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DIE FURCHE 09.12.2025

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DIE FURCHE · 26 Das Thema der Woche Süß, korrupt, tödlich9. Jänner 2025Von Magdalena SchwarzWas vor über 2000Jahren als Luxusgutin Asien begann,findet sichheute in zweiDritteln der verpackten Lebensmittelwieder. Suppen, Soßen,sogar Fleischprodukte: Die wenigstenverarbeiteten Warenkommen ohne beigesetzten Zuckeraus. Verwunderlich ist dasnicht, schließlich sorgt der Stoffnicht nur für einen unwiderstehlichenGeschmack, sondern er erhöhtauch die Haltbarkeit. Dochdie Omnipräsenz des Zuckers hattiefere Wurzeln.Der niederländische HistorikerUlbe Bosma erzählt diesenKrimi in seinem 448-Seiten-Wälzer„The World of Sugar: How theSweet Stuff Transformed Our Politics,Health, and EnvironmentOver 2,000 Years“. Kaum einZweiter weiß mehr über die Geschichtedes umkämpften Rohstoffs.Für den Niederländer istdas Projekt auch ein persönliches,schließlich hat seine Heimat massivvom blutigen Zuckerhandelprofitiert.Das Sanskrit-Wort sakkara,auf Deutsch „körnige Partikel“,taucht bereits 500 bis 300 vorChristus auf. In Indien und Chinaist raffinierter Zucker ein Symbolvon Macht und Reichtum, reserviertfür Könige und Herrscher.Die Gewinnung der weißen Kristalleaus dem Zuckerrohr ist eineKunstform, die Wochen beansprucht.Die Gier der EuropäerDoch bald finden weitere Gesellschaftskreiseund Gebiete Gefallenan dem Süßstoff. „Als Europalernte, den Zucker zu lieben,musste seine Nachfrage aus Überseeund vor allem aus Amerikagedeckt werden. Was folgte, wareine Geschichte von schockierenderGrausamkeit in einem Ausmaß,das jede Vorstellungskraftübersteigt“, schreibt Bosma. DerZuckerrohranbau in Haiti, der DominikanischenRepublik, Kuba,Jamaika, Barbados, später Brasilienfordert immer mehr Arbeitskräfte.„Die Hälfte bis zwei Drittelaller Menschen, die in Afrikaversklavt und über den Atlantiktransportiert wurden, landetenin Zuckerplantagen in Amerika“,erzählt Bosma im Interview mitder FURCHE. Geschätzt sechs bisacht Millionen Menschen. Rundzwei Fünftel von ihnen starbeninnerhalb des ersten Jahres.„Zuckerrohr zu schneiden ist einerder gefährlichsten Jobs, dieman sich vorstellen kann“, sagtBosma. In der Erntezeit schuftendie Arbeiter bis zu 18 Stundenpro Tag. Die Aufseher sind erbarmungslosbis sadistisch, es gibtständig Unfälle. Außerdem leidendie Arbeiter unter Dehydrierungund vor allem Hunger. Manchefangen und verspeisen Ratten,Echsen oder Schlangen, die sichim dichten Gestrüpp der Feldertummeln, unzählige verhungern.Andere, schreibt Bosma, entfliehenihrem Schicksal durch Suizid,werfen sich in die Tröge voll mitsiedendem Zuckerrohrsaft, lauteiner Quelle um „ihre Seelen indas Land ihrer Abstammung“ zurückzubringen.Doch immer wiederregt sich auch Widerstand.Ein Aufstand in Santo Domingoim Jahr 1791 gilt als die größteund erfolgreichste Revolte. Sielegt einen Grundstein für die spätereAbschaffung der Sklaverei.Darstellung von Sklaven und Sklavinnen, die auf einer Zuckerrohrplantage arbeiten. Die Aufseher waren gnadenlos, die Bedingungen unerträglich.Lesen Sie einelängere Versiondieses Artikelsmit weiteren Detailsund Bildernauf furche.at.Sklaverei, Umweltschäden und Gesundheitskrisen: In seinem neuenBuch erzählt der Historiker Ulbe Bosma die blutige Geschichte desZuckers. Bis heute werden tausende Menschen ausgebeutet.Die größte Sündedes Kapitalismus?Die Ausbeutung macht die Kolonialmächteunermesslich reich.Es folgen kriegerische Auseinandersetzungenum Territorien undHandelsrouten. Spanier, Engländer,Niederländer, Franzosen, allewollen ein Stück vom Kuchen.Die Aristokraten stopfen sichdie Mäuler mit Marmeladen undTorten, bis ihre Zähne vor Kariesschwarz sind. (Von der Zuckergierder Habsburger zeugt nochheute die Zuckerbäckerstiege, eigensgebaut für die Bäcker derWiener Hofburg.)1747 entdeckt der Apotheker AndreasSigismund Marggraf, wieman Zucker aus der Rübenwurzelgewinnt. Eine Sensation! Endlichkann das weiße Gold auch in denkühleren Gefilden Europas, auchin Österreich, produziert werden.Doch die Herstellung von Rübenzuckerist teurer, und so setzendie Europäer auf Protektionismus,um mit dem billigen Rohrzuckerzu konkurrieren, bis insspäte 20. Jahrhundert drücken sieden Preis. Um die Berge an überschüssigemRübenzucker loszuwerden,werden sie kurzerhandzu Dumpingpreisen auf den Weltmarktgeworfen. „Das hat die Produktionin der Karibik zerstört„ Die Sklaven schufteten bis zu 18 Stunden pro Tag. Die Aufseherwaren brutal, die Arbeiter litten unter Hunger. Viele starben imersten Jahr nach ihrem Transport aus Afrika. “Bild: iStock/ZU_09und die Armut vergrößert“, erzähltBosma.Diese Macht ermöglicht es auchden heutigen Zuckerbaronen,sich von der Einhaltung von Menschen-und Arbeitsrechten freizukaufen.Erst im August 2024 veröffentlichtedie New York Timeseine Reportage über die brutalenBedingungen auf den Zuckerrohrplantagenin Maharashtra.Die Fabriken des zentralwestindischenBundesstaats beliefernKonzerne wie Coca-Cola, Pepsi-Co oder Unilever. Offiziell ist dieSklaverei vorbei, doch gerade inder Zuckerindustrie wurde sievielerorts von Arbeitsverhältnissenabgelöst, die Zwangsarbeitund Missbrauch fördern.Im April hat es bis zu 40 GradCelsius. Die Zuckerrohre ragendrei bis sieben Meter in die Höhe,so eng, dass die Arbeiter kaumden Himmel sehen. Die Männerschneiden das Zuckerrohr mitMacheten, die Frauen reißen diescharfen, schwertförmigen Blätterab. Eine falsche Bewegung, undihre papierdünnen Ränder zerschneidendie Haut. Junge Frauenwerden gedrängt, sich die Gebärmutterentfernen zu lassen, dieMenstruationsbeschwerden würdendie Arbeit behindern. Drohungenstehen auf der Tagesordnung,auch Kinder arbeiten in derErnte. Und die Umwelt leidet. DerAtlantische Regenwald Brasiliens,des weltweit größten Zuckerexporteurs,ist auf nur sieben Prozentseiner ursprünglichen Größe dezimiert.Schlick und Dünger verschmutzendas Süßwasser.Die unbändige Wirtschaftskraftder Zuckerindustrie machees schwierig, Überproduktion und-konsum zu drosseln, schreibt Bosmain seinem Buch. Ein Pro blemsei die politische Einflussnahme.„Seit den 1940ern haben Nahrungsmittelkonzerneintensiv inWerbung und Lobbying investiert.Es ist ein unfairer Kampf, sie operierenstrategisch und im Geheimen“,erzählt er im Interview.Lügen und LobbyingGleichzeitig streut die IndustrieDesinformation. Ihre pseudowissenschaftlichenArgumente undglamourösen Werbesujets stündenden Methoden der Tabakindustrieum nichts nach, schreibtBosma. (Übrigens enthalten selbstZigaretten Zucker. Der macht esnämlich leichter, das Nikotin zu inhalieren.)Auch in Österreich verbreitetdie Zuckerindustrie Falschmeldungen,etwa auf der Websitewww.forum-er naehrung.at. Dasperfide Marketing, die Umweltzerstörungund vor allem die Ausbeutungvon Menschen machenUlbe Bosma wütend, das wird beider Lektüre seines Buchs spürbar.Millionen starben auf denZuckerplantagen, Tausende schuftenheute unter menschenunwürdigenBedingungen in derZuckerproduktion. Darüber hinaussterben Unzählige an den Folgenvon übermäßigem Zuckerkonsum,wie Typ-2-Diabetes oderHerzkreislauferkrankungen. Istdie Erschließung des weißen Süßstoffsdie schlimmste Sündedes Kapitalismus? Ohne Zweifelzählt sie zu jenen mit den weitreichendstenFolgen.Hat er selbst seinen Zuckerkonsumreduziert? Ulbe Bosma lacht,schüttelt den Kopf. Ernährungsei schließlich kein individuellesProblem. Und für viele sei billiges,zuckerhaltiges Essen die einzigeNahrung, die zur Verfügung stehe.„Gehen Sie in Ihre Küche undsehen Sie sich die verpackten Lebensmittelin Ihren Regalen an“,sagt Bosma und macht eine ausladendeHandbewegung. „Fast allesenthält Zucker.“The World of SugarHow the Sweet Stuff TransformedOur Politics, Health, andEnvironment Over 2,000 YearsVon Ulbe BosmaHarvard University Press 2025448 S., kart., € 41,95

DIE FURCHE · 29. Jänner 2025Das Thema der Woche Süß, korrupt, tödlich7Zuckerl verbotenAuch Ernährungsexperten und-expertinnen warnen vor demSüßstoff, halten aberwenig von zu dogmatischenVerboten für Kinder..Auch wenn Eltern wissen, dass zu viel Zucker der Gesundheit schadet: In einer Welt,in der Süßes überall ist, haben sie es schwer, den Zuckerkonsum ihrer Kinderim Zaum zu halten. Viele versuchen es trotzdem.Von Sandra LobnigBei der Bananenschnitte, die ihrdie Nachbarin kürzlich vorbeibrachte,hat Theresa eine Ausnahmegemacht. Zum Übriglassenwar ihr die Mehlspeisedann doch zu schade, also haben Theresaund ihr Mann Michael sie aufgegessen.Auch wenn sie sonst fast ausnahmslos alles,was Industriezucker enthält, vermeiden– und ihren zweijährigen Sohn Elias komplettzuckerfrei ernähren. „Eine Doku überdie gesundheitlichen Folgen von Zuckerkonsumhat uns dazu motiviert“, erzähltTheresa. Das war vor drei Jahren. Seitdemverzichten sie auf raffinierten Zucker und,so ihre Erfahrung, fühlen sich klarer imKopf und insgesamt fitter.Elias kennt es nicht anders. Er weiß nicht,wie Fruchtzwerge, Vanilleeis oder Schokokuchenschmecken. Und er verlangt auchnicht danach. „Bisher war es deshalb garnicht so schwierig, dass Elias keinen Zuckerisst“, sagt Michael. Zu Geburtstagsfeiernund Besuchen bei Großeltern undFreunden bringen die Eltern zuckerfreieAlternativen mit. Unterwegs haben sieSnacks dabei. „Man muss sich gut organisieren,aber es klappt. Unsere Familien akzeptierendas, weil wir eine klare Haltunghaben und die kommunizieren.“Und wenn Elias später mitbekommt, wiesehr seine Kindergartenfreunde auf Gummibärliund Co abfahren und beim Kindergeburtstaggern ein Stück vom Kuchen hätte?„Wir werden sehen, wie wir das dannmachen“, sagt Theresa. Sie kann sich Ausnahmenvorstellen, etwa auf Partys. Bis esso weit ist, bekommt Elias als Snack zumBeispiel Avocados, die liebt er heiß. „Oderzuckerfreie Waffeln, die sind ideal zumMitnehmen.“Schokokuchen für gute GefühleViele Eltern stellen sich die Frage, ob undwie viel Süßes für ihre Kinder akzeptabelist. „Das Bewusstsein dafür, dass zu vielZucker schädlich ist, ist in den vergangenenJahrzehnten gestiegen“, sagt ManuelSchätzer vom vorsorgemedizinischen Institut SIPCAN. Ob Eltern ihr Kind gänzlichzuckerfrei ernähren oder den Konsum aufdie eine oder andere Weise reglementieren:In einer Gesellschaft, in der zuckerhaltigeLebensmittel omnipräsent sind, ist das herausfordernd.Dabei geht es nicht allein um all das, wassich unter dem Begriff „Süßigkeiten“ subsumierenlässt. Denn selbst in gesund anmutendenLebensmitteln wie im Fruchtjoghurtoder im Frühstücksmüsli ist derZuckergehalt zum Teil erschreckend hoch.So wie in vielen Produkten, die speziell fürKinder angeboten werden. „Zucker ist Teilunserer Gesamternährung“, sagt ManuelSchätzer. Und das leider allzu oft in einemungesunden Ausmaß. Hoher Zuckerkonsumverursacht Karies und kann schonim Kindesalter zu Übergewicht führen. Etwaein Viertel aller Kinder ist übergewichtigund hat damit eine höhere Wahrscheinlichkeit,im Erwachsenenalter an Diabetes,Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Bluthochdruckzu erkranken.Die Affinität zu Süßem ist uns Menschenin die evolutionsbiologische Wiege gelegt.Weil es in der Natur so gut wie keine giftigensüßen Lebensmittel gibt, galt Zuckerschon bei unseren Vorfahren als sicheresLebensmittel sowie als Energielieferant.Bereits vor der Geburt beginnt die süßePrägung: Über die Geschmacksknospennimmt der Embryo den süßen Geschmackdes Fruchtwassers wahr, auch Muttermilchschmeckt leicht süß.Foto: iStock / Tom Kelley ArchiveHarte Zeiten fürSchleckermäulerDass Erwachsene einem Kind beim Bäckerein Schokocroissant kaufen, Palatschinkenmit Marmelade füllen oder Zuckerlaus dem Supermarkt mitbringen, hatdarüber hinaus emotionale Gründe. „Zuckerlöst positive Gefühle aus“, sagt Schätzer.„Jeder hat das schon erlebt, und dieÄlteren möchten das an die nächste Generationweitergeben.“ Das warme Gefühl imBauch, wenn man bei Kuchen und Kakaozusammensitzt. Die Freude über einen großenEisbecher an einem heißen Sommertag.Kaum ein Kind, das sich bei der Aussichtauf eine Süßigkeit nicht begeisternlässt. Das wissen auch die Großeltern. „Siefreuen sich, wenn ihnen die Enkelkinderins Gesicht lachen, weil sie von ihnen Schokoladebekommen. Mit Karotten ist dasschwer zu erreichen.“Barbara und Thomas, Eltern des siebenjährigenLuca, haben gegen ein höheresNaschpensum bei den Großeltern nichtseinzuwenden. „Das ist schon okay“, findetBarbara. Auch dass die beiden Urgroßmüttervon Luca haufenweise Süßes ankarren,sieht sie entspannt. „Das ist ihre Art, Liebeauszudrücken. Außerdem treffen wir sienicht oft, weil sie einige Hundert Kilometerentfernt wohnen, und Luca isst nicht allesauf einmal.“Lucas Eltern haben ohnehin einen pragmatischenZugang: Süßes ist erlaubt, aberim Alltag in Maßen. Zu Hause nach demEssen darf der Siebenjährige eine Kleinigkeitnaschen, hauptsächlich gibt es Wasserzum Trinken, manchmal Saft.Dass es die andere Oma mit Süßigkeitenöfter übertreibt, sehen Barbara und Thomasdafür kritisch. Denn dort ist Luca viel häufigerzu Gast. „Das sorgt für viele Diskussionen“,erzählt Thomas. Die führen aber kaumzu mehr Einsicht bei der Oma. Und weil sieauf großmütterliche Unterstützung bei derKinderbetreuung angewiesen sind, nehmendie Eltern mitunter zähneknirschendin Kauf, was sie selbst nicht unbedingt gutheißen.Zum Glück ist Luca weder übergewichtig,noch hat er Karies. Wäre dem so,würden seine Eltern dem Naschen entschiedenden Kampf ansagen. Und dann müsstesich auch die Oma fügen.In Sachen Ernährung sind es die Eltern,die die Rahmenbedingungen zu Hauseschaffen, sagt Manuel Schätzer. Sein Ratan Eltern: nicht dogmatisch sein, Lebensmittelaber genauer unter die Lupe nehmenund Gewohnheiten hinterfragen. Jeden TagLimonade zu trinken oder süße Zwischenmahlzeitentreiben die Zuckermengen, dieMehr erfahrenSie bei derLektüre von„Zucker: Arm,krank, dickund explosiv“(16.6.16) vonMartin Taussauf furche.at.„ Zu Geburtstagsfeiern und Besuchenbei Großeltern und Freunden bringendie Eltern zuckerfreie Alternativen mit.Unterwegs haben sie Snacks dabei. “schon Kinder zu sich nehmen schnell in dieHöhe. Was oft nicht bedacht werde: Portionsgrößensollten angemessen sein. ZweiKugeln Eis mögen für einen Erwachseneneine ideale Portion sein. Im Verhältnis zuGröße und Körpergewicht eines Kindeswerden sie rasch zur Zuckerbombe. Damitder Zucker nicht zu rasch ins Blut kommtund die Blutzuckerkurve steigt, solltensüße Lebensmittel immer zusammenmit einer Mahlzeit verzehrt werden. DenSchokoriegel also unmittelbar nach demMittagessen statt als Zwischenmahlzeit essenund die Limo direkt zum Essen trinken.Der Reiz des VerbotenenAm leichtesten dürften es jene Eltern haben,deren Kinder von sich aus keine großeLust auf Süßes haben. Die gibt es selten, aberdoch. Marias mittlerweile drei erwachseneKinder etwa sind erstens ziemlich wählerisch,was Süßigkeiten angeht. Und begnügensich zweitens mit kleinen Mengen.Das war schon in deren Kindheit so. „UnserZugang war immer sehr entspannt“,sagt Maria. Süßes stand und steht zur freienVerfügung, trotzdem passiert es öfter,dass Schokolade im Küchenschrank abläuft.Ob das anders wäre, wenn die Elternrestriktiver gewesen wären, weil es allzumenschlich ist, dass man genau das möchte,was man nicht darf? „Vielleicht“, überlegtMaria, „vielleicht liegt es aber aucheinfach am Naturell der Kinder.“

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