DIE FURCHE · 24 Politik9. Jänner 2025Von Wolfgang MachreichDas europäische NachrichtenportalEuractiv, immerhin einsehr einflussreiches EU-Medium,ließ es im Kommentar überdie Dreikönigsrochade bei denRegierungsverhandlungen in Wien nichtan Dramatik fehlen: „Österreichische Barbarenvor den Toren Europas“, schrieb derChefredakteur und warnte davor, „den Versuchdes rechtsextremen Politikers Kickl,eine neue Regierung zu bilden, als bloße österreichischeExzentrizität abzutun“. Österreichsei seit Langem „der Kanarien vogel inEuropas Kohlemine“. Im Englischen stehtder canary in the coal mine für ein Frühwarnsystemüberall dort, wo es toxisch zuwerden droht. Der Euractiv-Leitartiklerzieht aus dem ÖVP-Schwenk zur Kickl-FPÖjedenfalls die EU-weite Lehre, „dass die etabliertenParteien irgendwann einknickenwerden, und sei es nur, um ihren Anteil vomKuchen zu schützen“.Dass die Sorge wegen eines möglichenBundeskanzlers Herbert Kickl in Europaumgeht, bestätigt auch der frühere WirtschaftskammerpräsidentChristoph Leitlim FURCHE-Gespräch. Mit der Frage, wasdenn jetzt in Österreich los sei, werde er„aus ganz Europa bestürmt“. Anders als AußenministerAlexander Schallenberg, derkeiner Regierung Kickl angehören wolle,und anders als der ehemalige EU-KommissarFranz Fischler, der im Fall einer blauschwarzenRegierung unter Kickl aus derÖVP austreten werde, plädiert Leitl dafür,„dass man einer neuen Europapolitik derFreiheitlichen eine Chance gibt“.In seiner Funktion als Präsident der „EuropäischenBewegung Österreich“, einerüberparteilichen Plattform aus Gesellschaft,Politik und Wirtschaft, fordert Leitl von FPÖund ÖVP eine „klare proeuropä ische Ausrichtung“.Der österreichischen Innenpolitikfehle es an Kreativität, die Herausforderungenzu lösen, sagt Leitl. Hier brauchees „Mut, sich aus dem oft sehr provinzielleneigenen Sud zu befreien“ und europäischeErfolgsmodelle wie die erfolgreiche Pensionsreformin Schweden und anderes auf Österreichzu übertragen: „Wenn eine neueRegierung die zentrale Bedeutung der europäischenDimension nicht sieht, dann hatsie von Anfang an eine gewaltige Zukunfts-KLARTEXTDas geht an die SubstanzWie gern hätte ich mich zum Jahreswechselin die tröstliche Weisheit ausdem „Fledermaus“-Libretto geflüchtet,dass „glücklich ist, wer vergisst, was nichtmehr zu ändern ist“. Diesmal aber fühlten sichdie Tage zwischen den Jahren deutlich wenigerunbeschwert an als gewohnt, war doch in denJahresrück- und Ausblicken aus aller Welt dieso fantastische wie bestürzende Spannbreitedessen abzulesen, wozu der Mensch fähig ist:zu Höchstleistungen an Engagement, Erfindergeistund Weltverbesserung; aber auch zu unfassbarenUntaten, deren Dimension wir zumSelbstschutz unserer Gattung als „unmenschlich“bezeichnen, obwohl auch sie in uns angelegtsind.Und dann, als hätte das nicht gereicht, kurz vorDreikönig das innenpolitische Schock erlebnisdes Abbruchs der Dreierkoalitionsverhandlungenund tags darauf die Kehrtwende der bisherigenKanzlerpartei in Richtung Verhandlungsbereitschaftmit der Kickl-FPÖ. Das kann mit demverunglückten Motto „Nicht so weiter wie bisher“Foto: APA/ROLAND SCHLAGERIn EU-Brüssel nennt man Österreich angesichts eines möglichenKanzlers Herbert Kickl den „Kanarienvogel in Europas Kohlemine“.Wovor dieser warnen soll, hat DIE FURCHE drei Insider gefragt.ÖVP-Seeleim freienFallwohl nicht gemeint gewesensein!Wie will die Volksparteials maßgeblicher Schrittmacherdes erfolgreichenEU-Beitritts nun sicherstellen, dass unser europäischerAuftritt nicht schleichend orbánisiertwird? Wer wird sich als Vertreter einer Partei,die mitgeholfen hat, die ökosoziale Marktwirtschaftzum europäischen Modell zu formen,dafür engagieren, dass umweltpolitische Anliegenweiterhin ernst genommen und vorangetriebenwerden? Und wer wird gewährleisten,dass die zweifellos notwendige Neuorientierungin der Migrationspolitik auf eine ethischverantwortete Weise erfolgt?Sollten die kommenden Verhandlungen zudiesen substanziellen Fragen keine klaren Antwortenbringen, würde die ÖVP damit ihre politischeSubstanz in einer existenzgefährdendenWeise schwächen.Der Autor ist Ökonom und Publizist.Von Wilfried Stadlerchance verspielt.“ Dabei nimmt Leitl dieVolkspartei nicht aus der Verantwortung,„wieder zu einer Europapartei zu werden, diesie in den letzten Jahren nur eingeschränktgewesen ist“. Nachgefragt, wie realistischer neben diesem EU-Revival der ÖVP eineeuropapolitische Saulus-Paulus-Wende derFPÖ einschätze, verweist Leitl auf derenParteigeschichte. Bis zum Kurswechsel vonJörg Haider im Vorfeld des EU-Beitritts vor30 Jahren sei die FPÖ eine „massive Pro-Europa-Partei“gewesen. Sollte die FPÖ in Regierungsverantwortungkommen, fordertLeitl eine Wende zurück zu diesen historischenWurzeln.Friedhelm Frischenschlager ist einer,der aus eigener Anschauung diese und anderemit Jörg Haider einhergehende FPÖ-„ Menschen, die einchristlich-sozialesMenschenbild vertreten,die suche ich in derÖVP, aber die findeich nicht.“Wolfgang RadleggerNach 180-Grad-Drehung wieder geradeausDer neue ÖVP-Obmann Christian Stocker, flankiert von Georg Strasser(Bauernbund), Frauenchefin Juliane Bogner-Strauß, Klubobmann AugustWöginger, Salzburgs Landeshauptmann Wilfried Haslauer, Seniorenbund-Präsidentin Ingrid Korosec, Staatssekretärin Claudia Plakolm undWirtschaftsbund-Präsident Harald Mahrer (v. li.).Wendungen kennt: Aus einem freiheitlichenNationalratsabgeordneten wurdeer Anfang der 1990er Jahren zu einem Mitbegründerdes Liberalen Forums, der Vorgängerparteider heutigen Neos. Gefragtnach seiner Interpretation des Aus für eineDreier koalition und dem Kurswechselhin zu einer möglichen Kickl-Regierung,fürchtet Frischenschlager, dass der Erleichterungbei manchen über ein Ende derlangen und schwierigen Dreiergesprächesehr rasch „ein großer Katzenjammer“ folgenkönnte. ÖVP, SPÖ und Neos seien demPrinzip „Kein ‚Weiter wie bisher‘“ gefolgt,sagt Frischenschlager. Von den Blauen erwarteter hingegen den „Rückwärtsgang“:„In allen zentralen Herausforderungen,egal ob die Europafrage, die Sicherheitsfrage,die Öko- und Klimafrage – überall stehtdie FPÖ mit dem Rücken zur Zukunft.“Gefahr der FPÖ-ÖVP-SchmelzeBei der ÖVP sieht Frischenschlager „diegroße Gefahr, dass sie das bisschen Reformbereitschaft,das sie bisher an den Taglegte, wieder vergisst und mit der in vielenDingen stockkonservativen FPÖ verschmilzt“.In der Europapolitik beobachtetFrischenschlager diese Verschmelzungseit der Kanzlerschaft von Sebastian Kurz,als die ÖVP aus innenpolitischen Gründenanfing, gegen die EU zu trommeln. Das drohejetzt umso mehr, fürchtet er und hofft,„dass die ÖVP nicht einknickt, wenn dieFPÖ den Weg in Richtung illiberale Demokratieà la Viktor Orbán einzuschlagenversucht“.So wie Fidesz, die Partei des ungarischenMinisterpräsidenten, gehört auch die FPÖunter der Führung von DelegationsleiterHarald Vilimsky zur Fraktion „Patriotenfür Europa“ im Europaparlament. „Klar,mir gefallen einige Äußerungen des HerrnVilimsky nicht, aber bis jetzt hat er sichals Vertreter der Opposition betrachtet“,antwortet Leitl auf die Frage, wie ein proeuropäischerKurswechsel der FPÖ innerhalbdieser Patriotenfraktion möglich seinsoll. „Wenn sein Chef Kickl jetzt möglicherweisedie verantwortungsvolle Funktionals Vertreter Österreichs im EuropäischenRat wahrnehmen soll“, so Leitls Erwartung,„dann wird sich auch der Herr Vilimsky andersverhalten müssen.“ Letztlich setzt erdabei auch auf Bundespräsident AlexanderVan der Bellen, der in seinen Kriterienfür eine künftige Regierung auch eine klarproeuropäische Linie einfordert.
DIE FURCHE · 29. Jänner 2025Politik5„ In allen zentralen Herausforderungen,egal ob die Europafrage, die Sicherheitsfrage,die Öko- und Klimafrage: Überall steht dieFPÖ mit dem Rücken zur Zukunft. “Friedhelm FrischenschlagerEine Präambel zum Regierungsprogramm,die einen konstruktiven Zugangzur EU, die Wahrung von Demokratie, Menschenrechtenund Pressefreiheit genausowie Österreichs Verpflichtungen aufgrundinternationaler Verträge – wie etwader Flüchtlingskonvention – festschreibt,hielte auch Wolfgang Radlegger für sinnvoll.Der frühere SPÖ-Landeshauptmannstellvertretervon Salzburg erinnert andas Beispiel von Bundespräsident ThomasKlestil, der ein solchesVorwort im Jahr„ Wenn eine neueRegierung die zentraleBedeutung der europäischenDimensionnicht sieht, dann hatsie von Anfang an einegewaltige Zukunftschanceverspielt. “Christoph Leitl2000 zur Bedingungfür seine Angelobungvon Schwarz-Blaumachte. „Sie hilft zwarnicht, die Politik imDetail zu beeinflussen“,sagt Radlegger,„aber man hätte zumindesteine Richtlinie,auf die man sich berufenkann, wenn dieRegierung von diesenPrinzipien abweicht.“Vom Scheitern derDreiergespräche ist Radlegger enttäuscht.Als Grund dafür sieht er nicht nur inhaltlicheDifferenzen, sondern vor allem diefehlende Bereitschaft, sich in die Positionender anderen hineinzuversetzen. Radleggererinnert sich an viele Gespräche mitseinem Regierungspartner, LandeshauptmannWilfried Haslauer senior, wo sie gegenseitigeGrenzen ausgelotet hätten: „Daswar keine Spiegelfechterei, sondern wenner sagte: ‚Da überforderst du mich‘, dannwusste ich: Es geht einfach nicht – und umgekehrtgalt das auch.“Der Salzburger Landeshauptmann WilfriedHaslauer junior stand bei der Ankündigungdes ÖVP-Schwenks zur FPÖ an derSeite des neuen Parteiobmanns ChristianStocker. Als Leitlinie für die Koalitionsgesprächemit der FPÖ nannte Haslauer: „Umjeden Preis gehen wirnicht in eine Regierung.Wir werden unsere Seelenicht verkaufen, undan unseren Sichtweisenändert sich nichts.“Radlegger würde sichwünschen, dass dieÖVP dieses Versprecheneinhält und „anFoto: APA / Georg HochmuthChristoph Leitl plädiert dafür, einerneuen Europapolitik der Freiheitlicheneine Chance zu geben.Foto: Wikipedia / Franz Johann Morgenbesser (cc by-sa 2.0)den entscheidendenEckpunkten der ZweitenRepublik festhält“.Generell sagt er vonder Volkspartei, sie seinicht mehr die ÖVP, dieer einmal kannte: „Menschen, die ein christlich-sozialesMenschenbild vertreten, die sucheich heute in der ÖVP, aber die finde ichnicht.“ Für Radlegger ist das mit ein Grund,dass viel an Gesprächsfähigkeit mit der SPÖverloren gegangen sei. Aufgrund der „bürgerlichenRohheit, die die ÖVP mittlerweilein der Asyl- und Migrationspolitik verkörpert“,fürchtet er, dass Blau und Schwarzhier schnell zu einer Einigung kommen.Im sozialpolitischen Bereich ist er da skeptischer.Da müsse die FPÖ auf ihre Klientelschauen, die eine Erhöhung des Pensionsalterswohl nicht goutieren würde, meint erund erwartet bei den Koalitionsverhandlungennoch „einige Knackpunkte“.Wo es besonders laut knacken sollte, ist inder Sicherheits- und Verteidigungspolitik.„Da ist von der FPÖ in Anbetracht der Bedrohungssituation,die aus dem Russland-Ukra ine-Krieg hervorgeht, nur Negativeszu erwarten“, fasst Frischenschlager seineBefürchtungen zusammen. Er plädiertdafür, die von ÖVP und Grünen zum Endeder Legislaturperiode „durchgehudelte“Sicher heitsstrategie noch einmal aufzumachenund im Parlament – mit Expertise vonaußen und von einer öffentlichen Diskussionbegleitet – neu zu debattieren sowie sobreit wie möglich zu beschließen. StaatsundEuropainteresse vor Augen, sieht er dieÖVP in der Verantwortung, „möglichst vielvon den vernünftigen Dingen durchzusetzen“– und hofft darauf, „dass die ÖVP einigermaßenKurs halten will und kann“.Gelänge ein solcher breiterer Meinungsbildungsprozess,könnte das auch eine Chancefür den Parlamentarismus sein, meintFrischenschlager: „Dabei könnten alle gewinnen.Und am meisten die Demokratie.“Friedhelm Frischenschlager erwartetvon der FPÖ in der Sicherheitspolitiknur Negatives.Foto: APA/Barbara Gindl„Ein Land probtden Fasching“,beschriebOtto Friedrichangesichts vonSchwarz-Blauam 10.2.2000die Situation imLand; furche.at.Wolfgang Radlegger hielte eineWertepräambel wie bei Schwarz-Blauim Jahr 2000 für sinnvoll.Die neuenKollektionenz.B.: „Wien im Lauf der Zeit“150 Jahre Staatsoper • Die Ringstraße • 150 JahreWeltausstellung • Klimt & Co – Die Wiener ModerneMAGAZINFür alle Geschichte-Fans und EntdeckerVier Magazine zum Vorteilspreis: Begeben Sie sich auf eine faszinierende Zeitreise undlernen Sie historisch bedeutsame Momente und Personen kennen.24, 99 €STATT 35, 60 €für 4 MagazineJetzt kaufen:diepresse.com/geschichte
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE