DIE FURCHE · 4524 Wissen9. November 2023Von Martin TaussHUMANSPIRITSZukunftsmusikDie Zukunft ist auch nicht mehr das, was sieeinmal war. Zunehmend bleiern lastet ihreVorstellung auf unseren Schultern. Die westlicheErzählung, wonach die Zukunft eine stetigeVerbesserung ist, hat zumindest Risse bekommen,ist fragil und brüchig geworden. Wer sich davonnicht deprimieren lassen will, sollte ein Buch zurHand nehmen, das einen aufregenden Trip durchdie (imaginierte) Zukunft bereit hält: Mit „Futuromania“präsentiert der britische Autor Simon Reynoldssignifikante Episoden der Popgeschichte, indenen die „Musik von morgen“ vorweggenommenwurde. So wie die Futuristen in Literatur, Architekturund Bildender Kunst waren auch manche Popkünstler(innen)von der Zukunft besessen – mit einergeradezu fanatischen Unruhe und Ungeduld.Ihre Obsession war utopisch oder dystopisch, auf jedenFall aber verwies sie auf etwas radikal Anderes.Aufbruch in fremde SphärenDie Einführung neuer Produktionstechnikenzauberte seit den 1970er Jahren ungeahnte elektronischeKlänge hervor. Die Initialzündung kam übrigensaus dem deutschsprachigen Raum: Der gebürtigeSüdtiroler Giorgio Moroder und die teils inÖsterreich lebende Sängerin Donna Summer erfanden1977 in einem Münchner Tonstudio quasidie elektronische Tanzmusik. Ihr Song „I Feel Love“besticht mit technisierten Wiederholungen, eisigerElektronik, einem „Sound von solch metronomischerUnerbittlichkeit, dass er sich tatsächlichanfühlte, als käme er aus der Zukunft“ (Reynolds).Wenig später tauchte mit der deutschen Band Kraftwerkeine Popgruppe auf, die selbst im Vergleich zuden Beatles nachhaltigeren Einfluss auf künftigeGenres und Spielrichtungen haben sollte. Es war Musik,in der jegliche Individualität ausgemerzt wurde.Bereits in den 1970er Jahren begriff sich Kraftwerkals Teil einer „Mensch-Maschine“, und wer die betörendsterilen Songs auf Alben wie „Autobahn“ oder„Computerwelt“ heute hört, verspürt noch immer dieprickelnde Ahnung von etwas Kommendem. Das istdas Verblüffende an der Musik, die Simon Reynoldshier würdigt: Obwohl die Songs zum Teil schon rechtalt sind, erstrahlen sie noch immer als „Monumenteder Zukunft“ (Fredric Jameson). In ihnen wird derAufbruch in fremde, aber verheißungsvolle Sphärengefeiert. Es lohnt sich, kurz mal aufzudrehen!FuturomaniaElektronische Träumevon der ZukunftVon Simon ReynoldsVentil-Verlag 2023384 S., kart., € 30,90Was heißt eigentlich Wissenschaftsskepis und wie sollman mit ihr umgehen? Drei preisgekrönte Essaysverschaffen dazu einen exzellenten Überblick.UmsichtigerGegenangriffVon Martin TaussEin blinder Wanderer möchteden Fluss jenseits des Waldeserreichen. Er muss versuchen,Wege zwischen den Bäumenzu finden. Das bedeutet für ihn,aus der schmerzhaften Erfahrung zu lernenund jedes Mal, wenn sein Körper gegeneinen Baum stößt, die Landkarte imKopf zu aktualisieren: hier ein Hindernis,dort ist der Weg frei. Seine wachsendeKenntnis wird ihn schließlich befähigen,immer sicherer, reibungsloser undsomit besser durch den Wald zu kommen.Seine geistige Landkarte wird mit derZeit „viabel“, das heißt sie passt zunehmendin den „wirklichen“ Wald – auchwenn der blinde Wanderer seine vielfältigeUmwelt sonst weder erfassen nochbeschreiben kann.Das Beispiel aus dem Konstruktivismuszeigt, was Wissenschaft macht undwarum wir sie so dringend brauchen:Sie beschreibt nicht unbedingt alle Dimensionender Wirklichkeit; aber sie istsehr effektiv, um Landkarten zu zeichnen,Wege zu finden und somit Ziele zuerreichen. Und vor allem dazu beizutragen,schmerzhafte Erfahrungen zu vermeiden.In dem blinden Wanderer lässtsich heute leicht die Menschheit sehen,die versuchen muss, globale Krisen wiedie Erderhitzung, das Artensterben (sieheSeiten 2–4) oder vielleicht eine weiterePandemie zu bewältigen.Ohne denKompass der Wissenschaftwürde derWald zu einem hoffnungslosenIrrgartenvoller Qualenund Schmerzen.Doch dieses Verständnisist auchheute nicht selbstverständlich.„Die PräsenzwissenschaftsskeptischerPositionen in Medien, Politikund Gesellschaft und die damit einhergehendePolarisierung des öffentlichenDiskurses zeigen deutlich, dass ein wissenschaftsbasiertesWeltbild keineswegsvon allen geteilt wird“, so ChristianeWendehorst und Wolfgang Baumjohannin einer Publikation der ÖsterreichischenAkademie der Wissenschaften (ÖAW),die drei Essays zur großen PreisfrageFoto: iStock/xxmmxx„ Ohne den Kompassder Wissenschaftwürden die globalenHerausforderungen zueinem hoffnungslosenIrrgarten voller Qualund Schmerz. “enthält: „Wie gehen wir mit Wissenschaftsskepsisum?“ Auslöser dafürwar die Coronakrise, in der die Verbreitungvon „alternativen“ Fakten und VerschwörungsmythenHochkonjunkturhatte und die Aufsplitterung der Gesellschaftin „wissenschaftsnahe“ und „-ferne“Gruppen allzu deutlich wurde. Nichtzuletzt aber auch die letzten Eurobarometer-Umfragen,die Österreich im europäischenVergleich besonders wenig Vertrauenin die Wissenschaft attestierten.Im März wurden die drei Essay-Preisträgerbekannt gegeben; nun sind ihre Texteauch gedruckt erhältlich. Lesenswertsind sie unbedingt.Warnsignal für offene GesellschaftenJoachim Allgeier etwa fordert einenaufklärerischen „Gegenangriff gegenDesinformation“: Der Professor für Kommunikationund Digitalisierung an derHochschule Fulda macht klar, dass dieglobale Ausbreitung von Desinformationein ähnliches Kaliber ist wie die Bekämpfungder Klimakrise oder die Einhegungder Künstlichen Intelligenz. Absichtlichherbeigeführte Wissenschaftsskepsissei ein klares Warnsignal für offene Gesellschaften:„Bedauerlicherweise fandendie Feinde der Demokratie im neuenvorwiegend digitalen Informationsökosystemnahezu ideale Bedingungen vor,um die tragenden Institutionen freiheitlicherGesellschaften anzugreifen (…).“Hinzu kam die Pandemie, die den Anhängernwissenschaftsfeindlicher Strömungengrößere Sichtbarkeit und ausgiebigeVernetzung verschafft habe.Erst wenn diese Gefahren identifiziertsind, ist es angebracht, sich mit den Problemenim Wissenschaftsbetrieb selbstauseinanderzusetzen. Joachim Allgeierbietet da einen guten Überblick: vom Problemder Qualitätskontrolle (Plagiate,manipulierte Abbildungen) über handfesteBetrugsfälle und Pseudo-Fachzeitschriftenbis hin zum aktuellen Publikationsdruck.Ebenso betont er dieessenzielle Rolle des Wissenschaftsjournalismus,um dem gesellschaftlichenMisstrauen entgegenzuwirken– hier istdie Medienpolitik gefragt.Dass „Wissenschaft“und „Skepsis“eigentlich zusammengehören,ist der roteFaden der drei preisgekröntenEssays.Denn eine kritischeHaltung ist der Goldstandardin der Wissenschaftwie auchin der Demokratie. Niemand hat das klarerformuliert als Karl Popper, der voneiner Haltung sprach, „die zur Modifikationvon Ansichten bereit ist, Zweifelzulässt und Überprüfungen fordert“.Fakt oder Fake: Wie gehen wir mitWissenschaftsskepsis um?In: ÖAW Akademie im Dialog – Forschung undGesellschaft 3; siehe auch www.oeaw.ac.atWN185_furche.qxp_Layout 1 31.10.23 13:49 Seite 1WESPENNEST 185ÜBER TIEREUnter dem skeptischen Blick des Schimpansen,fotografiert von Walter Schels, widmet sichwespennest dem Verhältnis Mensch-Tier. Die Tieresind erwachsen geworden, ihre Rechte gestärkt.Bleibt als Unterschied die singuläre Sprachwahr -nehmung und Sprachproduktion des Menschen?Erhältlich im gut sortiertenBuchhandel oder direkt: Wespennest,Rembrandtstr. 31/4, 1020 WienT: +43-1-332.66.91, email: office@wespennest.atTesten Sie die Ausgabe «Normalität» (Nr. 180)oder «Verzicht» (Nr. 181) zum halben Preis oderentscheiden Sie sich für ein Abonnement zumPreis von 42,- € für 4 Hefte (2-Jahres-Abo).Als Abobeigabe stehen attraktive Prämienzur Auswahl.www.wespennest.at
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