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DIE FURCHE 09.12.2025

DIE FURCHE · 22

DIE FURCHE · 22 Politik9. Jänner 2025AUS DERREDAKTIONDer Begriff „Zeitenwende“ klingt schon verbraucht. Und doch passt erfür die aktuelle politische Situation in Österreich wie kaum ein anderer.Wie kam es dazu, dass Herbert Kickl nun an der Schwelle zum Kanzleramtsteht? Waren die Neos schuld, wie viele sagen? Im Interview mit IrmgardGriss, ehemals pinke Abgeordnete sowie Präsidentschaftskandidatin,kam unter anderem das zur Sprache. Welche Folgen ein FPÖ-Kanzlerfür die Religionen im Land hätte, hat Till Schönwälder recherchiert. UndWolfgang Machreich holte Stimmen zur Frage ein, wie es um die Seeleder ÖVP sowie Österreichs Zukunft in Europa steht. Auch das Feuilletonnimmt – wenn auch grundsätzlicher – auf politische Umbrüche undDemokratiegefahren Bezug: von Brigitte Schwens-Harrants Essay über„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ über das Federspiel von LydiaMischkulnig bis zur Kritik von Marina Münklers Kolonialismusbericht„Anbruch der neuen Zeit“. Ebenso lesenswert sind die Porträts von AlbertSchweitzer und Philipp Harnoncourt, „Gutmenschen“ im besten Sinn,sowie die spannende Recherche über den „Golden Bachelor“ von AstridWenz und Magdalena Schwarz. Letztere zeichnet gemeinsam mit MartinTauss auch für den aktuellen Fokus „Süß, tödlich, korrupt“ über denZucker verantwortlich. Wegen der aktuellen Entwicklungen ist er ans Endedes Journals gerutscht, aber nicht minder relevant – und politisch. (dh)Das Gespräch führteDoris Helmberger-FlecklMit 18,9 Prozent derStimmen erreichteIrmgard Grissim Jahr 2016 beider Bundespräsidentenwahldas drittbeste Ergebnis– hinter Norbert Hofer undAlexander Van der Bellen. DreiProzent mehr – und die ehemaligePräsidentin des Obersten Gerichtshofshätte es in die Stichwahlgeschafft und säße womöglichheute in der Hofburg. Stattdessenwechselte Griss von 2017 bis2019 als Abgeordnete der Neosins Parlament. Wie sieht sie dieaktuellen Umwälzungen – sowiedas Agieren des Bundespräsidentenund ihrer eigenen Partei? DIEFURCHE hat mit ihr gesprochen.DIE FURCHE: Frau Griss, was sagenSie zu den jüngsten politischenEntwicklungen?Irmgard Griss: Es war zu befürchten,dass es so weit kommt. Dasses schwierig werden würde, dieFPÖ von der Kanzlerschaft auszuschließen,wie das viele gehoffthatten, war offenkundig. Ich warzwar zuversichtlich, dass die Dreierkoalitiondoch noch gelingenkönnte. Aber als sich die Neos zurückgezogenhaben, war klar, dassdas nichts mehr wird und keinWeg mehr an der FPÖ vorbeiführt.DIE FURCHE: Weshalb nicht wenigenun den Neos vorwerfen, durchihren Rückzug einem KanzlerKickl den Weg geebnet zu haben.Griss: Das ist absolut lächerlich!Einem Kanzler Kickl den Weg geebnethaben alle Parteien, vor allemdie ÖVP, die SPÖ und die Grünen– durch ihre Politik und wiesich alles in den letzten Jahrenentwickelt hat. Man kann ja nichtwegdiskutieren, dass die FPÖ beider letzten Wahl immerhin fast30 Prozent der Stimmen bekommenhat. Jetzt einer einzigen Parteivorzuwerfen, dass sie nicht ineine Koalition geht, weil wiedereinmal keine Reformen angegangenwerden, ist nicht in Ordnung.Irmgard Griss, ehemalige Bundespräsidentschaftskandidatinund Neos-Abgeordnete, über die Rolle ihrer Partei und jeneAlexander Van der Bellens bei den aktuellen Entwicklungen.„Alle Parteienhaben Kicklden Weggeebnet“Unter „Das gehtauf Kosten derZukunft“ (23.2.2022) lesen Sieein Interview mitGriss über dieKindeswohlkommission.DIE FURCHE: Es wäre aber die letzteMöglichkeit gewesen, einen KanzlerKickl zu verhindern.Griss: Ja, wenn es gelungen wäre,wirkliche Reformen umzusetzen.Es liegt doch auf der Hand,dass etwas geschehen muss: beimBudget, bei den Pensionen, beider Bildung und auch im Gesundheitssystem.Da waren die Neos-Vorschläge absolut vernünftig, etwadass im Gesundheitssystemdie Länder die gesamte Finanzierungübernehmen sollen statt diesesständigen Hin und Her. Es gibtRechnungshofberichte, die zeigen,dass selbst der Rechnungshofnicht herausfinden konnte,wie hier die Gelder wirklich fließenund wer wofür verantwortlichist. Das ist ein absoluter Missstand,wir setzen da so viel Geldin den Sand! Auch bei den Pensionenmuss etwas geschehen, wenndie Leute – was ja an sich positivist – immer älter werden und immerweniger Menschen ins Systemeinzahlen.DIE FURCHE: Die Frage bleibt dennoch,ob eine Neun-Prozent-Parteiwie die Neos in Koalitionsverhandlungenauf Grundsatzreformen beharrenkann oder nicht mehr Kompromissbereitschafthätte zeigenmüssen – wie 2019 die Grünen.Griss: Aber das, was die Neos verlangen,sind ja keine Sonderwünsche,sondern grundlegende Dinge,die für den Staat notwendigsind! Außerdem kann es ja nichtdie Frage sein, ob eine Neun-Prozent-Parteidas darf oder nicht –sondern jede Partei, die Selbstachtunghat und Verantwortung„ Einer einzigen Partei vorzuwerfen, dass sie nichtin eine Koalition geht, weil wieder keine Reformenangegangen werden, ist nicht in Ordnung.“Foto: APA / Helmut Fohringerfür den Staat übernimmt, mussdoch sagen: Hier müssen wir etwastun!DIE FURCHE: Die SPÖ hat ihrerseitsdarauf gepocht, dass „breiteSchultern“ mehr zur Budgetkonsolidierungbeitragen müssten.Stichwort Vermögenssteuern. AmEnde ist man sogar davon abgerücktund hat eine höhere Bankenabgabegefordert, was die ÖVPihrerseits nicht akzeptierte. Hätteman der SPÖ nicht mehr entgegenkommenmüssen?Griss: Ich halte es für eine Ausflucht,in einer solchen Budgetsituationzuerst einmal Steuernzu erhöhen oder einzuführen,nur weil man bei der Organisationdes Staates, vor allem auchbeim Föderalismus, nichts verändernwill. Zudem muss mansich vor Augen halten, wie viel eineVermögenssteuer wirklich gebrachthätte. Sie wurde ja nichtaus Jux und Tollerei auf Initiativevon Ferdinand Lacina abgeschafft.Es gab auch Vorschlägeeiner Erbschaftssteuer in einemgewissen Rahmen. Am Ende istes dann auch um eine Mehrwertsteuererhöhunggegangen, dieschnell viel Geld gebracht hätte ...DIE FURCHE: ... aber auch die gesamteBevölkerung belastet hätte.Griss: Um das zu verhindern, wärevorgesehen gewesen, dass manfür bestimmte Güter wie Lebensmitteldie Steuer sogar senkt.DIE FURCHE: Faktum ist, dass dieVerhandlungen letztlich scheitertenund die ÖVP nach dem Abgangvon Karl Nehammer unter ChristianStocker eine 180-Grad-Kehrtwendehinsichtlich der Haltungzu Herbert Kickl unternommenhat. Wie sehen Sie diese Entwicklungeninnerhalb der ÖVP?Griss: Das ist schon erstaunlich.Und deprimierend. Denn esbraucht eine konservative Partei,die glaubwürdig und anständigist, die den Menschen reinenWein einschenkt und als Gegengewichtzu den „linken“ Parteieneine gewisse Bremse ist, damitdie Leute nicht überfordert werden.Wenn es die nicht gibt, ist esschlecht für das Land. Genausowie eine SPÖ, die mit der Realitätnichts mehr zu tun haben will, inZeiten von Arbeitskräftemangeleine 32-Stunden-Woche einführenmöchte und ständig Leistungschlechtmacht, statt sie positiv zubesetzen.Aber für die ÖVP gab es am Endekeinen anderen Weg mehr, weilja auch klar war, dass die FPÖ beiNeuwahlen nochmals dazugewinnt.Es ist auch demokratiepolitischschwierig zu argumentieren,dass eine 30-Prozent-Parteinicht in die Regierung kommendarf. Natürlich haben 70 Prozentdie FPÖ nicht gewählt, aber es istdoch das Wesen der Demokratie,dass es um die Mehrheit der Stimmengeht, die jemand bekommt –und nicht um die Stimmen, diejemand nicht bekommen hat. Außerdemkönnen wir uns kein weitereshalbes oder DreivierteljahrStillstand leisten.DIE FURCHE: Nicht wenige haltenes für einen Fehler, dass AlexanderVan der Bellen nicht gleichnach der Wahl Herbert Kickl mitder Regierungsbildung beauftragthat. Sie auch?Griss: Nein. Ich denke, das warschon ein Versuch, den man rechtfertigenkann. Denn damals habendoch alle Parteien gesagt, dasssie nicht mit der FPÖ unter Kicklin eine Regierung gehen würden.Da konnte der Bundespräsident

DIE FURCHE · 29. Jänner 2025Politik3schon sagen: Das hat keinen Sinn,da vergeht nur Zeit, jetzt solleneinmal die anderen schauen, wassie zustande bringen. Und es wäreja möglich gewesen, dass eineDreierkoalition gelingt.DIE FURCHE: Nun wurde mit HerbertKickl jemand mit der Regierungsbildungbeauftragt, der vielenals „Sicherheitsrisiko“ gilt.Der Bundespräsident hat deshalbbetont, darauf zu achten, dassRechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung,Menschen- und Minderheitenrechte,Medienfreiheit sowiedie Mitgliedschaft der EU alsGrundpfeiler der liberalen Demokratiegewahrt bleiben. Doch wiekann er das garantieren? Mit einerPräambel, wie sie Thomas Klestilim Jahr 2000 gefordert hat?Griss: Er hat nicht sehr viele Möglichkeiten,so ehrlich muss mansein. Wenn es jetzt so eine Präambelbeziehungsweise eine entsprechendeZusicherung durchHerbert Kickl gäbe, all dieseSelbstverständlichkeiten zu respektieren,könnte er sie aber dennochjederzeit unterlaufen. Waswäre dann die Sanktion? Eine solcheVereinbarung wäre also eineher schwaches Instrument.DIE FURCHE: Was der Bundespräsidentjedenfalls tun kann, ist inGesprächen Einfluss nehmen aufdie Ressortverteilung bzw. Ministerablehnen, wie dies etwa ThomasKlestil im Fall von ThomasPrinzhorn und Hilmar Kabas bereitsgetan hat. Was wäre aus IhrerSicht dabei wesentlich?Griss: Wichtig ist, dass das Justizministeriumvon einer unabhängigenund unanfechtbarenPersönlichkeit geführt wird. Dassoll weder jemand von der FPÖnoch jemand von der ÖVP sein.Der Justizminister verfügt nachwie vor über wesentliche Kompetenzenund kann unmittelbar aufErmittlungsverfahren in StrafsachenEinfluss nehmen, nachdemdie Einrichtung einer Generalstaatsanwaltschaftja leider gescheitertist. Eine Trennung vonPolitik und Justiz ist aber ganzentscheidend für das Vertrauenin die Justiz und für die Sicherungder Rechtsstaatlichkeit. Daraufmüsste der Bundespräsidentin jedem Fall achten.DIE FURCHE: Wie heikel ist das Innenministerium,zu dem auch dieDirektion Staatsschutz und Nachrichtendienst(DSN) ressortiert?Griss: Innen- und Verteidigungsministeriumsind natürlich kritisch,weil das jede Partei nach ihrenVorlieben „einfärben“ kann.Aber es ist doch etwas anderesals die Justiz. Denn diese ist derGarant dafür, dass der Rechtsstaatgewahrt bleibt. Da brauchtes eine unabhängige Institution,die darüber wacht. Bezüglichder Geheimdienste gibt es außerdemnoch eine ganz unmittelbareSanktion, wenn etwa die ausländischenDienste mit dem österreichischenDienst nicht mehr zusammenarbeiten,weil sie ihmnicht mehr vertrauen.DIE FURCHE: Was die Sicherheit imLand nicht erhöhen würde ...Griss: Natürlich nicht. Aber eswäre eine gewisse Bremse für gewisseMaßnahmen, sodass mansagt: So weit können wir nicht gehen.Außerdem darf man nichtübersehen, dass die FPÖ nichtnur aus Leuten besteht, denenähnlich misstraut wird wie HerbertKickl. Ich bin mir sicher, dasses – wie man bei Donald Trumpimmer sagt – „Erwachsene imRaum“ gibt, die sagen: So weitkönnen wir nicht gehen.DIE FURCHE: Wobei gerade diese„Erwachsenen im Raum“ beiTrumps neuer Administrationnicht mehr anwesend sind, wennman etwa auf seine Ministerlisteblickt. Entsprechend groß ist dieAngst vor einer Zerstörung der liberalenDemokratie in den USA.Diese Sorge haben Sie hinsichtlichÖsterreich unter Kickl nicht?Griss: Man kann den Staat aushöhlen,hier besteht natürlich einegewisse Gefahr. Es ist aberauch die Aufgabe der Zivilgesellschaft,so etwas zu verhindern.Denn warum ist denn HerbertKickl, warum ist die FPÖ überhauptin dieser mächtigen Position?Weil so viele Menschen inÖsterreich sich in ihren Ängstennicht angesprochen fühlen vonden anderen Parteien und deshalbdie FPÖ gewählt haben. Diegroßen Umwälzungen durch dasInternet und die Tech-Giganten,die Klimakatastrophe, die Änderungenin der Wirtschaft und amArbeitsmarkt: Durch all das sindviele Menschen verunsichert.Und dann gibt es eine Partei, diediese Menschen anspricht. Auchwenn die Therapie, die sie empfiehlt,absolut daneben ist.„ Wichtig ist, dass dasJustizministerium voneiner unabhängigenPersönlichkeit geführtwird – nachdem dieEinrichtung einerGeneralstaatsanwaltschaftja gescheitert ist. “DIE FURCHE: Inwiefern?Griss: Die Therapie der FPÖ lautet:Wir gehen zurück in eineschöne Vergangenheit, raus ausder EU oder was auch immer.Das kann natürlich keinen Erfolgbringen. Aber es ist das Versäumnisder anderen Parteien,dass es nicht gelungen ist undnicht gelingt, die Menschen in ihrenÄngsten anzusprechen, sieabzuholen und ihnen die Zuversichtzu geben: Wir schaffen das!Dieser Spruch von Angela Merkelist zwar seit der Flüchtlingskrisenegativ konnotiert, aber es gehtnicht anders. Außerdem gibt es jaauch positive Entwicklungen, dieman herausstreichen oder verstärkenkann. Ständig hört manetwa, wie schlimm es in punctoIntegration an den Schulen zugeht:so viele Kinder, die nichtDeutsch als Muttersprache haben,so viele überforderte Lehrerinnenund Lehrer. Positive Beispielestehen selten in den Medien. Undaußerdem kann auch jeder Einzelneneben den nötigen strukturellenLösungen etwas tun.DIE FURCHE: Zum Beispiel?Griss: Jeder kann sich etwa alsLesepate zur Verfügung stellen.Oder man kann in seiner Nachbarschaftmit geflüchteten Menschenins Gespräch kommen.Es ist eine Aufgabe der gesamtenZivilgesellschaft, vorhandenenÄngsten entgegenzuwirkenund das Gespräch zu suchen. Wirsind den Entwicklungen ja nichtausgeliefert, sondern können undmüssen alle versuchen, das Besteaus der Situation zu machen. Dasist das Wesen von Demokratie.Eine Regierung unter FPÖ-Führung könnte zur Realitätsprobe für deninterreligiösen Dialog – abseits von Sonntagsreden – werden. Eine Analyse.Kickls Kampf gegendie ReligionenVon Till SchönwälderMit der wahrscheinlichen Kanzlerschaft HerbertKickls stehen den Religionsgemeinschaftenin Österreich schwierige Zeiten bevor– ob Islam, Judentum oder die Kirchen, mit allenlieferte sich der FPÖ-Chef in den letzten Jahren Scharmützel.In ihrer Ablehnung des Islams finden die Freiheitlichenmit der ÖVP zudem einen Koalitionspartnervor, der sich in den letzten Jahren radikalisiert hat.Ein letzter Höhepunkt stellte in dieser Hinsicht dieAussage der niederösterreichischen LandeshauptfrauJohanna Mikl-Leitner dar, die in einem TV-Interviewam Sonntag unverhohlen „konkrete Maßnahmen imKampf gegen den Islam“ forderte. In Österreich lebenlaut Angaben der Islamischen Glaubensgemeinschaft(IGGÖ) 700.000 Musliminnen und Muslime. Dass eineÖVP-Politikerin diesen pauschal den Kampf erklärt,ist eine neue Dimension, auch wenn Mikl-Leitnerin einer nachgeschobenen Erklärung präzisierte,es sei selbstverständlichausschließlich der „politischeIslam“ gemeint.IGGÖ-Präsident Ümit Vuralverurteilte den Sager umgehend.„Solche Worte stehenin fundamentalem Widerspruchzu den Grundwertenunserer demokratischen undpluralistischen Gesellschaft“,hielt Vural fest. Von katholischerSeite sprang die KatholischeAktion (KA) der Islamischen Glaubensgemeinschaftam Dreikönigstag bei. Auch wenn es sichvielleicht nur um eine verunglückte Formulierunghandle, sehe man den Kern der Aussage darin, dassein Schwerpunkt der nächsten Regierung mit ÖVP-Beteiligung auf die Zurückdrängung einer Religionziele, betonte der KA-Präsident Ferdinand Kainederin einer Aussendung.Dass der Islam der FPÖ seit Jahren ein Dorn im Augeist, ist kein Geheimnis. Insbesondere Heinz-ChristianStrache entdeckte muslimische Menschen alswillkommene Feindbilder und ließ unter anderemSprüche wie „Daham statt Islam“ oder „Pummerinstatt Muezzin“ plakatieren. „Gedichtet“ hatte dieseausgerechnet der jetzige FPÖ-Chef Herbert Kickl, derinnerhalb der FPÖ viele Jahre als „Mann der zweitenReihe“ die Wahlkämpfe Straches koordinierte.Für besonderes Unbehagen dürfte die Aussicht aufden ersten FPÖ-Kanzler bei den Jüdinnen und Judensorgen. Die Partei, die sich nach dem Zweiten Weltkriegals Sammelbecken für Ex-Nazis erwies, versuchtezwar, den Antisemitismusvorwurf abzustreifen,insbesondere die burschenschaftliche Basis inder Partei zeigte den Bemühungen allerdings deutlicheGrenzen auf. Dass mit dem niederösterreichischenFPÖ-Chef Udo Landbauer ausgerechnet jenePerson, die für ein Buch mit NS-Liedgut warb, heutezu den engsten Vertrauten von Parteichef Kickl zählt,ist bezeichnend.Ungarn als warnendes BeispielDass Kickl im Wahlkampf christliche Botschaftenplakatieren ließ, kann nicht darüber hinwegtäuschen,dass er auch die Kirchen in erster Linie als Teil desvon ihm verhassten „Establishments“ sieht. Insbesonderemit dem scheidenden Wiener Erzbischof KardinalChristoph Schönborn geriet Kickl mehrmals aneinander,sei es in Fragen der Migration oder zuletztauch im Rahmen der Corona-Pandemie, als er denKirchen etwa nahelegte, aufgrund der Krise auf Einnahmenaus dem Kirchenbeitrag zu verzichten. DassChristinnen und Christen künftig in politische Bedrängnisgeraten könnten, ist unwahrscheinlich.Sehr wohl wird die FPÖ hingegen versuchen, einzelneunliebsame und allzukritische Stimmen aus den„ Antisemitismus wie auchIslamfeindlichkeit nehmenin Österreich weiter zu.Eine Deeskalationsstrategievonseiten der Politik ist inZukunft nicht zu erwarten. “Reihen der Kirchen zumVerstummen zu bringen.Wie schwer katholischen,aber auch evangelischenWürdenträgern eine Positionierungzur FPÖ fällt, hatnicht zuletzt die Nationalratswahlgezeigt. Der Blicknach Ungarn sollte insbesonderefür die katholischeKirche hingegen eine Warnung sein. Während ViktorOrbán das Christentum im Sinne seiner Abendlandsverteidigungs-Propagandamissbraucht, äußertsich die Kirche in Österreichs Nachbarland quasi niekritisch gegenüber der Orbán-Partei Fidesz. Werauch immer Kardinal Schönborn in Wien nachfolgenwird, erwartet im Umgang mit Kickl jedenfalls direkteine Nagelprobe.Antisemitismus wie auch Islamfeindlichkeit nehmenin Österreich weiter zu, und vonseiten der Politikist in dieser Hinsicht in Zukunft keine Deeskalationsstrategiezu erwarten. Umso mehr werden die Religionsgemeinschaftenuntereinander Geschlossenheitund Solidarität demonstrieren müssen. „Wir allesind gemeinsam Teil eines funktionierenden Gemeinwesens,das darauf aufbaut, die eigene Religionuneingeschränkt leben zu dürfen. Wenn eine Religionsgemeinschaftvon gewissen Seiten pauschalunter Druck gesetzt wird, betrifft das in Folge genausoauch alle anderen“, warnte die KatholischeAktion. In dieser Hinsicht wird sich der interreligiöseDialog in Österreich in den kommenden Jahren einemRealitäts check – abseits von Sonntagsreden – unterziehenmüssen.Foto: APA / Eva ManhartDie JüdischeHochschülerschaftprotestierteim Novembergegen die TeilnahmevonNationalratspräsidentWalterRosenkranzan der Schoah-Namensmauer.

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