DIE FURCHE · 28 Das Thema der Woche Süß, korrupt, tödlich9. Jänner 2025Viele Menschen neigen zum unbewussten und freudlosen Nebenbei-Essen.Arzt und Buchautor Gregor Hasler zeigt anhand aktueller Forschung, wieachtsames Essen zum Schlüssel für Genuss und Gesundheit wird. Warumes sich lohnt, eine subtile Süße neu zu entdecken.Die HimmelsleiterF&AFakten fürGesundheitund PolitikWie viel Zucker ist noch gesund?Laut WHO sollten freie Zucker(außerhalb der Zellen der Lebensmittel,Anm.) nicht mehr als zehnProzent der täglichen Kalorienzufuhrausmachen, besser wärennur fünf Prozent. Das entspricht25–50 Gramm pro Tag. DieseRichtlinien gelten für Erwachseneund Kinder: Sie zielen daraufab, das Risiko für Fettleibigkeit,Diabetes Typ 2 und andere chronischeKrankheiten zu senken.Wie hoch ist der Zuckerkonsumin Österreich?Jedenfalls über den WHO-Empfehlungen:Durchschnittlich konsumierendie Österreicherinnenund Österreicher ca. 90 GrammZucker pro Tag. Dies auch deswegen,da der Konsum oft unbewusststattfindet.Insulinspitzen meidenEssen ist mehr als die Aufnahmevon Nährstoffen: Wer achtsam isst,bremst den Anstieg des Blutzuckersund vermeidet Insulinspitzen.Von Martin Tauss„ Wenn man Lebensmittelwie Brot, Kartoffelnoder Reis gut kaut undlangsam isst, werdensie bereits so süß, dasses keinen zusätzlichenZucker mehr braucht. “Am Anfang war die Achtsamkeit:Als unsere Urvorfahren als Jägerund Sammler durch die (nochnicht abgeholzten) Wälder streiften,war anhaltende Aufmerksamkeitüberlebenswichtig. Da ein Geräusch,dort eine Spur – die Natur war wie ein Buch, indem man lesen konnte. Um Gefahren zu vermeidenund zu frischer Nahrung zu gelangen,mussten Signale aus der Umwelt frühzeitigbemerkt und richtig interpretiert werden.Achtsamkeit spielte beim Jagen eine ebensozentrale Rolle wie später beim Essen, wo esdarum ging, durch geschärfteSinne wohltuendevon schädlichenInhaltsstoffen zu unterscheiden.Fand man zufälligeine reife Frucht,entzückte plötzlich eineSüße das menschlicheBewusstsein. Der natürlicheZucker war eineBelohnung, die nur seltenzu haben war. NeuereStudien zeigen, dassdieser Stoff tatsächlich wie ein Allheilmittelwirkt: Er kann innere Wärme schenken,Angst lindern, Schmerzen sowie unangenehmeEmpfindungen unterdrücken und somitSicherheit und Entspannung vermitteln.Der Kick durch Superreiz-SchokoladenAchtsamkeit und (ein bisschen) Zucker, daswar einst wie eine Leiter in den Himmel, diewir heute wiederentdecken können, so GregorHasler, Professor für Psychiatrie und Psychotherapiean der Universität Freiburg in derSchweiz. „Das ist vermutlich der Grund, weshalbin allen Religionen und spirituellen TraditionenGottheiten, Ahnen oder die höhere Weltmit Süß-Aromen in Verbindung gebracht werden“,schreibt der Chefarzt in seinem lesenswertenBuch „Was uns wirklich nährt“ (2024).„Im Islam wird das Fasten mit süßen Datteln gebrochen.In der Bibel verspricht Gott seinemVolk ein Land, in dem süße Milch und Honigfließen (…). Jesus schenkt der Menschheit seinenbrotsüßen Leib. In den Psalmen wird dieWahrnehmung von Süße sogar als direkte ErfahrungGottes verstanden.“ Auch in SigmundFreuds Psychoanalyse ist die milde Süße ausder Mutterbrust die Brücke zum Urvertrauenin die Mutter und somit in die Welt. „Der Milchzuckerist im Vergleich zu Tafel- und Fruchtzuckerwenig süß, vermutlich um die Abhängigkeitzur Mutter nicht unnötig groß werden zulassen“, bemerkt Hasler.Achtsamkeit und Abhängigkeit, das sindheute die zwei großen Pole, zwischen denen derZuckerkonsum zu sehen ist. Sie markieren denHimmel und die Hölle der Süßigkeit, die wohlviele aus eigener Erfahrung kennen: zum Beispielin Form einer dezent gesüßten Nachspeise,die das Essen abrundet und am Gaumen einensubtilen Geschmackentfaltet, oder in Formeiner heillos überzuckertenSchokolade, diejeglichen Geschmackentwertet und nur dazuda ist, einen flüchtigenKick in unserem Gehirnhervorzurufen. „Die Industriespickt ihre Speisenmit billigen Superreizen,die eine kurze,intensive und suchtförderndeAroma-Erfahrung vermitteln, die zuden Milliardengewinnen und dem zunehmendenEinfluss der Nahrungsproduzenten maßgebendbeiträgt, von den Konsumenten abermit der langfristigen Abnahme von Genussund Gesundheit bezahlt wird“, so Hasler.Zur vordersten Front dieser Superreizezählt zweifellos der Zucker, dessen Suchtfaktorim Kapitalismus oft hemmungslos ausgeschlachtetwird (siehe Seite 6). Die Folgen: Zuckerwurde zum stets verfügbaren und allesbestimmenden Nährstoff, der heute etwa auchin Salat- und Tomatensoßen, Ketchup, Brotaufstrichen,Würsten, Rotkraut, Müslis, Joghurtsund Eistees omnipräsent ist. Man setzt auf denbiologischen Effekt der Zuckermoleküle, diedem Gehirn quasi sagen: „Sorge dich nicht!Das, was du isst, ist vertrauenswürdig und gut.“Das aber schlägt sich auf die Gesundheit, dennZucker erzeugt oxidativen Stress, und dieserStress schädigt die Zellen.Die Folgen: eine Zunahme von Herzproblemen,Adipositas, Bluthochdruck, Krebs,Parkinson oder Demenz. Zudem verursachtZucker eine übermäßige Ausschüttung von Insulin(Insulinspitze). Das Hormon steigert denHunger, macht müde und gibt dem Körper dasSignal, Fettpolster anzusetzen. Die Botschaftin Haslers Buch ist für aktuelle Ernährungsfragenhochrelevant: Allein durch das Vermeidenvon Zuckerspitzen aufgrund von achtsamemEssen, zuckerarmer Nahrung und Fasten istes möglich, den oben erwähnten Krankheitenvorzubeugen, ihren Verlauf zu mildern oder siesogar zu heilen: „Je langsamer und weniger wiressen, desto gesünder ist die Nahrung, selbstwenn es sich um Fast Food und Schokoladentortehandelt.“Kulinarischer UmweltschutzSchließlich ist der industrielle Zucker nur eineSüßquelle unter vielen: Zwiebeln und Selleriezum Beispiel entwickeln bei leichtem Anbrateneine leichte Süße, die den Speisen einenwohligen Geschmack verleiht. Auch kaum gezuckerteFrüchtetees können bei achtsamem Trinkenbereits einen intensiven Süßgeschmackvermitteln. Und wenn man kohle hydrat haltigeLebensmittel wie Brot, Teigwaren, Kartoffelnoder Reis gut kaut und langsam isst, werden sieso süß, dass es keinen zusätzlichen Zucker inSoßen oder Ketchup mehr braucht.Gesetze, die den Zuckergehalt in industriellerNahrung beschränken, könnten laut HaslerMilliarden an Gesundheitskosten sparen undviel Leid vermeiden. Der Buchautor sieht auch inkünstlichen Zuckern wie Xylit (aus Birkenholz),Erhythrit (aus Honig und Melonen) oder Stevia(aus einer tropischen Pflanze) eine wichtige Unterstützung,um der aggressiven Versüßung unsererkulinarischen Umwelt entgegenzuwirken:Sie sind bitterer, machen weniger abhängig underzeugen damit eine geringere Produktbindungals normaler Zucker – und sind bei allen Abstrichenimmer noch deutlich gesünder als dieser.Was uns wirklich nährtDurch achtsames EssenGesundheit, Wohlbefindenund innere VerbundenheiterlangenVon Gregor HaslerArkana-Verlag 2024272 S., geb., € 22,70Foto: iStock / Vadym SirobabaWie steht es mit dem Zuckergehaltin Supermarktprodukten?Zucker wird nicht nur in offensichtlichenSüßwaren wie Schokoladeeingesetzt, sondern auchin Produkten wie Brot, Fertigsoßen,Müslis und Joghurt. DerGrund: Zucker ist absatzfördernd.Ein Beispiel liefert eine französischeStudie, die zeigt, dass circa70 Prozent der Supermarktproduktezugesetzten Zucker enthalten.Die Situation in Österreichdürfte laut „Foodwatch“, einerNGO, die sich für gesunde Lebensmittelengagiert, vergleichbarsein. Das führt dazu, dassKonsumenten oft mehr Zucker zusich nehmen, als sie glauben.Wie könnte der Zuckerkonsumgesenkt werden?Freiwillige Initiativen der Lebensmittelindustriehaben bishernicht den gewünschten Erfolg gebracht.Staatliche Regulierungensind laut „Foodwatch“ dringenderforderlich, um den Zuckerkonsumeffektiv zu reduzieren. InGroßbritannien etwa hat die Einführungeiner nach Zuckergehaltgestaffelten Limonadensteuer zueinem deutlichen Rückgang desZuckergehalts in Softdrinks geführt.Die WHO hält fest, dass diewissenschaftliche Evidenz für Zuckersteuerngegeben ist. WeitereAnsätze wären zum Beispiel Werbebeschränkungenfür zuckerreicheProdukte, denn besondersKinder sind anfällig für solcheWerbungen, sowie die verpflichtendeEinführung eines „Nutri-Scores“: Das ist ein einfach verständlichesAmpelsystem, das aufden ersten Blick zeigt, wie gesundoder ungesund ein Produkt ist.Nächste Wocheim Fokus:Am 20. Jänner, „Inauguration Day“,wird Donald Trump als neuer Präsidentder Vereinigten Staaten vonAmerika vereidigt. Welche Philosophieund Geschichte stecken hinterdiesem Ritual auf dem „CapitolHill“? Und welche Gelöbnisse gibt eshierzulande? Eine Kulturgeschichteüber Versprechen – und ihren Bruch.
DIE FURCHE · 29. Jänner 2025Religion/Geschichte9Am 14. Jänner hätte erseinen 150. Geburtstaggefeiert. Ein Porträteines unverwüstlichen„Gutmenschen“, dessenBeispiel in Zeitenum sich greifenderGleichgültigkeit undResignation umsomehr gefragt ist.AlbertSchweitzerSuperstar?TypischesOutfitDer Arzt und Theologeverkörpertedie „hellen Seiten“des christlichenMissionswesens.Kritiker warfenihm Rassismusund prokolonialistischeEinstellungenvor.Von Till SchönwälderKaum eine Persönlichkeitgilt bis heute derartals Inbegriff derHumanität aus christlicherNächstenliebewie Albert Schweitzer. Der evangelischeTheologe und Arzt, der1954 mit dem Friedensnobelpreisausgezeichnet wurde, steht vonseiner Popularität in einer Reihemit Persönlichkeiten des 20. Jahrhundertswie Nelson Mandela, AlbertEinstein oder den GeschwisternScholl. Davon zeugen nichtnur die zahlreichen Einrichtungen,die seinen Namen tragen, inWien etwa das bekannte von evangelischenChristen gegründete Albert-Schweitzer-Haus,das sowohlals Veranstaltungsort als auch alsStudierendenwohnheim fungiert.Auch Generationen von Theologenund Pfarrern berufen sich aufdas Vorbild Schweitzers. Kurzum:Gäbe es in der evangelischen Kirchedie Heiligenverehrung, stündeder am 14. Jänner im Elsass geboreneDenker wohl ganz weit obenauf der Liste heiligmäßiger Protestanten.Sinnbild europäischer IdealeFoto: Getty Images / Authenticated News / Erica AndersonDabei ist es naheliegend, was andem „Urwaldarzt“, der mit 38 seinerbeschaulichen Heimat und einerdamit verbundenen hoffnungsvollenUniversitätskarriere denRücken kehrte, um als Medizinerin Lambarene im heutigen Gabunden Ärmsten zu helfen, so sehr fasziniert.Weiß gekleidet und mitTropenhelm verkörperte er nichtnur die „hellen Seiten“ des christlichenMissionarswesens abseitsvon imperialistischem Machtstrebenund Kolonialismus. AlbertSchweitzer, quasi als Prototyp desheutigen „Gutmenschen“, der dieeuropäischen Ideale im bestenSinne hochhält.Dazu kommt seine uneingeschränkteEthik der Ehrfurchtvor dem Leben, für welche der berühmteSatz Schweitzers „Ich binLeben, das leben will, inmittenvon Leben, das leben will“ steht.Auch gegenüber Vereinnahmungsbestrebungender Nationalsozialistensetzte sich Schweitzer aus sichererEntfernung zu Deutschlanderfolgreich zur Wehr. Eine nachLambarene versandte und „mitdeutschem Gruß“ unterzeichneteEinladung von Joseph Goebbels,der Schweitzer für die NS-Ideologiegewinnen wollte, beantworteteer mit einer höflichen Absageund unterzeichnete „mit zentralafrikanischemGruß“. Auf Basisseines pazifistischen Engagementswurde Schweitzer nach demEnde des Zweiten Weltkriegs vielEhre zuteil, die in der Verleihungdes Friedensnobelpreises gipfelte.Er gilt zudem als Galionsfigur derAnti-Atom-Bewegung als auch alsPionier des Vegetarianismus, soappellierte er, „für die Schonungder Tiere einzutreten, ganz demFleischgenuss zu entsagen undauch gegen ihn zu reden“.Also, Albert Schweitzer Superstar?Das gilt nicht uneingeschränkt.Bereits seit Mitte desvergangenen Jahrhunderts wurdenSchweitzers Positionen auchkritisch interpretiert und ihmwurden rassistische, paternalistischeund prokolonialistische Einstellungenvorgeworfen. In einemBuch des Journalisten John Guntherim Jahr 1957 beschrieb dieserihn nach einem Besuch als „verbohrt,diktatorisch, vorurteilsvoll,pedantisch“ sowie „reizbar und etwaseitel“. Er interessiere sich zudemnur wenig für Afrika, könnebis auf wenige Worte die Sprachenicht und habe zudem generell wenigVertrauen in die Fähigkeitender Afrikaner.In Folge von Gunthers Schilderungenwurde insbesondere seinKrankenhaus in Lambarene immerwieder im Zusammenhangmit angeblichen Hygienemängelnkritisiert. So sei seine Einrichtungtrotz hoher Spenden nichtmodernisiert worden und unelektrifiziertgeblieben, Schweitzerhabe zudem unhygienische undkrankheitsfördernde Zuständemit der Begründung von Tierliebegeduldet. Im historischen Kontextmuss allerdings festgestelltwerden, dass viele der Aussagenwohl das Ziel verfolgten, Schweitzeraufgrund seines Anti-Atomwaffen-Engagementszu diskreditieren.Tatsächlich finden sich beiSchweitzer Äußerungen über dieÜberlegenheit der europäischenKultur, die von manchen als rassistischeingestuft werden, jedochim Kontext ihrer Zeit zu beurteilensind. Von dem üblichen Hochmutund Rassismus seiner Zeit hebtsich Schweitzers Sichtweise allerdingserheblich ab, ist sich die Forschungheute durchaus einig.Meister der InszenierungEinen bislang letzten Versuch,Schweitzers Vermächtnis zumWanken zu bringen, stellte die2014 erschienene Biografie AlbertSchweitzers mit dem Titel „Meisterder Selbstinszenierung“ dar, indem der Theologe Sebastian Molldem „Urwaldarzt“ vorwarf, im Sinneder eigenen Profilschärfungin autobiografischen Angabendurchaus zu Mitteln der positivenInszenierung der eigenen Persönlichkeitgegriffen zu haben.„ Einem von Joseph Goebbels ‚mitdeutschem Gruß‘ unterzeichnetenVereinnahmungsversuch erteilteer ‚mit zentralafrikanischemGruß‘ eine Absage.“Wissenschaftlich habe seineEthik der Ehrfurcht vor dem Lebenin den heutigen Ethikdiskursen„allenfalls die Rolle eines Stichwortgebers“,merkte der Wienerevangelische Theologe und EthikerUlrich H. J. Körtner an.Auch seine Theologie wird heutevon einer Mehrzahl der Wissenschafterinnenund Wissenschafterkritisch gesehen. SchweitzersJesus-Bild geht etwa davon aus,dass sich der Figur mit der historisch-kritischenMethode nicht angenähertwerden könne. Er betonthingegen stets, wenn auch mit geringererVehemenz als etwa RudolphBultmann, den großen Abstandzwischen dem jesuanischenWeltbild und dem Weltbild der eigenen,modernen Zeit.Der Popularität der PersonSchweitzers hat das freilich keinenAbbruch getan. Vielmehr ist es heutein einer Zeit, in der sich Aktivismusund Engagement meist auf dasLiken oder Kommentieren in densozialen Netzwerken beschränken,wohl tatsächlich wieder das Vorbilddes Tuns und „Aktivwerdens“, dasdie Faszination an seiner Personausmacht. So war Albert Schweitzerjemand, der, frei nach PapstFranziskus, „an die Ränder“ gingund sich nicht darauf beschränkte,von dem warmen und trockenenSchreibtisch aus seine Ethikunter die Menschen zu bringen. Soist Schweitzers Beispiel des unverwüstlichen„Gutmenschen“ als Gegenmodellzur immer stärker umsich greifenden Gleichgültigkeitund Resignation aktuell wohl wiederim besonderen Maße gefragt.VORSORGE& BESTATTUNG11 x in WienVertrauen im Leben,Vertrauen beim Abschied01 361 5000Lesen Sie eineEinordung zuSchweitzersEthik (3.9.2015)des evangelischenTheologenUlrich H. J.Körtner auffurche.at.www.bestattung-himmelblau.atwien@bestattung-himmelblau.at
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