine Maskerade.“Doch niemand außer ihr bemerkt dieseGewalt oder stößt sich an ihr, esgehört dazu, es war schon immer so.Als Antonia ihre Tiere hergebenmuss, weil ihr Hof nicht den gesetzlichenVorgaben entspricht, verliert ihrLeben seinen Sinn und sie landet inder Psychiatrie.Obexer scheut sich nicht, große Gefühlezu benennen – und sie literarischhervorzurufen. Wie sie Agnes’Beziehung zu ihrer Hündin Pirat beschreibt,ist von einer selten gelesenenZärtlichkeit. Ihr gelingt dasKunststück, diese tiefe Verbindungund Zugewandtheit zu beschreiben,ohne die Tiere zu Projektionsflächenzu machen. Obexer gehört nicht zujenen, die Tiere verklären und glauben,dass sie die besseren Menschenseien, weil sie uns bedingungslos liebenund nicht lügen würden. Das istdie andere Seite der angeblichen Tierliebe,die Tiere auf andere Weise zuNutztieren degradiert.PerspektivenwechselObexer umkreist ihr Thema vonverschiedenen Blickwinkeln. Ganzzu Beginn des Buches versetzt sie dieLeser in die Perspektive eines Hundes,der versucht, Antonias Verhaltenzu lesen und zu deuten. Auch Agnesund Pirat beobachten sich gegenseitig,wobei – das ist eine Parallelezu den Hierarchien der Menschen –das unterlegene Wesen aus reinemÜberlebenswillen heraus wesentlichbesser beobachten muss: „Sie passtesich fortwährend an. Beobachtete,studierte mich und die anderen pausenlos,es war ihr Lebensauftrag, unsnachzuvollziehen, und das so gut,dass sie oft vorwegnehmen konnte,was wir im Begriff waren zu tun.“Wie jede Beziehung beruht auchjene zwischen einem Menschen undeinem Tier auf Kommunikation.Zusätzlich zu diesen individuellenAushandlungen zieht Obexer nocheine philosophische Ebene ein undverstrickt ihre Protagonistin in einGespräch mit einem Philosophieprofessorüber die berühmte Anekdotevom Turiner Pferd, derzufolgeNietzsche ein gequältes Pferd aufdem Marktplatz in Turin umarmt habenund in Tränen ausgebrochen seinsoll. Agnes verweigert, darüber nachzudenken,warum Nietzsche Mitleidempfunden haben könnte. „Was isteigentlich mit den andren los, diekein Mitleid haben?“, fragt sie.So berührend Obexer von der Liebezu den Tieren erzählt, so schonungslosberichtet sie von der Gewalt an ihnen.Das verlangt einem beim Leseneiniges ab, vor allem, wenn man zujener Gruppe gehört, die Luchs’ Todnoch bis in die Träume verfolgt. Dasist das zweite große Thema von ObexersRoman: der Schmerz von Verlust,die Trauer, die einen körperlichergreift, wenn das so Vertraute plötzlichnicht mehr da ist.Es ist kein Zufall, dass kaum einesjener Bücher, die sich literarischmit dem Verhältnis zu Tieren, vor allemzu Hunden, auseinandersetzt,diesen Aspekt ausklammert. Dieaus Südtirol stammende, in Berlinlebende Autorin Maxi Obexer fügtdieser Reihe einen wertvollen Beitraghinzu, präzise beobachtet undfeinfühlig erzählt.„ Obexer scheut sich nicht,große Gefühle zu benennen –und sie literarisch hervorzurufen.Wie sie Agnes’Beziehung zu ihrer HündinPirat beschreibt, ist voneiner selten gelesenenZärtlichkeit. “Unter TierenRomanvon Maxi ObexerWeissbooks 2024240 S., geb., € 24,70

DIE FURCHE · 1510. April 2025Literatur19Von Ingeborg WaldingerArturo Toscanini dirigiert am 22. November1953 in New York Brahms’„Tragische Ouvertüre“. 14 Minutenund sieben Sekunden, gepresstauf eine Platte, archiviert für dieNachwelt. Jahrzehnte später hört ein Sohn Oslosdiese Aufnahme und entdeckt eine zufälligeKoinzidenz: Zum Zeitpunkt des transatlantischenKonzerts existierte er bereits, geradeeine Woche, „(wie die letzte Ausgabe eines Wochenblatts)“.Die Rede ist von Tor Ulven. Der norwegischeAutor stellt diese Erkenntnis an denBeginn seines nun auf Deutsch vorliegendenProsadebüts „Grabbeigaben“ und erläutert dietiefere Relevanz: Was genau sich in den Minutenjenes Konzerts „mit mir (wie alle anderennur ein Beispiel) oder den allermeisten anderenin demselben Lebensstadium eigentlich ereignethat“, sei ebenso im Nichts verschwundenwie die Musik, indem sie gespielt wurde. DieTonkonserve verleihe dem Konzert nur den Anscheinvon Unsterblichkeit, weil sie es unendlichwiederholbar mache.Mit „Grabbeigaben“ legt der Grazer VerlagDroschl ein weiteres Werk Tor Ulvens vor, auchdiesmal in der hervorragenden Übersetzungvon Bernhard Strobel. Bisher erschienen dieBände „Dunkelheit am Ende des Tunnels“, „Dasallgemein Unmenschliche“ und „Ablösung“.Sprechende Titel aus dem düsteren Kosmos einesschwermütigen Autors, der auch als bildenderKünstler, Lyriker und Übersetzer tätig war,ehe er 1995 freiwillig aus dem Leben schied.Wie ein Haufen verstreuter Zettel„Grabbeigaben“ ist eine Sammlung von Prosa-Miniaturen, sie trägt die Gattungsbezeichnung„Fragmentarium“. Fragmentarisch ist das Buchim Sinne einer offenen literarischen Form wieauch als Sammelbecken materieller und ideellerBruchstücke. Es vereint archäologische Funde,erdachte Szenerien und Erinnerungssplitter mitSegmenten aus Film, Kunst und Literatur. Mosaiksteine,durch die zwei Sphären vage Konturannehmen: das antike Pompeji am Vorabend derKatastrophe und bestimmte Lebensphasen einesPaares unserer Zeit. Das Stückwerk fügt sichzu keinem chronologischen, abgeschlossenenGanzen, sondern bleibt ein „Haufen verstreuterZettel“, ein „Lebensschuttplatz“.Einzig im Ich der eingangs zitierten Passagewird der Autor erkennbar. Die Perspektivewechselt laufend, als zentrale Stimme tritt einanonymer Archäologe in Erscheinung, abgelöstzuweilen von seiner ebenso namenlosenLebensgefährtin (eine Schauspielerin) und einemauktorialen Erzähler. „Grabbeigaben“ istDer Prosaband „Grabbeigaben“ des norwegischen Schriftstellers Tor Ulven ist ein fulminanter Versuchüber das Erinnern und die Endlichkeit. Die Dingwelt zeigt sich voller Botschaften.Spuren der Existenz,Zeichen der Abwesenheitein virtuoser Versuch über das Erinnern, überseine Grenzen und seinen Verlust. Das Gerüsthierfür dürfte Walter Benjamins Geschichtsphilosophieund Erinnerungspoetik liefern,unter anderem sein Denkbild „Ausgraben undErinnern“. Tor Ulvens Archäologe gräbt nichtnur nach den materiellen Überresten der Historie.Er wühlt sich auch hinab in die Tiefenseiner eigenen, verschütteten Vergangenheit.Archäologie als Verfahren und Metapher.Bei seiner Suche nachder verlorenen Zeit stößter wiederholt auf eineForm, die zugleich von einerExistenz wie von derenAbwesenheit zeugt:den Abdruck. Zum Beispielder Sitzabdruck derGeliebten in einem Hotelsofa;ihre Fingernagelabdrückein seinem Handgelenk,entstanden bei„ Tor Ulvens Archäologegräbt nicht nur nach denmateriellen Überrestender Historie. Er wühlt sichauch hinab in die Tiefenseiner eigenen, verschüttetenVergangenheit. “Foto: Wikipedia Sören Bleikertz (CC BY-SA 3.0)einer Achterbahnfahrt; die Fußabdrücke prähistorischerJugendlicher in einer Höhle; undschließlich die Körperabdrücke der Opfer desVesuv-Ausbruchs, hinterlassen im erhärtetenpyroklastischen Strom. Auch hier wird ein Benjamin’schesModell erkennbar, das „dialektischeBild“, in dem, so der Philosoph, „das Gewesenemit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“.Die persönlichen und fachlichenErinnerungsfetzen des Archäologen verschränkensich nahtlos mitseinen erdachten letztenTagen von Pompeji.Der Forscher erweckt dieVerschütteten zum Leben,doch sie erwachennur zu einem Totentanz.Das ganze Buch ist eineinziges memento mori,und die Reihe an Vanitas-Motivenlang: Skelett,Schädel und Spiegel,Krug und Brief, Schatten oder ein transzendentesWeiß. „Stillleben überall“, heißt es an einer Stelle.Diese manifestieren sich in hoher künstlerischerAusprägung wie im beliebigen Nebeneinandervon Dingen des täglichen Gebrauchs; zumBeispiel die fast leere Cola-Flasche auf dem fastleeren Parkplatz, die ihren Schatten auf eine sonnengetrockneteOrangenschale wirft. Oder jeneMomentaufnahme, da das von Alter und Krankheitgezeichnete Paar seine „Reliquien“ auf demGartentisch ablegt, sie ihre Perücke, er sein Gebiss.Die Dingwelt ist voller Botschaften. Vorausgesetzt,man ist empfänglich für ihre potenzielleZeichenhaftigkeit. Dann aber können selbst dieAufschriften eines vorbeifahrenden Güterzugszum „Metapherngestöber“ verwirbeln.Fragmente unterbrechen Zusammenhänge,was mitunter ein kräftig Maß an Spannung erzeugt.Als wahrer Cliffhanger fungiert die kryptischeAngabe „als es passierte“. Sie findet sich invielen Szenen, das Ereignis aber wird nie konkretisiert.Dennoch ahnt der Leser, hier steuert allesauf das große, dramatische Finale zu: der Archäologe,seine Frau, Pompeji, im Grunde jede Epoche.Tor Ulvens Fragmentarium verschränkt diegroßen Themen Erinnern und Endlichkeit feinsinnigund feinfühlig. Es ist aber auch ein Plädoyerfür die achtsame Auseinandersetzungmit der Vergangenheit: „Wir gehen (...) auf einerArt Gedächtnis, das uns gleichgültig lässt. Dasichlose Gedächtnis der Erde unter unseren leidenschaftlichen,egozentrischen Erinnerungen.“GrabbeigabenFragmentariumVon Tor UlvenAus dem Norwegischenvon Bernhard StrobelDroschl 2025136 S., geb., € 22,–Pssst!Literaturfreundeaufgepasst: In dernächsten Ausgabeerwartet Sie unsereLiteraturbeilage„booklet“. Freuen Siesich auf rebellischeFrauen und widerspenstigeTexte.alle Artikelzurück bis1945Noch kein Abo? Jetzt 4 Wochen testenund „booklet“ lesen: www.furche.at/abo/gratis

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