DIE FURCHE · 218 Theater9. Jänner 2025Vor 90 Jahren geboren, leitete Achim Benningzehn Jahre das Burgtheater. Ein Essaybanderschien nach seinem Tod vor einem Jahr.FORTSETZUNG VON SEITE 17für Männer vorgesehen. Frauen,die mit dem eigenen Auto umherfahren,sind darin ebenso wenigeingeplant wie Frauen, die sichberuflich selbstständig machenund es dadurch zu Wohnungseigentumbringen. Verdächtigsind auch Frauen, die sich scheidenlassen, weil ihre Männer zudringlichsind. Ein Glanzstück istjenes Kapitel, in dem die vernommeneKatharina Blum darauf besteht,dass Zudringlichkeit nichtdasselbe ist wie Zärtlichkeit,und sich weigert, ein Protokollzu unterschreiben, in dem dasWort „verwechselt“ wird. Langevor #MeToo sticht Böll hier in eineGesellschaft, die augenscheinlichauf prinzipieller Ungleichheitaufgebaut ist und vom Rechtdes Mannes auf Zugriff auf eineFrau ausgeht. Der Umstand, dassder Journalist Frau Blum schließlichsogar an die Wäsche gehenwill, wie man – umgangssprachlicheuphemistisch den Gewaltaktgegen Frauen verschleiernd –so sagt, hätte in der Rezeptiondurchaus größere Aufmerksamkeitverdient.„ Der Kölner Autor verlegtdie Handlung just in dieTage des Straßen karnevals –eine Zeit des Ausnahmezustandsund der Grenzüberschreitungen.“Der Kölner Autor verlegt dieHandlung der Erzählung übrigensjust in die Tage des Straßenkarnevals– wichtigste „Feiertage“in dieser Region und eine Zeitdes Ausnahmezustands und derGrenzüberschreitungen. Leserund Leserinnen fand er für sein„Pamphlet“ viele. 1974 erschienen,waren Ende des Jahres bereits200.000 Exemplare verkauft,ab 1976 gab es die Erzählung alsTaschenbuch, das bald eine Auflagevon einer Million erreichte. DerSpringer-Konzern reagierte nichtmit Klage, sondern mit Zensur:Solange Bölls Erzählung auf denBestellerlisten zu finden war, veröffentlichteman diese nicht.TIPP:Stichwort:EmpörungSchriftstellerin Lydia Mischkulnig,FURCHE-Feuilletonchefin BrigitteSchwens-Harrant und PolitikjournalistinChrista Zöchling diskutierenin ihrer Reihe „Stichwort“Heinrich Bölls 1974 erschieneneErzählung „Die verlorene Ehreder Katharina Blum oder: WieGewalt entstehen und wohin sieführen kann“ und Philip Roths2000 erschienenen Roman „Dermensch liche Makel“.14.1., 19 UhrAlte Schmiede, Wienalte-schmiede.at„Der stilleRevolutionär“Von Julia DanielczykAm 30. Jänner 2024 verstarb der Autor,Schauspieler, Regisseur undTheaterdirektor Achim Benning.Wenige Wochen nach seinem Toderschien die ergänzte und erweiterteAusgabe seiner Essaysammlung mit demTitel „In den Spiegel greifen“, die in der ÖsterreichischenGesellschaft für Literatur präsentiertwurde, an einem fürBenning wichtigen Ort„ Achim Benning warimmer völlig ohne Pose,rückhaltlos einem Ethosdes Denkens verpflichtet,hellwach gegenOpportunismus und Anpassungsbereitschaft.“bedeutender Begegnungen.Knapp 70 Theatertextebeinhaltet der umfangreiche,bei Hollitzererschienene Band, denPeter Roessler he rausgegebenhat.Die Metapher im Titelspielt auf die Umkehrvon Robert Musils Gedankenan, der literarischenFiguren eine Seele abspricht. Doch lebenSchauspieler mit ihnen wie mit lebendenMenschen, und „was ist Inszenieren anderesals in den Spiegel greifen?“ repliziert Benning.Zugleich lässt sich der Titel sowohl auf Platons„Spiegel“ als auch auf Goethes „Nebenmenschen“beziehen: Sie seien in dem Sinne verwandt,dass man sich selbst im Auge des (wohlgesonnenen)Gegenübers wie im Spiegel eineranderen Seele erkennen könne, so Benning.Über ideelle und persönliche „Nebenmenschen“,Anton Čechov, Elias Canetti oder ManèsSperber, schreibt er im letzten (und bislang unveröffentlichten)Beitrag des Bandes „Tumultder Erinnerungen“ (2023). Auch wenn Erinnerungeneine große Rolle spielen, handelt es sichum keine Autobiografie, denn „geradezu als Inbegriffdes Negativ-Bildes von Erinnerungsposeund -fälschung geltenihm die grassierendenFoto: APA / Hausner FranzMemoiren von Schauspielerinnenund Schauspielern“,so der HerausgeberRoessler.Dieser stellt im abschließendenEssay „Erkundungen“einen Zusammenhangmit derTheaterarbeit und denentsprechenden Verhältnissenher, zugleichverweist Roessler auf die vielfältigen Interessendes Autors an der Gesellschaft, an der Kulturund am Leben der Menschen. Achim Benningwar immer völlig ohne Pose, rückhaltloseinem Ethos des Denkens verpflichtet, hellwachgegen Opportunismus und Anpassungsbereitschaft,stets aufmerksam gegen jeglicheVereinnahmung durch die Politik.Zehn Jahre (1976–1986) leitete Benning dasBurgtheater, er führte bedeutende Reformendurch, setzte wesentliche Initiativen und bezogimmer eine klare Haltung. Als etwa eingroßes Staatsgastspiel in der Sowjetunion geplantwar und das Visum für den 1979 aus derČSSR ausgebürgerten Burgschauspieler PavelLandovský auf Drängen der Tschechen zurückgezogenwurde, hielt Benning zu diesemund sagte die gesamte Reise aus Gründen derSolidarität ab.Ohne einen kokettierenden Blick auf die Medienoder die eigene Karriere machte er dieBurg zu einem der bestgeführten Theater desdeutschsprachigen Raums. Tatsächlich „erfordertees ein bisschen Mut, nicht ‚medienkonform‘zu sein“, schreibt Benning in seinemNachruf auf Landovský.„Der stille Revolutionär“ – wie ihn die KritikerinSigrid Löffler nannte – fand damals optimalekulturpolitische Rahmenbedingungenfür seine Arbeit: Während der Amtszeit desbis heute in seiner Kompetenz unterschätztenUnterrichtsministers Fred Sinowatz wurdenetwa Stücke von „Dissidenten“, wie demDichter und späteren tschechischen PräsidentenVáclav Havel, uraufgeführt. BenningsEntscheidungen waren Statements gegendie „Weltreligion“ des Opportunismus. Ohneoberflächliche Programmatiken modernisierteBenning das Burgtheater, stärkte die Dramaturgie,brachte Werke von Elias Canetti(der zuerst diskreditiert und nach Erhalt desLiteraturnobelpreises plötzlich als Österreichereinverleibt wurde) bis Maxim Gorkij. Erbrachte aber auch Literatur von Emigrantenauf die Bühne, wie Manès Sperber oder HermannBroch, wofür er von der FPÖ und derKronen Zeitung heftig beflegelt wurde.Gegenwind zum TrotzDie Öffnung des Burgtheaters für Gastregisseure– etwa Adolf Dresen, ChristophSchroth und Angelika Hurwicz – war ebenfallsAnlass für Hetzkampagnen gegen ihn.Mit Vorwürfen einer „linksideologischenTheaterpraxis“ und der „DDR-Schule“ wurdeBenning häufig diffamiert. Doch nicht Seilschaftenund politische Interessen, sondernder künstlerisch-ästhetische Zugang galt alsKriterium seiner Auswahl. Dies war aucheines der obersten Prinzipien während seinerZeit (1987–1992) als Direktor des SchauspielhausesZürich, wo er unter anderemdie Werke von Veza Canetti für die Bühneentdeckte.Achim Bennings Verständnis von Freundschaft,das ein vollkommen unsentimentaleswar, war ein Gegenbild zu Kumpanei undCliquenwesen. Beispielgebend ist hier auchBennings Laudatio auf Lotte Tobisch zu deren90. Geburtstag. Einer der jüngeren Texte vonBenning in diesem Buch behandelt „Klischees,Etiketten und Parolen“ (2017), und wenn esdabei auch nicht um Theater oder gar um konkreteDirektionen geht, können die Leser ihndoch ebenso darauf beziehen – sowie auf vieleandere Phänomene der Gesellschaft.Achim Bennings Werk ist zwar nicht weiterfortzusetzen, seine Texte sind aber keinesfalls„letzte Worte geworden, sondern weiterhinWorte, die das Gespräch eröffnen“.In den Spiegel greifenTexte zum Theater 1976–2023von Achim Benning, Hg. von Peter RoesslerHollitzer 2024. 480 S., geb., € 28,–
DIE FURCHE · 29. Jänner 2025Geschichte19Die deutsche Literaturwissenschafterin Marina Münkler berichtet in „Anbruch der neuen Zeit“ über das dramatische 16. Jahrhundert. Sie prangertdarin den westlichen Kolonialismus an und eröffnet ein vielschichtiges Panorama, leider nicht ohne eine gewisse Einseitigkeit.Ein Wendepunkt der WeltgeschichteVon Oliver vom HoveIn den Skriptorien der Historikerwechseln nicht nur die Generationenregelmäßig die Plätze, sondernauch die zeitgeistlichen Moden.So tritt denn die Dresdner Literatur-und Kulturwissenschafterin MarinaMünkler in ihrer Neudeutung des 16. Jahrhundertsals kritische Chronistin des westlichenKolonialismus auf.Das ist gewiss nichts Neues – neu isthier nur die Einseitigkeit, mit der unter derFlagge des „Postkolonialismus“ die unfassbargrausame Expansion des christlichenWestens auf dem amerikanischen Kontinentangeprangert, der östliche Kolonialismusim Zeichen des muslimischen Halbmondsindes mit historischer Gelassenheitals welt- und handelspolitisch durchauseinsichtig dargestellt wird.Dabei wird in dem Buch grundsätzlichein vielschichtiges Panorama eröffnet: mitBlick auf eine Zeit, die von großen Umbrüchenund Veränderungen des Welt- undMenschenbilds gekennzeichnet war. EinWendepunkt der Weltgeschichte wird markiert,der bei Münkler durch die von ihrbeschriebenen „grundlegenden Konfliktliniender Zeit“ gekennzeichnet erscheint:Zum einen die europäische Expansion indie „Neue Welt“, zum anderen die als bedrohlichempfundene Ausbreitung des OsmanischenReichs. Und schließlich die vonDeutschland ausgehende Spaltung desChristentums.Eine Renaissance ohne Aureole wird gezeigt.Denn im Unterschied zu den großenEpochendarstellern Jacob Burckhardt undJules Michelet aus dem 19. Jahrhundertwerden hier ausdrücklich nicht „die Gipfelwerkeder Kunst, Literatur und des politischenDenkens“ in den Mittelpunkt gerückt.Auch das neue Menschenbild desHumanismus und Individualismus istnicht Marina Münklers Thema, sondernsie richtet ihren genauen Blick ganz auf dievielfältigen antagonistischen Strömungenund kriegerischen Konflikte der Zeit. Als„eine durch und durch dramatische Epoche“sieht sie das 16. Jahrhundert, das eingezwängtzwischen der Entdeckung Amerikasund dem sich abzeichnenden DreißigjährigenKrieg erscheint.Erobererkontinent EuropaEuropa wird im Jahrhundert nach Kolumbuszum Erobererkontinent, der allesdaransetzt, die Welt zu beherrschen unddas Christentum als allein seligmachendeReligion zu verbreiten. Münkler unterscheidethier zweifach: zwischen Entdeckernwie Kolumbus, Amerigo Vespuccioder dem Portugiesen Vasco da Gama, diemit Neugier und herrscherlicher Unterstützungvor allem den Horizont der Weltkenntniserweitern wollten, und gewaltsamenEroberern wie Hernán Cortés undFrancisco Pizarro aus Spanien, die auf Unterwerfung,Ausbeutung und gewaltsameMissionierung der Ureinwohner aus waren.Dass sich die Absichten von „Entdeckern“und „Eroberern“ in ihren Taten ofttrafen, ist Teil von Münklers Beschreibung.Die Neugier der Alten Welt war groß. Sohatte jeder der Welterkunder und Landnehmerbei seinen königlichen Fördererneinen ausführlichen Reisebericht abzuliefern.Am erfolgreichsten wurde jener vonAmerigo Vespucci über seine Fahrten nachBrasilien, der unter dem Titel „Mundus Novus“in ganz Europa verbreitet wurde undden Ruhm des Verfassers als Entdecker undNamensgeber der Neuen Welt begründete.Ausschließlich als Chronist der Ereignisseund Kompilator der eingelangten Eroberungsberichtebewährte sich hingegenIllusttration: Wikipedia/ Joos van Winghe / Johann Theodor de Bry / Bartolomé (Gemeinfrei)Bartolomé de Las Casas hielt als Zeuge den grausamen Massenmord an der indigenen Bevölkerung fest. Illustration von 1552.der Italiener Petrus Martyr, dessen ethnografischeBeschreibungen unter dem Titel„Acht Dekaden über die neue Welt“ ab 1500in einem vielbändigen Werk sukzessiv imDruck erschienen.Schon zu Lebzeiten von Christoph Kolumbuserhoben sich kritische Stimmen,die das Wüten der Konquistadoren unterden alteingesessenen Bewohnern als grausamesMassaker und unvereinbar mit demkatholischen Missionsauftrag anprangerten.Der nachhaltigste Einwand kam vondem spätberufenen spanischen DominikanermönchBartolomé de Las Casas, derdie ungehemmte Ausbeutung und Vernichtungder alteingesessenen Bevölkerung,vorwiegend Indios, an den Pranger stellte.Gestützt auf eigene Augenzeugenschaftals junger Kolonist auf Hispaniola und Kuba,konnte er sich vor allem auf neue, vonseinen Ordensbrüdern unter dem SpätscholastikerFrancisco de Vitoria erarbeiteteGrundlagen des Völkerrechts stützen.Als resoluter Opponent trat ihm der spanischePhilosoph und Historiker JuanGinés de Sepúlveda entgegen. Er befand,bei den indigenen „Barbaren“ mit ihremHang zum Kannibalismus handle es sichnach einem Begriff von Aristoteles um „natürlicheSklaven“, die der Herrschaft der„ In seiner Erwiderung nannteLas Casas die Konquistadorenob ihres Vorgehens seinerseitsBarbaren, die hemmungslosdem Fluch ihrer materiellenBegierden folgten ... “überlegenen Vernunft der Europäer zu unterwerfenseien. Mit rabulistischer Gelehrsamkeitsuchte Sepúlveda, der als Chronistam Hof Karls V. wirkte, die spanische Herrschaftüber „Las Indias“ zu rechtfertigen.In seiner Erwiderung nannte Las Casasdie Konquistadoren ob ihres Vorgehens seinerseitsBarbaren, die hemmungslos demFluch ihrer materiellen Begierden folgtenund dem hehren Ziel einer Christianisierungder entdeckten „Heiden“ Hohn sprachen.In einem schließlich von Kaiser Karl V.einberufenen Streitgespräch, das als „Disputvon Valladolid“ bekannt wurde, fand1550–1551 vor einer ausgewählten Jury dieargumentative Auseinandersetzung der beidenKontrahenten statt, die Las Casas’ Positionals Verteidiger der indigenen Völker imspanischen Reich zwar stärkte, für die betroffeneBevölkerung jedoch keine entscheidendeÄnderung ihrer Lage brachte.Unter dem Titel „Die Türken als europäischesFeindbild“ widmet Münkler ein großesKapitel dem Erstarken des OsmanischenReichs. Hier ändern sich sowohl Perspektivewie Semantik der Autorin merklich. Betontnüchtern werden die machtpolitischenAmbitionen des muslimischen Großreichsim Mittelmeerraum, auf dem Balkan undTeilen der eurasischen Landmasse aufgelistet.Beinahe bewundernd werden die hochbürokratischezentralistische Verwaltungsstrukturwie auch die straffe militärischeFEDERSPIELAnbruch derneuen ZeitDas dramatische16. JahrhundertVon MarinaMünklerRowohlt 2024544 S., geb.,€ 36,–Janusblick aus JapanMachtaufstellung hervorgehoben, die sichentscheidend auf die Elitetruppe der Janitscharenstützte, einer Garde aus Kriegersklaven,die ob ihrer hemmungslosen Gräueltatenbesonders gefürchtet war.Es bleibt bei Münkler unterbewertet,welche Gefahr die Invasion des türkischenIslamismus auf dem europäischen Kontinentdarstellte. Die Furcht und traumatischeErfahrung der vielen eroberten Völkerangesichts der Grausamkeiten einerebenso brutalen wie ausbeuterischen Expansionspolitikder Osmanen lässt die Autorinebenso unter den Tisch fallen („angeblicherislamischer Furor“) wie die klareBenennung eines Religionskriegs. Sogardas Wort „Türken“ erscheint ihr verpönt,„weil es den zeitgenössischen Sprachgebrauchtransportiert, der eine herabsetzendeFunktion hat“. Stattdessen liegt dasganze kritische Gewicht auf HabsburgsHerrschaftsanspruch.Rolle als globaler VermittlerWenig Neues liefert Münklers Blick aufdie Reformationsgeschichte, bei der siesich neben der Kritik am katholischen Ablasshandelvor allem auf Luthers ambivalenteHaltung zum „Türkenproblem“ konzentriert.Der Reformator hielt anfangsdie osmanische Aggression für eine StrafeGottes, der sich die sündigen Christen zuunterwerfen und nicht durch Krieg zu widersetzenhätten. Der Krieg sei des KaisersSache, nicht der Kirche: Im Übrigen seiender Papst und sein klerikales Regiment ohnehin„erger denn der Turk“. Erst als die Osmanen1529 bis Wien gelangten und die gesamtelateinische Christenheit bedrohten,rief auch der Wittenberger Religionsrebellzur Gegenwehr auf und tadelte jene Predigerscharf, die diesen Kampf ab lehnten.Die Welt brauchte Europa vor 500 Jahrentrotz aller kolonialen Verheerungen: als Botedes Bilds vom individuellen Menschenund seiner Rechte. Und als globalen Vermittlerder hier entwickelten, bis heute wirksamenzivilisatorischen Errungenschaften.Gegenwärtig, unter den post kolonialen„schrecklichen Vereinfachern“, wie JacobBurckhardt sie genannt hätte, mag das nichtmehr so eindeutig vermittelbar sein.Zwei Wächterinnen flankierten das Bühnenportaldes Tokioer Kabukitheaters, saßenmit dem Rücken zur Bühne und starrtengeradeaus, hatten alles im Blick. Wer sich zuweit vorbeugte, wurde aufgefordert, sich richtighinzusetzen, um nicht über die Bande ins Parkettzu fallen, die Wasserflasche wegzuräumen,als hätte man sie schon auf die Kante gestellt. Obsie wohl KI-generierte Humanoiden waren? Lasenihre Sensoren an unseren Gesichtern dasBühnengeschehen ab? Wäre ich eine menschlicheWächterin, wie reagierte ich auf Schreck geweiteteAugen? Drehte ich mich nach der Bühneum? Mein Handy leuchtete auf, mehrmals hintereinander.Die Strenge der Wächterinnen zwangzur Rücksicht. Ich steckte Knopfhörer ins Ohrund warf mir ein Tuch über. Nachricht von daheim.Ich zog das Tuch enger. Aug in Aug mit demBruch der Regierungsverhandlungen, währendauf der Bühne unter dem Mond ein sehnsüchtigerGeist um die Erlösung von einem bösen Zaubersang. Ich schaute in meine Zukunft zurückbis ins Jahr 2000. Der österreichische Bundespräsidenttat kund, nochnicht mit Klestil’scher Leichenbittermiene,dass dieZeit Kompromisse verlange.Wenn, wenn, wenn, sagteer, und die Tapetentür schloss sich für Fragennach dem Weg ins Offene. Ich rief die blauen Seitenauf, die reduzierten Schlagzeilen vom ORF.Ich scrollte weiter und seufzte laut. Eine Wächterinklopfte mir auf die Schulter. Ich deutete sie zurAllegorie der Fürsorge um. Sie hielt meinen flehendenBlick, bloß nicht ausrasten, schien sie zusagen. Was bringt die Zukunft? Kompromiss mitAbbau zivilisatorischer Leistungen im Sozialwesen,Umbau der liberalen Demokratie, eine irrePortion Putin, Orbán, Gewaltenfusion, Elitismus,Einschnitte in die Gesundheitsversorgung, Unfreiheitdes Wortes. Der Gesang des Geistes aufder Bühne war die Klage über dämonische Gier.Ich versuchte zu abstrahieren, die Geschichte zufassen, um das Ausrasten zu verhindern.Die Autorin ist Schriftstellerin.Von Lydia Mischkulnig
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