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DIE FURCHE 09.11.2023

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DIE FURCHE · 454 Das

DIE FURCHE · 454 Das Thema der Woche Ausgeartet9. November 2023Wie kann man Biodiversität auf Feldern und Wiesenfördern? Im Programm „Vielfalt am Betrieb“ teilenLandwirtinnen und Landwirte ihr Wissen. Zu Besuchauf einem Salzburger Hof.Von Laura AnningerAndreas Badinger beginnt seinenArbeitstag, wo er das immer tut:unter der 300-jährigen Linde.Doch an diesem Oktobermorgenist er nicht allein. 40 Menschensind auf seinem Hof in Straßwalchenzu Besuch. Unter dem Lindendach rätselneinige, wie viele hundert Jahre der Baumwohl alt ist, andere nehmen an BiertischenPlatz, die Andreas’ Mutter mit weißen Tüchernbespannt hat.Dann klingelt Andrea Aigner mit einerKuhglocke den Tag ein. Die Agrarwissenschafterinkoordiniert das Programm „Vielfaltauf meinem Betrieb“, ins Leben gerufenvom Österreichischen Kuratorium fürLandtechnik und Landentwicklung (ÖKL).Darin zeigen u.a. ausgewählte Landwirtinnenund Landwirte ihren Kolleg(inn)en,wie sie die Biodiversität am eigenen Grundund Boden gesteigert haben. Heute sind dasAndreas Badinger, der neben Andrea Aignersteht, und die Personen, die sich imHalbkreis um ihn versammelt haben.Landwirt Badinger trägt eine grüne Arbeitskleidungmit neongelben Hosenträgern.Er spricht in breitem Dialekt und dasschnell und gerne – ein Relikt aus seinerKindheit, in der sein Wohnhaus auch nochein Gasthaus war. Heute hält der Bauer einekleine Herde aus Fleckvieh-Kühen, derenMilch bei Supermarktketten verkauftwird. Seit 2012 bewirtschaftet er seine 20Hektar – Acker, Wiesen und Wald – mit einemübergeordneten Ziel im Hinterkopf:Er will dem Leben wieder Platz geben. Vorzwei Jahren wurde er als einer von zehnheimischen Landwirten von der Organisation„Farming for Nature Österreich“ zumBotschafter für Biodiversität ausgezeichnet.An diesem Samstag im Oktober lädt er zu einemRundgang, vorbei an Rainen, Buchten,Brachen und Totholzhaufen. An seiner Seitegeht der Ökologe Martin Schlager im Auftragdes ÖKL durch das hohe Gras.Lesen Sie dazuauch LauraAnningersReportage überdie Experimentedes Agroforst-PioniersAlfred Grandim Tullnerfeld:„Biodiversität:Als die Tiere dasFeld besiedelten“(30.6.2021),auf furche.at.Die Agrotüftler„ Wo die Hecke in den Wald übergeht,hat Andreas Badinger Buchten in dieFront geschnitten. Das, sagt erund zeigt hinter sich, sei nun einrichtiges ‚Rehfleckerl‘ geworden. “Heimat für Igel und WildbienenDer Mensch hat in seiner Geschichte Mooreund Bäche ausgetrocknet und Wälder gerodet.Er hat Hecken, Randstreifen und Raineentfernt, um größere Wiesen und Felderzu bekommen. Heute machen solche Strukturennur mehr sieben Prozent der landwirtschaftlichenFlächen Österreichs aus.Zusammen mit der Ausweitung von Monokulturen,intensiverer Bewirtschaftung,dem Einsatz von Pestiziden und den Folgendes Klimawandels schadet das dem Leben:Die Zahl der Arten (und Individuen) derFeld- und Wiesenvögel sind in Österreich inden letzten 25 Jahren um die Hälfte zurückgegangen.Die Vielfalt der Schmetterlingeim Bundesland Salzburg ist in den letzten40 Jahren um ein Drittel geschrumpft. Derösterreichische Biodiversitätsrat fordert,dass jede Gemeinde ein Zehntel ihrer Wälderund ihres Kulturlandes zu Biodiversitätsflächenumwandeln sollte. Denn Tiereund Pflanzen brauchen Lebensraum. Igelmüssen überwintern, Wildbienen müssennisten und Blumen aussamen können.Andreas Badinger schenkt ihnen wiederPlatz. Er steht auf einer Wiese, die Sonneim Gesicht. 19 Raine, erzählt Badinger,flankieren seine Äcker und Wiesen. Sie zubewirtschaften, sei „wie ein Schachspiel“.Jedes Monat im Jahr erfüllen einige davonwichtige Funktionen, etwa als Buffet fürBestäuber. Neben ihm schwingt MartinSchlager einen weißen Kescher, lässt wienebenbei seinen Fang, die Königin einerAckerhummel, in ein durchsichtiges Gefäßgleiten und reicht dieses in die Runde.Hinter ihm, sagt Andreas Badinger nunund deutet auf ein dreidimensionales Mosaikaus Blättern und Ästen, sehe man einen„ganz wichtigen Lebensraum“: 14 Artenvon Heckenpflanzen, durchmischt mitEbereschen, Wildäpfeln, Wildbirnen undEichen, wachsen hier. Jedes Jahr schneideter die Hecke zurück, damit sie Stufen bildet,in denen sich Vögel wohlfühlen. „So eineHecke ist nach einer Streuobstwiese dasBeste, das man für die Ökologie tun kann“,betont der Landwirt. Ökologe Schlagernickt und bringt ein Beispiel: Spatzen könnensich im stacheligen Weißdorn vor Sperbernsicher fühlen.Dort, wo die Hecke in einen Wald übergeht,hat Andreas Badinger im FrühlingBuchten in die gerade Front geschnitten,in denen sich Wildtiere ausruhen können.„Das“, sagt er und zeigt hinter sich, „ist einrichtiges Rehfleckerl geworden.“ MartinSchlager zupft währenddessen ein rotes,gezacktes Blatt von einem Baum. Mit zusammengekniffenenAugen hält er es gegendie Sonne, bevor er erklärt: „Stieleichenhaben viele Kooperationspartner. Dassind etwa die Larven von Schmetterlingsarten,die Minierer, die sich in die Zwischenschichteneines Blattes fressen.“ Dievielen feinen Linien, die sich durch dasBlatt ziehen, sind zarte Lebenszeichen.Nächster Halt: ein „Krautstreifen“, alsoein Wiesenabschnitt, den Badinger wedermäht noch düngt. Die Fläche dieser wildwuchernden Pflanzen ist besprenkelt mitlila Punkten – die Blüten der Wiesen-Glockenblume,die hier wieder natürlich aussamenkann. Auch die Fauna freut’s: „DieTiere leben in der Wiese und im Rain. Damitsie dort herauskommen, brauchen sieeine Terrasse“, erklärt Badinger und Schlagerergänzt: „Das Grünland ist trocken.Wie ihr seht, ist im Krautstreifen noch Tau,in der Hecke ist es noch feuchter. Es gibt alsoeinen Gradienten. Dasselbe gilt für dasLicht und die Temperatur.“Treiben im TotholzNun, erzählt Andreas Badinger, folgtdie Königsklasse der Artenvielfalt amBauernhof: die Brache, also eine Fläche,die nicht bewirtschaftet wird. Eine guteBrache zu erhalten, hat enorme Vorteilefür die Biodiversität. Werden etwa Wiesennicht gemäht oder gedüngt, könnenwieder natürliche Prozesse ablaufen. Dasbraucht aber Zeit. „Steht eine Brache nurFoto: Laura AnningerGeführte TourHeuwiesen, Obstbäume, AltgrasoderBlühstreifen: Im Projekt„Vielfalt auf meinem Betrieb“geht es auch um die kleinenBesonderheiten und Lieblingsplätzerund um den Bauernhof.zwei Jahre, können viele Wildbienen nichtmehr zurückkommen“, erklärt ÖkologeSchlager. Bis der Lebensraum passt undaus Eiern zunächst Larven und dann Bienenwerden, kann es bei manchen Artenbis zu vier Jahre dauern.Der letzte Stopp der Tour ist dort, wo allesbegann: bei einem hohen Haufen ausStämmen und Ästen, der den Feldwegzum Hof flankiert. Simpel, aber effektiv:Das war die erste Biodiversitätsmaßnahme,die Badinger gesetzt hat. Sie macht sichimmer noch bezahlt. Totholzkäfer wie dergroße Alpenbock mit seinen langen, blauschwarzgestreiften Fühlern legen ihre Eiergerne in sonnenbeschienene Buchenholzstämme.„Auch der Zaunkönig brauchtdieses Gestrüpp; er sucht dort Schutz“, erklärtMartin Schlager.Mit dem Fernrohr Vogerl schauenEigentlich, sagt Andreas Badinger, warer immer ein „Maschinentyp“. In der Landwirtschaftsschulehabe er gelernt, dassgrößer zu werden der einzige Weg ist, umals Landwirt zu bestehen. Als er den Hof2005 übernahm, hat er in den ersten Jahrenvor allem in Maschinen investiert. Dann,angestoßen durch eine Ausbildung zum„Naturschutzpraktiker“, habe „das mit derBiodiversität“ begonnen. Gespräche mitalten Bauern und Bäuerinnen aus den anliegendenDörfern haben ihn weiter darinbestärkt, Raine anzulegen. Seitdem sei esein Lernen in der Praxis, Learning by Doing.„Was ich hier mache, ist das Maximale, dasman für die Natur tun kann, wenn man davonleben will“, meint Badinger. Weil nichtjeder so viele Lebensräume schaffen kannwie er, rät er seinen Kolleg(inn)en, kleinteiligerzu bewirtschaften.Um Punkt zwölf Uhr surrt an diesemSamstag in der Ferne eine Feuerwehrsireneund das heißt: Zeit fürs Mittagessen. Unterder mächtigen Linde gibt Andreas Badingerseinen Kollegen noch einen letztenRat mit: „Das Schwerste ist, überhaupt anzufangen.“Doch das Beobachten der Wildtieresei der Antrieb, weiterzumachen.Auch darum hat er sich vor Kurzen dasFernrohr gekauft, das nun vor dem Hauseingangin der Sonne steht, denn: „Wennich mit dem Frühstück fertig bin, gehe ich,noch bevor ich den Stall mache, direkt dahin.Da sehe ich genau auf diesen einen Astam Totholzhaufen – und erkenne gleich,welches Vogerl darauf sitzt.“ Das, sagt er,macht ihm halt einfach Freude.Nächste Wocheim Fokus:Der Krieg im Nahen Ostenzeigt einmal mehr, dass dieWelt vor einer Neuordnungsteht. Die USA und die EUbemühen sich um Dialog, Chinakönnte dazwischenfunken.Währenddessen muss sichdie EU auch um Konflikte amBalkan kümmern. Ein Schwerpunktzum Thema Osten.

DIE FURCHE · 459. November 2023Politik5Demnächst beginnt das 90-Jahr-Gedenken der Republik an das Bürgerkriegsjahr 1934. Das Buch „RoteBanditen“ sieht den Hass zwischen Bürgerlichen und Roten nicht nur auf diese Zeit begrenzt.Zwei Parteienpflegen ihre MythenVon Wolfgang MachreichDer SPÖ-Parteitag amkommenden Wochenendenaht, und dieHackln zwischenVolkspartei und Sozialdemokratiefliegen wieder tief.So weit, so voraussehbar. Im Tagesrhythmuswettert der Generalsekretärder Volkspartei, ChristianStocker, per Aussendungengegen den SPÖ-Parteichef: AndreasBabler sei eine Variablefür Chaos von Sozial- über Asylbiszur Israel-Palästina-Politik.SPÖ-BundesgeschäftsführerinSandra Breiteneder feuert postwendendeine Aussendungs-Salvezurück – mit der Aufforderung, dieVolkspartei solle vor der eigenenHaustür kehren. So weit, so wenigüberraschend. InnenpolitischerAlltag, täglich grüßt das Parteisekretariats-Murmeltier.Eine solche Einordnung als normales,tagespolitisches Rituallässt Wilhelmine Goldmann beimGegeneinander von Volksparteiund Sozialdemokratie nicht gelten.„Rote Banditen“ heißt der Titelihres Buches, in dem sie die Geschichteihrer sozialdemokratischenFamilie seit den 1920er-Jahren nachzeichnet. Das Buchdurchzieht ein schwarz-roter Faden:Der Hass der Bürgerlichenauf die Roten.„Gsindl, Gfrieser, Gfrasta…“Goldmanns Eltern waren inder Ersten Republik Sozialistenan vorderster Front: Der Vater,ein von seiner Frau im politischenKampf unterstützterSchutzbündler und Februarkämpfer,wurde nach dem Bürgerkrieg1934 als Hochverräter verurteiltund eingesperrt; in der ZweitenRepublik war er SPÖ-Bürgermeistervon Traisen in Niederösterreich.Goldmann, geboren 1948,machte Karriere in Arbeiterkammerund ÖIAG, wurde für die Sanierungder Postbus AG bekanntund trat 2007 nach internen Querelenals Rote aus dem im Gefolgevon Schwarz-Blau politischumgefärbten Vorstand der ÖBB-Personenverkehr AG zurück. „DieÖVP führt mehr oder weniger ungebrochenden Klassenkampf derZwischenkriegszeit fort, indemsie die Sozialdemokraten hasstund ihnen misstraut“, schreibtGoldmann als Resümee ihrer familiärenund beruflichen Erfahrungen.Als Beleg für die Aktualitätihrer Einschätzung zitiert siedie im Laufe der Chat-Affären bekanntgewordenen ÖVP-Zuschreibungenfür Sozialdemokraten als„rotes Gsindl“, „rote Gfrieser“ oder„rote Gfrasta“.Zum ersten Mal mit dieser tiefsitzendenAbneigung konfrontiertwurde sie Ende der 1980erJahre in Jerusalem. Als Vizepräsidentindes Forschungsförderungsfondsder gewerblichenWirtschaft war Goldmann Teil einerDelegation, die Israels erfolgreicheForschungspolitik studierte,um Best-practice-Beispielenach Österreich zu transferieren.Die Stimmung in der Gruppe warfreundlich, „sozialpartnerschaftlich“,beschreibt Goldmann dasZusammensein. Die Situationkippte, als ein Funktionär der Industriellenvereinigung,bei einerabendlichen Gesprächsrunde dieSozialisten der Zwischenkriegszeit„Rote Banditen!“ schimpfte.„Ich war fassungslos“, schreibtGoldmann, „ich dachte sofort anmeine sozialdemokratischen Eltern,aufrechte, überzeugte Demokraten– die sollen also Banditen,Verbrecher gewesen sein?“„ Die ÖVP führt denKlassenkampf derZwischenkriegszeitfort, indem sie dieSozialdemokratenhasst und ihnenmisstraut.“Konkreter Anlass für das Aufschaukelnder Diskussion wardas Buch „Zwischen Reformismusund Bolschewismus“. DiesesStandardwerk über den Austromarxismuswar zwanzig Jahrevor dieser Israel-Exkursion erschienen.Das änderte nichts ander „immerwährenden“ Explosivitätdieses Werks für schwarz-roteGeschichtsdebatten. Autor desBuches, an dem sich die damalseigentlich in der großen Koalitiongekühlten Parteigemüter überhitzten,war Norbert Leser.Der Sozialphilosoph verstandsich als eine Art geistiger Gralshüterder Sozialdemokratie. VieleJahre war er auch FURCHE-Autor,passte als katholischer Sozialistmit seiner „Leser für Leser“-Kolumne sehr gut zur offenenBlattrichtung dieser Zeitung.Die Periode des „gegenseitigenSchädeleinschlagens“ müsseein Ende haben, proklamierteFURCHE-Gründer FriedrichFunder 1945. Die Aufforderunggalt gleichermaßen seiner Zeitungals auch der ÖVP. Als Chefredakteurder Reichspost war Fundereine Leitfigur der Christlichsozialenschon in Zeiten der Monarchieund noch mehr in der Zwischenkriegszeit.Dazu gehörteseine unrühmliche Rolle als publizistischerEinpeitscher von Antisemitismusund Sozi-Hass. Insofernhatte Funders im Geist derLagerstraße formulierte Befehlsausgabefür Aussöhnung, „damitwir nicht wieder in Dinge stürzen,wie sie sich vor 1933 begeben haben“,biographisches Gewicht; daser für eine Art Pendeldiplomatiezwischen SPÖ-Granden wie KarlRenner, den Parteivorderen derVolkspartei und dem ErzbischöflichenPalais nützte. Bruno Kreiskyschrieb in seinem Nachruf aufFunder 1959, dass dieser trotz allerAufrufe zur Zusammenarbeitgeblieben sei, „was er war: ein Gegnerdes Sozialismus und der sozialistischenBewegung. Ein Gegner,aber kein Feind.“Funders FURCHE wurde indessen Lebenszeit als „KoalitionsHinter die Fassade schauenDie äußerlichen Spuren der Februarkämpfe 1934sind am Karl-Marx-Hof in Wien-Heiligenstadt schonlange repariert. Anders als die Ressentimentszwischen Schwarz und Rot.Foto: picturedesk.com / brandstaetter images / Austrian Archives„Ein Friede mitVentil“ nannteHellmut ButterweckseineAnalyse überWahlkämpfezum 30-Jahr-Jubiläum derZweiten Republikam 1. Mai 1975;nachzulesen auffurche.at.klammer“ bezeichnet. Als solchebeschreibt Wilhelmine Goldmannin ihrem Buch und imGespräch mit der FURCHE dieSozialpartnerschaft. „Ich habediese als sehr fruchtbar und konstruktiverlebt“, sagt sie. Auf Ebeneder Sozialpartner habe es sowohlVertrauen als auch Verständnisimmer gegeben, „und wir warenwirklich sehr konstruktiv“. Einerihrer Sozialpartner-Freunde vonder Wirtschaftskammer stelltegegenüber Goldmann einmal mitBlick auf seine VP-Parteikollegenklar: „Sie werden dir nie vertrauen.“Auf ihre Rückfrage, warumdas so sei, sie vertraue ihnendoch, hätte keine Probleme im Interesseder Sache über ihren ideologischenSchatten zu springen,antwortete er: „Weil es so ist.“Goldmann datiert den Beginndieses Hasses bereits lange vordem Bürgerkrieg 1934 auf dasJahr 1918: „Da ist die Welt desAdels, aber auch die der Bürgerlichenzusammengebrochen unddie Sozialdemokraten wurdenvon der Geschichte an die Machtgespült.“ Als zweites traumatischesDatum nennt sie den WahlsiegKreiskys 1970 : „Nichtmehr in einer Regierung zu sein,war für die ÖVP bis dahin unvorstellbar,ein Schock.“Wie sich der angefühlt hat, darüberkann Manfried Welan, ehemaligerBOKU-Rektor, WienerStadtpolitiker und seit 62 JahrenÖVP-Parteimitglied, aus eigenerWahrnehmung berichten: „Ich habe17 Jahre quasi eine SPÖ-Alleinregierungerlebt, das hat meinVerhalten stark geprägt“, sagt er,„denn man konnte als Schwarzernoch so liberal sein, man wurdevon der SPÖ trotzdem immer sturin den katholischen schwarzenSack gesteckt.“SPÖ-DemütigungsritualeIn der Zeit wollte er ein Buch mitdem Titel „Der SPÖ-Staat“ schreiben.Letztlich ist er nicht dazu gekommen,aber der Titel zeigt, wieumfassend ein Schwarzer die roteRegierungsmacht damals erlebthat. In Österreich und nocheinmal mehr in Wien. „Es war dieganze Partei im Banne der Streitigkeitenmit der SPÖ“, beschreibtWelan die Gemengelage, „da hatman immer den Eindruck gewonnen,die SPÖ ist viel geschickterund gescheiter und die ÖVP lässtsich so viel gefallen.“Nicht mehr gefallen ließ sichWelan in seiner Zeit als nichtamtsführender ÖVP-Stadtrat inWien, dass er bei offiziellen Feiernnicht begrüßt wurde. Als erdrohte, nicht mehr zu kommen,hatte die Ignoranz ein Ende. „Ichwar in Wien zehn Jahre in der Opposition,da lernte ich viele SPÖ-Demütigungsrituale kennen –aber ich bin ein Mensch, der solcheSachen leichter nimmt. Ichdachte mir: Als Opposition mussman sportlich und darf nicht empfindlichsein.“Allen Parteien rät er: „Lebenund leben lassen. Und: Durchs Redenkommen die Leute zusammen– beides hat mich mein Vater, einÖVP-Funktionär, gelehrt.“ WilhelmineGoldmann, nach ihrer Ideefür einen Hass-Abbau zwischenSchwarz und Rot gefragt, schlägtvor, dass sich beide Parteien ohneScheuklappen ihrer Geschichtestellen sollten: „Sie pflegen dieMythen. Doch überall, wo die Mythenwichtiger sind als die wahreGeschichte, funktioniert es nicht.Das sieht man am Balkan genausowie zwischen Israel und Palästina.Wo die Mythen regieren, daist kein Friede zu finden.“„Rote Banditen“Geschichte einersozialdemokratischen FamilieVon Wilhelmine GoldmannPromedia Verlag 2023240 S., kart., € 25,–

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